
- 220 Seiten
- German
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eBook - ePub
Der Mann, bei dem Honecker wohnte
Über dieses Buch
Die Nacht vom 9. auf den 10. November verändert Deutschland. Die innerdeutsche Mauer fällt. Die Ära Honecker ist beendet. Kurze Zeit später wird Pastor Uwe Holmer angefragt, ob er Erich Honecker und seine Frau Margot aufnehmen kann. Nach heftigem Ringen fasst Uwe Holmer mit seiner Familie den historischen Entschluss: Sie beherbergen den gestürzten SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden zehn Wochen in ihrem Pfarrhaus. Diese Wochen schildert Uwe Holmer packend – auch die Angriffe von außen. Uwe Holmer schreibt in seiner Autobiografie über seine Kindheit, Jugend und das Leben – mit 40 Jahren Planwirtschaft und Stasi-Bespitzelung – in der ehemaligen DDR.
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Information
1. Kindheit und Jugend
Ich sitze als kleiner Junge hinter unserem zweistöckigen Mietshaus und spiele im Straßensand. Es ist Sommer. Die Fenster stehen weit offen. Meine Mutter ist beim Abwaschen und singt mit ihrer hellen Stimme die Lieder, die wir in der Landeskirchlichen Gemeinschaft singen:
O Liebe, goldner Sonnenschein, fürs arme Menschenherz
strahlst du nur hell in mich hinein, versüßt ist jeder Schmerz;
das Dunkel weicht, die Nacht entflieht, wenn warm die Sonne scheint;
und Freud und Lebenswonne zieht hinein ins Herz, das weint.
O Gotteslieb so voll und frei, von alters her und immer neu.
Sie quillt für mich, sie quillt für dich und zieht uns alle hin zu sich.
Ein anderes lautet so: Wenn Friede mit Gott meine Seele durchdringt,
ob Stürme auch drohen von fern,
mein Herze im Glauben doch allezeit singt:
Mir ist wohl, mir ist wohl in dem Herrn.
Durch meine Kindesseele zieht ein tiefes Glücksgefühl. Ich freue mich, eine zufriedene, singende Mutter zu haben. Sie liebt mich und ich liebe sie. Immer ist sie für uns fünf Geschwister da. Mehr Glück brauche ich nicht.
Unsere Eltern waren im Jahre 1928 als frisch verheiratetes Ehepaar von Heide in Schleswig-Holstein nach Wismar in Mecklenburg umgezogen. In Heide war der junge Ehemann arbeitslos geworden. In Wismar hatte er Arbeit als Korrektor beim Hinstorff Verlag gefunden. Im Februar 1929 wurde ich ihnen als ältestes von fünf Geschwistern geboren. Sie wohnten noch nicht lange in Wismar, die Ehefrau war noch dabei, das »Nest« zu bauen und die Stadt zu erkunden. Da sagte sie zu ihrem Mann: »Ich habe auch schon die ›Christliche Gemeinschaft‹ gefunden.« Eine gläubige Frau in Heide hatte ihnen von Jesus erzählt und ihnen beim Abschied ans Herz gelegt: »Ihr braucht innere Orientierung für euer Leben. Sucht in Wismar die ›Christliche Gemeinschaft‹ auf und haltet euch dazu.« So gingen sie hin, gingen wieder hin, und der Prediger wurde auf sie aufmerksam. Er stellte die Verbindung zu einem älteren gläubigen Ehepaar her. Das wurde eine lebenslange, wertvolle Beziehung, eine Glaubensverbundenheit, die auch die Lebensprobleme des jungen Paares umschloss. So wurden sie zu Seelsorgern und Helfern für unsere ganze Familie, Paten im ursprünglichen Sinne des Wortes. In der Christlichen Gemeinschaft kamen meine Eltern schon Ende des Jahres 1928, etwa drei Monate vor meiner Geburt, zum Glauben an Jesus. Sie bekehrten sich von einem selbstbestimmten zu einem von Jesus geführten Leben. Für mich bedeutete das, dass ich schon von Mutterleib und von Kindesbeinen an in die Landeskirchliche Gemeinschaft kam und mich dort immer wohlfühlte. Mehr noch: Die schönen Lieder haben schon früh meine Seele geprägt, und bei den Versammlungen und Missionsfesten freute ich mich an der Gemeinschaft der Mitglieder und Besucher. Bald empfand ich sie alle wie meine Onkel und Tanten und auch mich als dazugehörend.
Schon früh erzählte meine Mutter mir von Gott, meinem Schöpfer, und von Jesus, dem guten Hirten. Und als sie mir eines Tages die schwere Wahrheit sagte, dass jeder Mensch einmal sterben muss, erzählte sie mir auch, dass wir zum Himmel berufen sind und dass wir, wenn wir zu Jesus gehören, ganz gewiss dort hineinkommen werden. Von da an war mein tiefer Wunsch: Ich will in den Himmel kommen. Nichts im Leben soll mir wichtiger sein. So senkten meine Eltern die Ewigkeit in mein Herz. Ich fand nicht eher Ruhe, bis ich gewiss wusste: Ich gehöre zu Jesus. Und wenn ich sterbe, komme ich zu Gott in den Himmel. Doch bis ich darin letzte Klarheit fand, dauerte es noch einige Jahre. Ich kann aber sagen: Wohl den Eltern, die ihr geistliches Erziehungsamt verantwortlich wahrnehmen. Und wohl den Kindern, denen die Eltern schon früh Jesus lieb machen, der uns Geborgenheit schenkt und der uns freundlich durchs Leben führen will, sodass es von Reinheit und Liebe, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit bestimmt ist!
Und dann durfte ich eines Tages mit meinem zwei Jahre jüngeren Bruder in den Kindergottesdienst gehen, später auch mit den jüngeren Geschwistern. Manchmal gingen wir mit anderen Kindern vom Stadtrand in die Stadt. Aber dort trennten wir uns, denn die Spielkameraden wollten nicht mit in den Kindergottesdienst. Sie gingen ins Kinderkino und sahen Mickey-Maus-Filme. Gern hätte ich ja auch mal einen Mickey-Maus-Film angesehen. Aber die liefen immer gerade in der Kindergottesdienstzeit. So bin ich nie ins Kinderkino gekommen, lernte aber schon früh, einen eigenen Standpunkt zu haben. Dabei hat es uns allerdings auch unser Prediger Johannes Schellhase sehr leicht gemacht. Schon in der ersten Kinderstunde, die er als neuer Prediger mit uns hielt, sang er sehr fröhlich mit uns die Lieder: »Solang mein Jesus lebt …« und »Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin …«. Überhaupt suchte er gern fröhliche Lieder aus. Auch erzählte er so frisch und lebendig, dass ich zu meinen Eltern sagte: »Da gehe ich wieder hin.« Die Kinder und Jugendlichen, auch die Alten, haben unseren Prediger geliebt. Und wir spürten: Er liebt auch uns. Schon da habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, dass ein Prediger der Frohen Botschaft froh und freundlich auf die Menschen zugeht. Ich kann nicht sagen, dass unsere Eltern uns gezwungen hätten, in den Kindergottesdienst zu gehen. Sie machten uns aber Gottes Wort lieb und wichtig. Unser Vater erklärte uns einfach: »Immer wenn wir Gottes Wort hören und beten, kommt etwas von göttlicher Kraft in unser Leben hinein.

Die vier ältesten von fünf Geschwistern (Uwe rechts)
Ich war gerade erst ein Teenager, da durfte ich schon in den »Jugendbund für entschiedenes Christentum« gehen, den »EC«. In den »Weihestunden« sprachen wir immer einmal wieder das Gelübde des EC, in dem es hieß: »Ich will jeden Tag Gottes Wort lesen und beten. Von dem Besuch meiner Kirchgemeinde oder Gemeinschaft sollen mich nur solche Gründe abhalten, die ich vor meinem Herrn und Meister verantworten kann.« Das habe ich von Herzen mitgesprochen und praktiziert. So kommt es, dass ich mein Leben lang wohl kaum einen Tag ohne Gottes Wort begonnen habe. Es wurde mir zum geistlichen Kompass und zur Kraftquelle in der Nazizeit, in der Zeit des verordneten Sozialismus, und es ist mir bis heute Richtschnur geblieben. Es gehört für mich zu den Wundern des Wortes Gottes, dass es jedem Menschen in jeder Lage und in jedem Alter den Weg weisen und ihn mit innerer Kraft erfüllen kann. Allerdings habe ich auch erlebt, was Corrie ten Boom sagt: »Das Wort Gottes ist so schwer zu verstehen, dass auch ein kluger Professor es nicht begreifen kann – ohne den Heiligen Geist. Und es ist so einfach, dass auch ein Kind es verstehen kann – durch den Heiligen Geist.« Eines ist mir ganz gewiss: War das Wort Gottes schon gegenüber den Irrlehren der braunen Ideologie und dann auch wieder gegenüber denen der roten Ideologie der untrügliche Wegweiser, so ist es mir heute noch unentbehrlicher, im Widerstand gegen den liberalen Zeitgeist, der Gott beiseiteschiebt und den Menschen mit seinen Wünschen und Begierden in den Mittelpunkt stellt. Gottes Wort lehrt uns »theozentrisch« zu denken. Es rückt Gott ins Zentrum und gibt den Durchblick durch die Verführungskünste des Bösen. So wurde mit der Zeit aus mir nicht nur ein Schüler, sondern auch ein fröhlicher Lehrer des Wortes Gottes.
Im Denken an meine Jugendzeit stehen mir besonders drei Ereignisse vor Augen. Sie prägten auch mein späteres Leben. Ab dem Alter von 10 Jahren musste jeder Junge zur Hitlerjugend und jedes Mädchen zum BDM (Bund deutscher Mädel). Wer nicht ging, wurde, wie zum Beispiel der Sohn unseres Pastors, mit der Polizei in die »Pflicht-HJ« abgeholt. Weitaus die meisten aber gingen gerne, ich auch. Da war »wenigstens etwas los.« Dort wurde Sport getrieben. Es wurden Geländespiele gemacht und viele fröhliche Volkslieder gesungen. Dass dort auch Soldaten- und Nazilieder gesungen wurden, war uns nicht anstößig. Und die Uniform trugen wir gern. Der Sohn des Bankdirektors und der Sohn des Arbeiters marschierten im gleichen Schritt. Wir schwärmten von Kameradschaft und Parolen wie »Gemeinnutz geht vor Eigennutz«. Unser »Fähnleinführer« war der Sohn eines Kommunisten. Der Vater stand gegen seinen Sohn und der Sohn gegen den Vater. Meine Eltern waren anfangs nicht gegen den Nationalsozialismus und gegen Hitler, hatte er doch allen Arbeitslosen Arbeit gegeben und Deutschland aus der wirtschaftlichen Depression heraus wieder zu nationalem Selbstbewusstsein geführt. Ja, er hatte sogar erklärt, er sei für ein »positives Christentum«, was vielen Christen in Deutschland den Blick für den dämonischen Charakter Hitlers versperrte. Aber nach und nach gab es einfach zu viele Ereignisse, die auch bei meinen Eltern Zweifel erweckten. Eines Tages, ich war wohl 15 Jahre alt, kam ich von der Schule nach Hause. Meine Mutter stand in der Wohnstube und hatte »Das Schwarze Korps«, die Zeitung der SS, in der Hand. Sie sah mich an und sagte: »Geh bloß nicht mal zur SS.« Ich entgegnete: »Die SS – das sind die zackigsten Soldaten. Die kämpfen wenigstens. Sie lassen sich nicht gefangen nehmen. Die kämpfen bis zuletzt!« So hatte ich es in der HJ gelernt. Meine Mutter aber sagte: »Ja, aber sie müssen auch Juden erschießen und Gefangene erschießen.« Ich war sehr betroffen. Nein, das wollte ich nicht. Ich liebte doch Abraham und David und Jesus und das Volk Gottes. Plötzlich spürte ich, dass ich schon viel zu lange den Gegensatz zwischen Nationalsozialismus und biblischem Christentum verdrängt hatte. Meine Mutter schob eins nach: »Am besten meldest du dich überhaupt nicht freiwillig zu den Soldaten.« Das tat ich dann auch nicht. Aber schließlich waren es in meinem Jahrgang nur ganz wenige Hitlerjungen, die sich noch nicht freiwillig gemeldet hatten. So bekamen wir Letzten den »dienstlichen Befehl«, uns freiwillig zu melden. Als ich nach einiger Zeit auch das nicht getan hatte, wurde ich vor etwa 100 Hitlerjungen beschimpft, blamiert und »wegen Befehlsverweigerung« degradiert. Ich erhielt wieder den Befehl, mich sofort freiwillig zu melden. Ein Schreiber saß schon im Hintergrund, um die »freiwillige Meldung« entgegenzunehmen. Doch als ich nun vor allen Hitlerjungen unterschreiben sollte, weigerte ich mich noch einmal – denn ich sollte mich zur SS melden. Ich tat es nicht. Es gab ein langes Hin und Her. Schließlich begnügte man sich damit, dass ich mich zum »Heer« meldete. Einige Tage danach musste ich noch einmal vor acht Hitlerjugendführern erscheinen und ein Verhör über mich ergehen lassen. Aber ich war froh! Mochte daraus werden, was es wollte. Ich hatte meinem Gewissen gehorcht und fühlte mich frei und leicht. Daraus ist mir eine Devise erwachsen, die sich auch später immer wieder bewährt hat: »Handle nach deinem Gewissen – und du bist frei!« Heute bin ich tief dankbar, dass meine Mutter mich damals durch ein einziges Gespräch aus der Verführung der Hitlerjugend herausgeholt hat. Und ich kann nur erschrecken darüber, wie leicht auch wohlmeinende Jugendliche sich fanatisieren lassen. Eltern sollten das wissen und die Erziehung ihrer Kinder nicht arglos irgendwelchen religiösen oder politischen Ideologen überlassen. Ich hatte eine Mutter zu Hause, die nicht nur über das leibliche Wohl, sondern auch über die geistliche Entwicklung ihrer fünf Kinder wachte.
Dabei muss ich auch an ein anderes Ereignis denken, das mich prägte: Der Krieg war vorüber. Wir wurden wieder in die Schule gerufen. Doch im Unterricht gab es noch viele Ausfälle und Vertretungsstunden, weil die alten Nazilehrer von der Schule entfernt worden waren. Da fiel es kaum auf, wenn ein Schüler nicht zum Unterricht kam. Und so ging ich viel lieber auf den alten Flugplatz und baute aus den Flugzeugwracks Funkgeräte aus, um mir ein Radiogerät zu basteln, zumal wir sofort nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen alle Radiogeräte hatten abgeben müssen. Eines Tages jedoch sagte mein Schulfreund: »Heute hat der Klassenlehrer alle aufgeschrieben, die fehlten. Wer keinen Entschuldigungszettel bringt, fliegt von der Schule.« Da saß ich in der Klemme. Schließlich sagte ich zu meinem Freund: »Ich gehe zum Lehrer und sage, ich habe geschwänzt.« Er meinte: »Du bist verrückt. Der schmeißt dich raus.« Aber ich ging doch zum Lehrer, denn ich wusste ganz genau: Wenn ich mir einen Entschuldigungszettel fälsche, werde ich darüber nicht ruhig. Lieber wollte ich einen Rausschmiss riskieren, als ständig in meinem Gewissen bedrückt zu sein. Der Lehrer war sehr verärgert und hat mich noch längere Zeit misstrauisch beobachtet. Aber er hat mich nicht von der Schule entfernt. Ich kam mir zwar vor dem Gang zum Lehrer sehr kläglich vor und das Bekenntnis ist mir unglaublich schwergefallen. Und doch bin ich danach nach Hause »geschwebt.« Mir war sehr leicht und froh ums Herz. Wieder hatte sich mir erwiesen: »Handle nach deinem Gewissen – und du bist frei.« Ein drittes Erlebnis: Eines Tages, im Jahre 1947, erzählten sie in der Schule, dass der Vater eines Klassenkameraden verhaftet worden sei. Er besaß das größte Hotel unserer Stadt. Man hatte bei ihm eine Steuerprüfung durchgeführt und »Steuerhinterziehungen« entdeckt, ob wirklich oder fingiert, wusste man nicht so genau. Der Vater wurde so lange gefangen gehalten, bis er bereit war zu unterschreiben, dass sein Hotel »volkseigen« würde. In anderen Fällen machte man diesen Umweg gar nicht erst, sondern enteignete sofort. Für mich hatte sich damit das sozialistische System demaskiert. Es war mir klar: Man kann nicht mit Unrecht gute Verhältnisse auf Erden erreichen. Ich kann diesem Staat nicht vorbehaltlos dienen. Durch mein Hören auf Gott waren mir seine Gebote zur absoluten Norm geworden. Ich muss zwar als Staatsbürger meinem Land dienen und der Regierung gehorchen, wo sie Gutes tut. Gutes gab es ja durchaus auch. Ich muss aber Widerstand leisten, wo Unrecht geschieht, und das war leider vielfach nötig. Diese Einstellung prägte meine Haltung zum DDR-Staat grundsätzlich.

Eines ist mir noch wichtig im Blick auf meine Kindheit und Jugend: Wir lebten einfach und bescheiden, doch empfanden wir es nicht so. Wir hatten, was wir brauchten, und bedauerten uns keineswegs als arm. Aber das, was wir heute besitzen, das wäre uns damals als Luxus erschienen. Wer hat damals schon an ein Badezimmer oder gar an eine Dusche gedacht? Und erst recht nicht an ein Auto! Als unsere 3-Zimmer-Wohnung für die auf sieben Personen angewachsene Familie zu klein wurde, wurden wir beiden Ältesten auf dem Boden untergebracht. Eine Dachkammer wurde ausgebaut. Das Dach wurde von innen mit Brettern verschalt. An Wärmeisolierung dachte man damals noch nicht. So war es im Sommer schön warm und im Winter so kalt, dass unser Atem auf dem Oberbett zu Eis gefror. Wir beiden Brüder haben gerne dort oben gewohnt. Mein ganzes Leben lang hatte ich nun den Vorteil, dass ich mich über jeden kleinen Fortschritt im Wohnkomfort freuen konnte. Und Fortschritte gab es durchaus auch in der DDR. Man durfte nur nicht sehnsuchtsvoll nach dem »Westen« schielen. Wer das tat, der fühlte sich schnell benachteiligt. Wer dagegen nach dem Osten schaute, konnte sehen, wie reich wir waren. Wenn ich nun aber an unsere Kinder und Enkel und ihre Freunde denke, so empfinde ich fast Mitleid mit ihnen. Sie wissen oft nicht, wie reich sie sind. Für sie ist all der Wohlstand »normal« und selbstverständlich und durchaus kein besonderer Grund zum Danken. Deshalb empfinde ich es bis heute als meine Aufgabe, meine Enkelkinder das Danken zu lehren und sie zu ermutigen, von ihrem Reichtum einen gehörigen Teil abzugeben an Menschen, die Mangel leiden. Sie sollen nicht nur reich sein. Sie sollten sich auch reich fühlen. Nur zufriedene Menschen können danken. Und nur dankbare Menschen können zufrieden sein. Durch Undankbarkeit verbaut man sich selbst den Weg zum Glück.
Mit Genügsamkeit und Dankbarkeit hängt noch eine andere Tugend zusammen: die Demut. Ich überblicke nun fast siebzig Jahre deutscher Geschichte. Es ist mit Händen zu greifen, dass unser Volk in dem Maße, in dem es reich geworden ist, auch gottlos wurde. Muss das so sein? Wo ist die Ursache? Reiche Leute fühlen sich sicher. Für Unglücksfälle haben sie teure Versicherungen. Es geht ihnen gut – wozu brauchen sie Gott? Es geht ihnen wie Heinrich Heine. Er hat von sich berichtet: Als er »gesund und feist war« und »im Zenith seines Fettes« stand, habe er über Gott und die Gottesfurcht gespottet. Als er aber »der Barmherzigkeit Gottes bedürftig wurde, ist er zurückgekehrt, zu dem Gott seiner Väter.« Sind wir Deutschen »feist« geworden, selbstsicher, stolz? Ja, wir sind äußerlich reich und innerlich sehr arm geworden. Was ist zu tun? Ich will auf den Apostel Paulus hören, der uns ins Stammbuch schreibt: »Was hast du, dass du nicht empfangen hast?« Und ich will es an meine Kinder und Enkel weitergeben: Alles ist Geschenk von Gott. Dass ich in Deutschland geboren wurde, ist nicht mein Verdienst. Es gibt überhaupt keinen Anlass zu Selbstgefälligkeit und Stolz. Deshalb will ich Dankbarkeit und Demut lernen. Jesus hält die Demut offenbar für eine Kardinaltugend. Er sagt: »Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig« (Matthäus 11,29). Nur demütige Menschen sehen klar. Und nur in der Demut wachsen alle anderen Tugenden.
Das Ereignis, mit dem meine Kindheit ihren Abschluss fand, ist meine Bekehrung. Schon lange beunruhigte mich die Frage, ob ich nun wirklich ein Christ war oder ob da noch etwas fehlte. Ich betete täglich. Ich gehörte zu den aktiven Mitgliedern des Jugendkreises. Ich sang im Chor mit. Und wenn meine Klassenkameraden gefragt worden wären, wer in der Klasse ein Christ sei, hätten sie auf mich gezeigt. Da konnte doch eigentlich nichts mehr fehlen. Und doch nagten in mir der Zweifel und die Ungewissheit. Und dann hatten wir in unserer Landeskirchlichen Gemeinschaft eine Evangelisationswoche mit Lothar Szusdziara, einem kraftvollen Evangelisten. An vielen Beispielen machte er klar, dass der Mensch Freude und Gewissheit im Glauben haben kann und dass er sie erhält, wenn er sich bekehrt, wenn er sein Leben unter die Herrschaft von Jesus stellt. Ich aber fragte mich: »Wovon soll ich mich eigentlich bekehren?« Die Beispiele, die er vor uns hinstellte, von Ehebrechern, Trinkern, Dieben und Mördern, trafen mich nicht. So beschloss ich: Ich will mich nicht bekehren, aber ich will von heute an so entschieden ohne Sünde leben wie irgend möglich. Doch da fiel mir ein: Das hatte ich schon öfter gesagt – und es war nie etwas geworden. Da wurde mir plötzlich klar: Ich bin trotz aller Frömmigkeit nicht gut genug für den Himmel. Ich brauche eine bessere Gerechtigkeit. Ich brauche die vollkommene Gerechtigkeit, die Jesus Christus am Kreuz für mich erworben hat. Meine Sünden standen vor mir, die ich natürlich als frommer Mensch immer versteckt und verdrängt hatte. Und plötzlich wurde mir klar: Vergebung gibt es nur für Sünder, Gnade n...
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Inhalt
- Vorwort
- Einführung
- 1. Kindheit und Jugend
- 2. Studium
- 3. Ehe und Familie
- 4. Pfarramt 1955-1967
- 5. Bibelschule Falkenberg 1967-1983
- 6. Noch einmal: Familie
- 7. Einschub: Theologische Beobachtungen
- 8. Lobetal 1983-1991
- 9. Honecker
- 10. Abschied von Lobetal
- 11. Serrahn
- 12. Sigrid geht heim
- 13. Rentenbeginn, Witwerstand
- 14. Christine, meine zweite Frau
- 15. Enkelkinder
- 16. Leben im Ruhestand
- 17. Rückblick
- 18. Nachdenken über mein Volk
- 19. Ausblick
- Anhang
- Anmerkungen