
- 476 Seiten
- German
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eBook - ePub
Über dieses Buch
Einzigartige Einblicke in die Welt des Rechts
Die Welt der Gerichtssäle ist nur die Außenseite des Rechts. Weit entfernt von ihr arbeitet der größere Teil der Anwälte und Juristen in anderen Bereichen.
Memoiren eines Juristen
In 29 eindrucksvollen und unterhaltsamen Reportagen liefert der Autor Professor Dr. Benno Heussen vielfältige Einblicke in die Innenwelt des Rechts im Allgemeinen und die anwaltliche Arbeit im Besonderen.
Die Aufzeichnung seiner beruflichen Stationen und Lebenserinnerungen ist einzigartig und illustriert, wie sehr sich das Berufsbild des Anwalts in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat.
Er schreibt über Anwälte, Richter, Politiker, Professoren und viele andere Menschen, denen er persönlich begegnet ist. Wo die Vertraulichkeit es erfordert, sind die Storys anonymisiert, verlieren aber nichts von ihrer Anschaulichkeit.
Häufig gestellte Fragen
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Information

1973 – 1991
München
Anfänger
Anwaltskammern
Grays Inn Chambers
Wirtschaftsrecht – die ersten Ideen
American Graffiti
Krisenmanagement und Insolvenzen
Die ersten Bücher
M & A – Projekte, Start-ups und Fondsprobleme
Japanische Skizzen
Synthesizer in Bombay
Die Erfindung des Computerrechts
Rudern – steuern – segeln: Das Management
Der Fall der Mauer

Benno Heussen

Gunther Braun

Justin von Kessel

Reiner Ponschab
Anfänger
In der Warteschleife
Der schriftliche Teil des Assessorexamens war für uns alle ein großer Erfolg: Wir hatten nicht nur die Ministerialnoten, sondern hätten auch Notare werden können. Mich hat es da nie hingezogen, denn ich war bei einem Onkel aufgewachsen, der im Rheinland ein Notariat führte. Heute kann man sich schwer vorstellen, dass es damals auch arme Notare gab. Wenn er in der Nachkriegszeit die Testamente der Bauern aufnahm, die es nicht mehr zu ihm ins Büro schafften, packte er sich seine Schreibmaschine in den Rucksack und fuhr mit dem Rad durch die Weinberge. Außer seinem »Bürovorsteher« hatte er sonst keine Mitarbeiter. Wenn mir langweilig war, kroch ich unter seinen Schreibtisch und kaute an den Oblaten, mit denen er seine Urkunden verklebte. Das alles wirkte ziemlich trübsinnig. Wir hatten anderes vor. Aber was?
Zum Brainstorming saßen wir häufig in der Rheinpfalz56, einer Schwabinger Kneipe unweit der Universität, die man hoffentlich bald unter Denkmalschutz stellt, denn wenn Hans Karp aufhört, wird renoviert und dann ist die Rheinpfalz nicht mehr zu retten. Der Wirt hatte vor Urzeiten mal Betriebswirtschaft studiert, sich dann aber mehr für Jazz interessiert. Auch heute hat er noch seine Trompete griffbereit, falls die Gäste Lust auf eine Jam Session haben, die Köchin Barbara kommt aus der Politologie und Klaus, der Kellner, spielt zwar nicht Gitarre, sieht aber aus wie Mick Jagger. An der Wand hängt auch heute noch ein Kunstwerk aus Underberg-Flaschen. So im Stil von Daniel Spoerris EAT-ART. Das, die Musik und die Wiener Schnitzel haben nicht nur uns, sondern auch viele Leute aus der Kunstakademie angezogen.
Eine alternativlose Entscheidung
Jeder von uns hatte sich bei den Rechtsabteilungen der großen Versicherungen, die es in München gibt, bei Siemens oder auch bei mittelgroßen Unternehmen umgesehen. Da gab es nichts, und man musste nur regelmäßig die Neue Juristische Wochenschrift aufschlagen, um zu sehen, dass auch dort keine Stellenanzeigen für Juristen zu finden waren. Die dicke Frankfurter Allgemeine oder die Süddeutsche boten eine Reihe Jobs für Betriebswirte, Mathematiker und Manager, aber die wenigen Planstellen für Juristen wurden unter der Hand vergeben. Blindbewerbungen waren vollkommen unüblich, Headhunter gab es keine und über die Möglichkeit wissenschaftlicher Arbeit hat keiner von uns ernsthaft nachgedacht.
Also: Was sollten wir tun? Aus Bayern auswandern? In anderen deutschen Städten waren wir genauso wenig zuhause. Hätte es in Hamburg, Düsseldorf oder Frankfurt bessere Aussichten gegeben, hätte man Anzeigen in der NJW finden müssen. Da war aber nichts. Von Berlin ganz zu schweigen – die Stadt hatte gerade 800 Anwälte, und wie ich von meinem Freund Michael Ruland, der dort geblieben war, wusste, waren die so unterbeschäftigt, dass die Notare nebenbei Kleinkriminelle verteidigten, weil sie sonst zu wenig zu tun gehabt hätten. Es gab in Deutschland damals etwa 28.000 Anwälte (heute sind es etwa 160.000), aber der Markt war geradezu versteinert. Raus aus Deutschland? Das erschien in jeder Hinsicht unmöglich.
Zwei Wochen später. Es war Sonntag. In den vergangenen drei Jahren hatten wir gelernt, dass der Markt zwar unbeweglich war, aber die Eintrittsschwelle sehr niedrig. Also fragte ich an einem dieser Abende die anderen: »Warum machen wir uns nicht selbstständig?«. Bedeutungsvolles Schweigen in der Rheinpfalz. Keiner von uns kam aus München oder auch nur aus Bayern, alles Einwanderer. »Fremd ist der Fremde nur in der Fremde«, tröstete Karl Valentin, aber es kam noch schlimmer: Keiner von uns stammte aus einer Anwaltsfamilie. »Anwalt wird man nicht, Anwalt hält man sich!«, hatte Justins Großvater bei Gelegenheiten gesagt, als die Frage auf die Berufswahl kam. Das war schon gefährlich nahe an dem bekannten amerikanischen Spruch, dass Anwälte »one degree below prostitutes«57 rangieren.
In der Rheinpfalz tobte der Jazz. Wir dachten an andere Bands, die Toten Hosen, die Ärzte, meistens vier Leute (!): Die hatten es ja auch in die Charts geschafft. Also: »Warum nicht – was haben wir zu verlieren?« So fingen wir noch als Referendare am 15. April 1973 mit einer Einlage von 1000 DM an, die jeder in die Barkasse einzahlte. Am 16. April wurden Briefmarken für 16 DM gekauft sowie ein Stempelkissen für 5,80 DM (Kaufhof). Die größte Investition erfolgte am 7. Mai: zwei Diktiergeräte für insgesamt DM 1112,22. Zehn Tage später setzten wir uns im Kloster Andechs zusammen und unterzeichneten – noch ohne Anwälte zu sein – einen Sozietätsvertrag, um uns gegenseitig zu versichern, dass wir es ernst meinen. Laufzeit vorerst bis 15. Mai 1976. Wenn wir bis dahin nicht das Gehalt eines Richters beim Landgericht erreicht hätten, wollten wir das Experiment beenden.
Charts oder Rankings für Anwälte, wie sie heute selbstverständlich geworden sind, gab es damals noch nicht. Sie hätten uns gezeigt, wie weit der Abstand zwischen einer Sozietät, die es schon seit mehreren Generationen gibt, und unserem Start-up tatsächlich war. Aber wir sahen nur unseren Briefkopf, auf dem fünf Anwälte waren, und sehr viel mehr fand man 1973 auf anderen Briefköpfen in München auch nicht. Der fünfte Anwalt war mein Schwiegervater, der als Anwalt zugelassen war, aber nicht praktizierte. Er stellte uns vorübergehend seine Büroadresse zur Verfügung, denn er fand es spannender, als Stahlhändler im Ruhrgebiet und im Ostblock tätig zu sein. Als sein oberlandesgerichtlich bestellter Vertreter war ich auch in seine Haftpflichtversicherung eingeschlossen, und das war ein Glück, denn kurz danach ist mir – noch bevor ich überhaupt Anwalt war – der erste (und einzige) Haftpflichtfall gelungen: Das Grundstück eines Architekten war enteignet worden, weil ihm die Höhe der Entschädigungssumme zu gering schien, und dagegen war er vorgegangen. Solche »Baulandsachen« wurden vor den Zivilgerichten geführt, aber damals nicht von Anwalt zu Anwalt, sondern nur von Amts wegen zugestellt. Das war mir im Eifer des Gefechts entgangen und ich hatte die Berufungsfrist verpasst. Den Schaden von 50.000 DM hat die Allianz klaglos übernommen und für mich war das ein Warnschuss vor den Bug. Er hat dazu geführt, dass wir vom ersten Tag an detaillierte Organisationsanweisungen verwendeten, die sich vor allem mit den Fristenproblemen beschäftigten.
Der Zauber des Anfangs
Dann endlich die ersehnte Zulassung: Ende September/Anfang Oktober bezahlten wir jeweils 40 DM dafür und schon am 12. Oktober wurde die erste Rechnung bezahlt: 144 DM. Mandat Nr. 1 im Register war eine Oktoberfestschlägerei: Karl-Heinz Rieble, ein entfernter Verwandter aus dem Schwäbischen, wurde von Max Hintermoser im Schottenhamelzelt ein Bierkrug über den Schädel geschlagen. Man hätte diesen Fall erfinden müssen, aber es ist wirklich so gewesen.
Nach wie vor arbeitete jeder von uns tagsüber in den Sozietäten, in denen wir schon als Referendare beschäftigt waren. Roben brauchten wir keine, denn die hatten wir in den Büros, in denen wir tagsüber arbeiteten. Die haben wir für unsere eigenen Fälle einfach ausgeliehen. Wir arbeiteten alle parallel dort weiter, wo wir angestellt waren, sonst hätten wir nichts zu essen gehabt und schon gar kein Geld, um das Büro zu finanzieren. Unsere Chefs interessierten sich für diese Konkurrenz nicht, die ihnen nicht gefährlich werden konnte. Gritschneder sagte mir ausdrücklich: »Sehen Sie sich nur fleißig um, denn bald macht mein Sohn Examen, dann geht’s hier nicht weiter.« Und als Starthilfe verkaufte er uns eine seiner alten IBM-Kugelkopf-Schreibmaschinen (mit Anschlagzähler) zum Buchwert von 600 DM.
Junge Anwälte brauchen als einziges Kapital Neugier und Furcht. Auch unser erstes Kind war neugierig auf die Welt. Anfang Mai brachte ich morgens um sechs meine Frau in die Entbindungsstation, um gleich danach in Richtung Amtsgericht zu verschwinden: drei Termine, die ich keinem anderen aufladen konnte! Rechtzeitig zur Geburt meiner ersten Tochter Mirjam kam ich um elf Uhr wieder in der Klinik an und verschwand um zwölf zur Verhandlung einer Einstweiligen Verfügung im Landgericht. Multitasking – darauf war ich noch stolz! Bei meiner zweiten Tochter Nina (1975) habe ich mir einen halben Tag frei genommen.
Mut zum Risiko
Wir lebten von der Hand in den Mund. Nur wenige Leute wissen, dass auch Anwälte, die sehr viel zu tun haben, nie mehr als zwei Monate Arbeit auf dem Schreibtisch haben. Dieses Bewusstsein verliert man sein ganzes Berufsleben lang nicht. Vielleicht werden Anwälte deshalb selten insolvent. So etwas geschieht nur, wenn sie sich im Privatvermögen verspekuliert haben, aber nicht, weil ihnen die Arbeit ausgeht. In einigen Büros gibt es laufende Beraterverträge, aber das ist keine Selbstverständlichkeit. Bei Wirtschaftsprüfern ist die Lage erheblich besser: Ihre Mandate laufen im 5-Jahres-Turnus und so können sie entsprechend langfristig planen. Die Steuerberater sind zwar nicht in ähnlicher Weise abgesichert, aber behalten die einmal akquirierten Mandate erheblich länger als Anwälte – deshalb sind ihre Büros auch doppelt so viel wert wie unsere.
Schon im ersten Jahr konnten wir immerhin fast die Kosten bezahlen: Ende 1973 betrug der Gesamtumsatz 13.000 DM. Ausgaben: 15.000 DM.
Darüber waren wir so begeistert, dass wir Ralph Reithmann, einen jungen Architekten, ins Rolandseck einluden. Er war bei Prof. Gollwitzer tätig und fuhr in der ganzen Welt umher (Flachglasfabrik in Brasilien usw.). Der könnte uns vielleicht zu größeren Mandaten verhelfen. Rechnung: 144,80 DM. Fürs Erste also ein Verlustgeschäft. Aber in den nächsten 20 Jahren zeigte sich der für manche Anwälte nicht leicht erkennbare Unterschied zwischen Investitionen und Kosten: Von Gollwitzer kam zwar nichts, aber da Ralph sich bald danach auch selbstständig machte und wir einen Schwerpunkt im Baurecht hatten, entwickelte sich eine ganze Reihe von Synergieeffekten, die uns sehr geholfen haben.
Bis zu solchen Mandaten sollten aber Jahre vergehen, denn vorher lagen ganz andere Sachen auf unserem Tisch. Einen dieser Fälle hatte Sieghart Ott mir überlassen. Er war im Armenrecht zu führen: Ein Schankkellner verdächtigte seine Mutter, dessen Testament zu ihren Gunsten gefälscht zu haben, um den Sohn zu enterben, dem der Vater das Geschäft versprochen hatte. Das Tragische war: Eigentlich wollte der Sohn viel lieber Zirkusartist werden, aber dann hat er sich in sein Schicksal gefügt. Am Stammtisch saß ein Kriminalbeamter, dem er eines Tages sein Leid klagte. Dem zeigte er das Testament, brachte andere Dokumente zum Vergleich, und ich stützte die Klage auf ein unbestrittenes Gutachten, dass das Testament nicht vom Vater stammen konnte. Im Gericht saß mir gegenüber Dr. Alfred Stiefenhofer. Er vertrat die Gastwirtin. Die hatte zwar das Geld aus der Erbschaft, aber so einen Fall würde die Sozietät Noerr Stiefenhofer heute nicht mehr mit der Feuerzange anfassen. Damals entwickelte sich bei mir der Gedanke: Wenn du solche Fälle auch beim Noerr bearbeiten musst, kannst du dich auch gleich selbstständig machen.
Der Fall zog sich, ich führte ihn in unserem eigenen Büro weiter und gewann in drei Jahren beide Instanzen. Stiefenhofer ging in die Revision. Der Bundesgerichtshof wies sie zurück. Mit meinem Antrag auf Haftbefehl für die Abgabe der Eidesstattlichen Versicherung bin ich gescheitert, weil die Schuldnerin ständig Arztatteste vorlegte, die ihr bescheinigten, sie sei gesundheitlich nicht in der Lage, das Nachlassverzeichnis aufzustellen. Das war ungefähr acht Jahre später und die ganze Zeit standen Mutter und Sohn gemeinsam hinter der Theke. Dr. Stiefenhofer war nach so langer Zeit auch nicht mehr so recht bei der Sache. Wenn ich ihn irgendwann einmal zu erreichen suchte, kam meist die Antwort, er befinde sich »im außereuropäischen Ausland«. Da auf dem Briefkopf der Sozietät unter anderem ein Bankkonto irgendwo in Afrika angegeben war, war er vermutlich da unten oder auf Tristan da Cunha – im europäischen Ausland hätte er vielleicht noch reagieren können. Der Sohn hat mir dann das vom Staat bezahlte Mandat wegen erwiesener Unfähigkeit entzogen.
So lernte ich sehr früh, dass Anwälte im Zentrum von Aggressionen, Widerspruch, Kritik und Zorn stehen, eine Arbeitswelt, in der man ständig vom Stress umgeben ist und trotzdem seine Gefühle im Zaum halten muss. Der Ausgleich besteht aus einem einzigen Punkt: Wir sind die Steuerleute, die das Schiff auf Kurs halten, auch wenn der Kapitän zusammengebrochen in der Kajüte liegt. Politiker, die in einem ähnlichen Umfeld arbeiten, vermissen diesen Ausgleich und lassen sich daher allzu oft gehen.
In allgemeinen Sachen hatte ich seit 1970 genug Erfahrung, und so wurde ich übermütig: »Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis«, wie meine Großmutter zu sagen pflegte. Ich startete den ersten und einzigen Prozess, den ich je für mich selbst angestrengt habe, und er endete so, wie Sieghart Ott es prophezeit hatte – negativ. Der Anlass war trivial: Als wir aus unserer winzigen Zweizimmerbude in Schwabing (Sisalteppiche und Regale aus Backsteinen) ins Olympische Dorf umzogen, erschien der Vermieter, ein Professor Dr. Ing. Dr. med., der Dutzende Häuser besaß, höchstpersönlich in Begleitung seines Architekten und seiner Anwältin, um die Wohnung abzunehmen. Es wurden vier Dübellöcher in den Kacheln festgestellt. Für die sollte ich nun bluten. Mir ging das nicht ein, denn die waren schon vorher da gewesen, und ich klagte auf Rückgabe der vollen Kaution. Man hält es nicht für möglich: Diesen Prozess habe ich verloren, denn es gab weder das AGB-Gesetz noch die heute äußerst differenzierte Rechtsprechung zu der Frage, ob man Dübel grundsätzlich nur zwischen den Kacheln bohren darf, oder es wegen des »vertragsgemäßen Gebrauches« ausnahmsweise auch mal in den Kacheln erlaubt ist58. Ich schwor mir, nie wieder in eigener Sache zu prozessieren. Dass man als Anwalt hin und wieder verklagt wird, ist wohl unvermeidbar, aber was Aktivprozesse betrifft, sollte man seinen Mandanten mit gutem Beispiel vorangehen. Ich habe deshalb auch nie einen Honorarprozess geführt.
Mit der Zeit kam ungefähr jede Woche ein weiterer Fall herein. Irgendeinen Verkehrsunfall gibt es immer in der Familie oder der Bekanntschaft und irgendwer lässt sich scheiden. So verdienten wir wie die meisten Anwälte, die anfangen, unser erstes Geld mit »Blech und Liebe«.
Mitte 1974 konnten wir in der Nussbaumstraße am Sendlinger-Tor-Platz ein kleines Büro mit drei Zimmern mieten: Zwei Anwälte teilten sich einen Raum und ein Zimmer war das Sekretariat, in dem allerdings keine Sekretärin saß. Rüdiger Greb, ein alter Freund, der auch Anwalt geworden war, verfolgte unseren Start mit freundlichem Interesse. Er hatte mit uns Examen gemacht, wechselte dann ins Management und ist später lange Jahre unser Mandant gewesen. Er empfahl uns Ulrike Leib, eine Medizinstudentin, die nachmittags 2–3 Stunden vorbeikam, um das Notwendige zu organisieren. Sie machte ihr Praktikum bei den Geisteskranken im Klinikum auf der anderen Straßenseite. Vermutlich ist sie manchmal vom Regen in die Traufe gefallen, denn wenn wir nach 17 Uhr aus den jeweiligen Büros in unser eigenes kamen und uns gegenseitig andiktierten wie die Teufel, war vor 21 Uhr abends keine Ruhe. Am Freitagabend: Rheinpfalz.
Keiner von uns konnte sich vorstellen, durch welchen Sumpf von Kleinstmandaten wir in den nächsten drei Jahren würden waten müssen, um zu vermeiden, Notare, Beamte oder Richter zu werden. Tatsächlich gab es Laufkunden, also Leute, die beim Anblick eines Anwaltsschildes entdecken, dass sie ein Rechtsproblem haben. Das kön...
Inhaltsverzeichnis
- Deckblatt
- Über das Buch
- Titel
- Impressum
- Widmung
- Motto
- Inhaltsverzeichnis
- Berlin·Freiburg·München 1965 – 1972
- München 1973 – 1991
- Berlin 1992 – 1997
- München 1997 – 2002
- Berlin 2002 – 2012
- Nachwort
- Quellennachweis
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