1.1.1 Selbstreflexion
Literatur kann selbstbezüglich sein, also auf sich selbst verweisen, und zugleich selbstreflexiv sich selbst zum Thema machen. Entsprechende Phänomene sind sowohl in historischer als auch in komparatistischer Perspektive breit nachweisbar.3 Die literaturwissenschaftliche Forschung widmet sich dem Phänomen vermehrt etwa seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.4 Selbstbezüglichkeit verlässt dabei den Status einer heuristischen Analysekategorie und wird zum determinierenden Kriterium, das den Analysegegenstand überhaupt erst ausmacht.5
So argumentieren formalistische Ansätze mit der ‚Poetischen Funktion‘ literarischer Sprache, um die Literarizität von Texten zu bestimmen. In Abgrenzung zur Alltagssprache, die nach pragmatischen Gesichtspunkten einzelne Instanzen ihres kommunikativen Kontextes fokussiert, vollzieht literarische Sprache primär eine „Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung der Nachricht um ihrer selbst willen“.6 Die zur Identifikation als literarisches Kunstwerk relevante Selbstbezüglichkeit realisiert sich in diesem Verständnis auf der sprachlichen Ebene in der formalen Gestaltung des Texts, einer Verdichtung paradigmatischer und syntagmatischer Bezüge.7
Auch Fiktionalität als determinierendes Merkmal literarischer Texte8 lässt sich auf selbstbezügliche Verfahren zurückführen. Da in einem fiktionalen Text die Referenz auf eine außersprachliche Realität nicht gegeben sein kann, referiert der Text in diesem Entwurf als „Symbolverwendung [ohne] empirischen Objektbezug“9 auf sich selbst. In dieser Selbstbezüglichkeit ermöglicht es der Ansatz, über das Paradigma der Fiktionalität Aspekte des Literarischen zu reflektieren.
Während diese beiden Modelle Selbstbezüglichkeit als diagnostisches Mittel sehen, um gewisse charakteristische Eigenschaften ‚des Literarischen‘ zu bestimmen, geht die narratologische Perspektive einen Schritt zurück und fragt nicht, welche Konsequenzen Selbstbezüglichkeit nach sich zieht, sondern welche Bedingungen Selbstbezüglichkeit ermöglichen. Für sie ergibt sich das Potenzial zur Selbstbezüglichkeit aus der Trennung von histoire und discours.10 Histoire wird als die Grundform einer Geschichte, gleichsam ihr Material, verstanden, discours als deren Vermittlung. Da die Vermittlung in diesem Modell von dem Vermittelten zu trennen ist, hat der Text die (nicht zwingende) Möglichkeit, von einem ausschließlich dem Voranschreiten der Handlung dienlichen Erzählen Abstand zu nehmen und den Vermittlungsakt selbst zu thematisieren. So resultiert aus der Selbstbezüglichkeit in diesem Fall immer die Möglichkeit zur Selbstreflexion. Klaus Hempfer formuliert es folgendermaßen:
Durch die für narrative Texte spezifische Konstitution einer Vermittlungsebene, die die Versprachlichung nichtsprachlicher Gegebenheiten übernimmt [...], ist ein potentielles Reflexionsmoment in die Kommunikationsstruktur narrativer Texte eingeschrieben.11
Hempfer versieht seinen Ansatz mit einer explizit historischen Perspektive und beschränkt seine Anwendung auf narrative Texte,12 denen er die „prinzipielle[...] Freiheit des narrativen Diskurses zur Autoreflexivität“13 bescheinigt.
Die drei Modelle sind in ihrem Anliegen und in ihrer Leistungsfähigkeit verschieden, haben in der Forschung aber jeweils Diskussionen geprägt, die sich wechselseitig beeinflussen und bis heute weitergeführt werden.14
Zur Bezeichnung selbstreflexiver Verfahren ist in den letzten Jahren entsprechend ein „terminologisches Dickicht“15 gewachsen, durch das vor einer Beschäftigung mit dem Phänomen selbst Wege geschlagen werden müssen. Die einzelnen Bezeichnungen lassen sich aufgrund ihrer Wortsemantik in Gruppen zusammenschließen. Einige stellen das Verweisen (‚Selbstreferenz‘, ‚Selbstreferentialität‘, ‚Rückbezüglichkeit‘), andere den sich aus den Verweisen ergebenden reflexiven Effekt (‚Autoreflexivität‘, ‚Selbstreflexion‘, ‚Selbstreflexivität‘) und wieder andere mathematische Analogien zu den im Verweis vollzogenen Operationen (literarische ‚Rekursivität‘, ‚Potenzierung‘) in den Fokus.16 Eine weitere Benennungsstrategie operiert analog zum formal-linguistischen Konzept der ‚Metasprache‘17 mit dem Präfix ‚Meta-‘, dessen morphologischer Produktivität kaum Grenzen gesetzt sind.18 Selbstreflexive Vorgänge können so in generische Konzepte (‚Metalyrik‘, ‚Metahistoriographie‘, ‚Metafiktion‘), materiell-mediale Klassifizierungen (‚Metafilm‘, ‚Metafotografie‘) oder analytische Einheiten (‚Metatextualität‘, ‚Metadiskursisivität‘) differenziert werden, aber auch ihre Benennung nach den diskursiven Modi, in denen sie sich konstituieren, (‚Metakommentar‘, ‚Metadeskription‘) sind gängige Praxis.19 Basierend auf der Hypothese, dass es sich jeweils um vergleichbare selbstreflexive Prozesse handelt, kann die Gesamtheit aller Meta-Phänomene auch unter dem Begriff der ‚Metaisierung‘ zusammengenommen werden.20 ‚Meta‘-Begriffe werden dabei häufig sehr unspezifisch für unterschiedliche Konzepte verwendet.
Einen umfassenden Vorschlag zur begrifflichen Systematisierung hat Werner Wolf vorgelegt.21 Seine Überlegungen sind aufschlussreich für die Konzeptionalisierung von Literaturreflexion und liefern neben der terminologischen Grundlage auch den operationellen Ausgangspunkt für den in der vorliegenden Arbeit unternommenen Versuch, mittelalterliche literarische Selbstreflexivität zu fassen. Wolf unterscheidet zunächst zwischen Selbstreferenz und Selbstreflexivität. Während sich Selbstreferenz im semiotischen Akt des Verweisens erschöpft,22 beinhaltet Selbstreflexivität23 eine „Aussage“,24 die in Form „eine[r] Anregung zum Nachdenken über Teile des eigenen Systems durch Elemente desselben Systems“25 transportiert wird. Maßgeblich zur Differenzierung sind für Wolf die Kategorie der Intentionalität und der Aussagecharakter selbstreflexiver Elemente. Bewegt sich die Selbstreferenz „unterhalb der Schwelle einer (intendierten) Auslösung von auf das Medium selbst zentrierten Reflexionen“,26 ist für die Selbstreflexivität dagegen eine intentionale (oder zumindest als intentional angenommene) Setzung der selbstreflexiven Aussagen notwendig.27 In seiner späteren Arbeit verdichtet Wolf diese Differenzierung auf den Unterschied zwischen dem rein formalen Charakter von Selbstreferenz („through similarities and contrasts or the formation of an ordered series“), mithin dem, was Jakobson als ‚Poetische Funktion’ bezeichnet,28 und diskursiv vermittelter Selbstreflexivität.29 Selbstreflexivität selbst unterscheidet Wolf nach dem Gegenstand ihrer Aussagen in „nicht-metareferentielle Selbstreflexivität“, bei der die selbstreflexiven Aussagen die mediale Eigenart ihres Gegenstands als künstlerisches Artefakt nicht betrachten (indem z. B. ein Erzähler über seine Figuren urteilt als wären es Menschen) und in „metareferentielle Selbstreflexivität oder kurz ‚Metareferenz’ oder ‚Metareflexivität’“,30 die sich durch ein Bewusstsein der Spezifika ihres Objekts als – im gegebenen Fall – literarisches Kunstwerk auszeichnet, und zugleich auch die eigene Aussageebene von der des Objekts abhebt.31 Metaisierung, das „Einziehen einer Metaebene in ein Werk, eine Gattung oder ein Medium, von der aus metareferentiell auf Elemente oder Aspekte eben dieses Werks, dieser Gattung oder dieses Mediums als solches rekurriert wird“,32 lässt sich nach Wolf als Kombination der bisher aufgelisteten Merkmale beschreiben: Ein selbstreferentieller Akt muss intentional als Aussage gefasst werden, um Selbstreflexivität zu ermöglichen. Wird diese Reflexivität um ein Bewusstsein für die Eigenarten des Aussageobjekts ergänzt, das sich in einer Differenzierung von Objekt- und Metaebene niederschlägt, kann von Metaisierung die Rede sein.33
Wolfs Terminologie hat den Vorteil, dass sie eine klare begriffliche Differenzierung zwischen einzelnen Formen selbstbezüglicher Verfahren vornimmt und damit ein Forschungsdesiderat zu beheben versucht. Allerdings zeigt sein Ansatz auch exemplarisch die Schwierigkeiten, die sich aus der Frage nach Selbstreflexion ergeben können: die in sich beinahe schon wieder selbstreferentielle Ausarbeitung eines terminologischen Systems, dessen Komplexität erst noch durch ihren analytischen Nutzen legitimiert werden müsste und, schwerwiegender, die Argumentation basierend auf Prämissen, die bei genauerer Betrachtung kaum legitimierbar sind.
Das erste Problem resultiert zum Teil aus der angestrebten Universalität des Ansatzes. Wolfs Entwurf strebt eine größtmögliche Applizierbarkeit an. Die semiotische Basis seiner Begrifflichkeit soll eine Eignung für möglichst alle Formen kultureller Sinnstiftung gewährleisten – Wolf fasst diesen Anspruch mit dem Schlagwort der „Metamedialität“.34 Aufgrund dieser Universalität inkludiert der Ansatz zunächst Aspekte – beispielsweise rein syntaktische Verweisstrukturen wie anaphorische Bezüge von Relativpronomina35 –, die für eine literaturwissenschaftliche Betrachtung wenig aussagekräftig sind und daher durch eine Reihe von Differenzsetzungen wieder ausgenommen werden müssen. Daraus und aus dem Anspruch, alle Varianten des Selbstreflexiven zu berücksichtigen, ergibt sich eine Vielzahl von dualen Unterkategorien (werkinterne vs. werkexterne Metareferenz, explizite vs. implizite Metareferenz, Fictum- vs. Fictio-Metareferenz, kritische vs. nicht-kritische Metareferenz), deren deskriptive Relevanz unbestritten ist, deren über die Benennung hinausgehenden Applikationsmöglichkeiten sich allerdings nicht in jedem Fall unmittelbar erschließen.36
Das zweite Problem ist grundlegender Natur. Der Entwurf stützt sich auf drei in letzter Konsequenz unbestimmbare Größen der literarischen Kommunikationssituation, nämlich die Intention des Produzenten, eine Markierung dieser Intention in selbstreflexiven Passagen des Textes und eine auf der korrekten Deutung dieser Markierungen basierende entsprechende Lektüre durch den Rezipienten.37 Eine Intention im literarischen Produktionsprozess lässt sich schwerlich nachweisen.38 Ebenso ist es unmöglich, textuelle Markierungen, die immer der Arbitrarität semiotischer Prozesse unterliegen, i...