1.1Empirische Sozialforschung: quantitativ und qualitativ
Empirische Sozialforschung hat zum Ziel, Aussagen ĂŒber die Struktur und Beschaffenheit der uns umgebenden sozialen Wirklichkeit zu machen. Mit einer empirischen Untersuchung wird eine systematische und regelgeleitete Analyse eines bestimmten Wirklichkeitsausschnittes anhand des Einsatzes bestimmter Erhebungstechniken durchgefĂŒhrt. Erhebungstechniken können dabei Befragungen, (Labor-)Experimente oder Beobachtungen sein, d. h. die Daten des zu untersuchenden Ausschnittes der sozialen RealitĂ€t können anhand des Einsatzes von reaktiven (Befragung, Experiment) oder nicht-reaktiven Methoden (Beobachtung) gewonnen werden.
Solche systematischen Formen der Datenerhebung werden als empirische Sozialforschung bezeichnet. Diese hat sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts aus verschiedenen VorgĂ€ngerdisziplinen heraus entwickelt. Als wichtigste VorgĂ€ngerdisziplinen sind hierbei die Politische Arithmetik und die Bevölkerungs- und Sozialstatistik zu nennen, die bereits im 17. Jahrhundert vorzufinden waren (Ă€lteste Belege zu Datenerhebungen finden sich bereits im Ăgypten des 2. Jahrhunderts). Durch die im 18./19. Jahrhundert sich vollziehende Entwicklung von agrarischen zu industriellen Gesellschaften und durch die mit der Industrialisierung und VerstĂ€dterung einhergehenden Probleme der Verelendung kam es im Rahmen der âsozialen Frageâ zu einem Aufschwung der empirischen Sozialforschung: Es wurden groĂ angelegte sozialstatistische Untersuchungen durchgefĂŒhrt, von denen man sich Erkenntnisse fĂŒr eine erfolgreiche ArmutsbekĂ€mpfung erhoffte. Die heutige moderne, wissenschaftlich-systematisch betriebene empirische Sozialforschung hat sich aber erst im 20. Jahrhundert herausgebildet und nach und nach institutionalisiert (siehe hierzu u. a. Schnell et al., 2013).
Die empirische Sozialforschung als Sammlung verschiedener Techniken und Methoden zur wissenschaftlichen Untersuchung sozialer PhÀnomene kann ihrerseits in zwei zentrale ZugÀnge differenziert werden, die als quantitative und qualitative Sozialforschung bezeichnet werden.
Quantitative ZugĂ€nge haben zum Ziel â um es pointiert zum Ausdruck zu bringen â, anhand von möglichst reprĂ€sentativ gewonnenen empirischen Daten quantifizierbare, d. h. statistisch auswertbare und verallgemeinerbare Aussagen machen zu können. Im Zentrum des Forschungs- und Erkenntnisinteresses stehen Analysen von KausalzusammenhĂ€ngen, deduktive Prozesse und somit die Ermöglichung von âobjektivenâ Aussagen ĂŒber die soziale RealitĂ€t sowie die HypothesenĂŒberprĂŒfung. Das Subjekt wird zumeist nicht in seiner Ganzheit, sondern als MerkmalstrĂ€ger bestimmter Variablen untersucht, die anhand konkreter Operationalisierungen einer empirischen Messung zugĂ€nglich gemacht werden. Unabdingbare Parameter quantitativer Forschung sind die Messbarkeit von PhĂ€nomenen sowie deren vorherige Ope
rationalisierung, eine möglichst klare Isolierung von Ursache und Wirkung mit dem Ziel der Verallgemeinerung der an Stichproben ermittelten Aussagen.
Qualitative Forschung hingegen hat zum Ziel, bestimmte soziale PhĂ€nomene einer tiefen und differenzierten Analyse zu unterziehen; das Vorgehen ist dabei â in klarer Abgrenzung zu den quantitativen ZugĂ€ngen â zumeist induktiv und hypothesen- und/oder theoriegenerierend. Es sollen subjektive Wirklichkeiten und subjektive Sinnkonstruktionen und Alltagstheorien untersucht, Lebenswelten von innen heraus beschrieben, individuelle Sichtweisen und Meinungen oder Motive analysiert werden. Dies alles mit dem Ziel, diese nicht nur detailliert zu beschreiben, sondern verstehend nachvollziehen zu können. ReprĂ€sentativitĂ€t wird nicht im statistischen, sondern im inhaltlichen Sinne realisiert (vgl. hierzu
Kap. 7.3). Das Subjekt wird, ohne Reduktion auf Einzelvariablen, in seiner Ganzheit betrachtet und die Daten werden in sozialen Interaktionen (mittels Kommunikation) erhoben.
Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn das Untersuchungsfeld die Internetnutzung Jugendlicher darstellt, so könnten Fragestellungen quantitativ orientierter Forschungsprojekte darin liegen, empirisch zu ermitteln, wie viele Jugendliche welche Dienste und Anwendungen im Internet nutzen, wie sich diese Nutzung z. B. zeitlich verteilt oder welche (psycho-)sozialen Parameter mit bestimmten Nutzungsweisen korrelieren. Es handelt sich somit vornehmlich um Fragestellungen, die darauf abzielen, statistische ZusammenhĂ€nge zu ermitteln, die numerisch dargestellt werden können. DemgegenĂŒber wĂ€re ein Ansatz qualitativer Forschung in diesem Forschungsthema die Frage, wie genau sich die Nutzung gestaltet oder warum bestimmte Dienste und Anwendungen genutzt werden. Das Erkenntnisinteresse richtet sich hier auf die individuellen Sinnzuschreibungen der Internetnutzung, aber Fragestellungen qualitativer Forschungsprojekte können sich beispielsweise auch auf die Rolle der Mediennutzung im Lichte der eigenen Biografie und des eigenen Lebenslaufs beziehen.
Qualitative Forschung ist durch folgende Kriterien gekennzeichnet:
âPhĂ€nomene sollen von âinnen herausâ, aus der Sicht des Subjekts, verstanden werden;
âSubjektbezogene Forschung;
âDifferenzierte Beschreibung von Inhalten und/oder Prozessen;
âErmittlung individueller Sichtweisen, Einstellungen, Motive, BedĂŒrfnisse usw.;
âGenerierung von Hypothesen;
âErfassung der subjektiven Wirklichkeit und subjektiver Wirklichkeitstheorien (Situationsdeutungen, Handlungsmotive, Alltagstheorien);
âSinnverstehen, Sinnrekonstruktion;
âUntersuchung eines bisher unbekannten Feldes bzw. Untersuchung bisher unbekannter Sachverhalte;
âErfassung von Selbstinterpretationen;
âHerausarbeitung von manifesten und ggf. latenten Sinnstrukturen;
â
nicht ReprÀsentativitÀt im statistischen, sondern im exemplarischen Sinne soll erreicht werden; es geht um eine Generalisierung durch Typenbildung.
Qualitative Forschungen nÀhern sich unter Zuhilfenahme offener und flexibler Methoden an die zu untersuchenden Forschungsbereiche an. Sie erheben unter Einsatz nicht standardisierter Erhebungsinstrumente das Subjektive mit den Zielen des Verstehens und des Nachvollziehens subjektiver Wirklichkeitskonstruktionen, der Analyse der Herstellung von sozialer RealitÀt sowie der (Re-)Konstruktion von Bedeutung (d. h. von Sinn).
Der qualitative und der quantitative Forschungsstrang werden im wissenschaftlichen Diskurs hĂ€ufig als ein sich ausschlieĂendes Gegensatzpaar angesehen (âqualiâ versus âquantiâ), wobei geltend gemacht wird, dass die dahinterstehenden Paradigmen oftmals unvereinbar seien. Dies ĂŒberzeugt jedoch nicht, da beide Methoden mit unterschiedlichen AnsĂ€tzen dasselbe Ziel haben, nĂ€mlich vertiefende Erkenntnisse ĂŒber die umgebende soziale RealitĂ€t zu gewinnen. Sie unterscheiden sich in der Art und Weise, wie sie dieses Ziel methodologisch umsetzen und unterscheiden sich in den ihnen zugrunde liegenden Paradigmen, so insbesondere in den Vorstellungen ĂŒber die soziale RealitĂ€t, ĂŒber deren Messbarkeit und ĂŒber den Umgang mit SubjektivitĂ€t.
Tab. 1.1: Vergleich qualitativer und quantitativer Methoden (Quelle: eigene Darstellung)
Quantitativ | Qualitativ |
ErklÀren, Darstellen von AusprÀgungen bestimmter Merkmale und/oder MerkmalszusammenhÀnge | Verstehen von bestimmten Merkmalen |
Gesetz der âgroĂen Zahlâ | Das Subjekt steht im Vordergrund |
Numerische Relationen | Qualitative Relationen |
Kausale Beziehungen | Muster erkennen |
Messen | Sinnverstehen |
Standardisierung | Offenheit, FlexibilitÀt |
Ergebnisse sollen RĂŒckschluss auf Grundgesamtheit ermöglichen | Ergebnisse sollen Typenkonstruktion ermöglichen |
HypothesenprĂŒfung | Hypothesengenerierung |
Vergleichbarkeit der Daten | Oftmals explorative Untersuchungen |
Geschlossenes Vorgehen | Offenes Vorgehen |
Statisch | Prozessual; gegenstandsbezogen |
GroĂe Stichproben | Kleine Stichproben |
Zufallsstichprobe | Gezieltes Sampling; theoretisches Sampling |
Die Auseinandersetzung um die Angemessenheit und Wertigkeit von empirischen Methoden wurde in den Sozialwissenschaften im sogenannten Methodenstreit in den 1960er-Jahren (teil-)öffentlich ausgetragen. Der Konflikt gipfelte u. a. im Positivismusstreit im Jahre 1961. Dabei standen sich zwei Positionen gegenĂŒber, die â etwas verkĂŒrzt, vereinfacht und zugespitzt dargestellt â als eine Differenz von erklĂ€renden gegenĂŒber verstehenden AnsĂ€tzen beschrieben werden kann und die von auĂen als Konflikt zwischen quantitativen und qualitativen Methoden wahrgenommen wurde:
âErklĂ€rende AnsĂ€tze sind dabei dem Ideal der Naturwissenschaften verpflichtet und wollen âobjektiveâ Daten erheben. Betrachtet man die Entwicklung in den Sozialwissenschaften, so hatte sich hier zu Beginn hauptsĂ€chlich dieser Ansatz und damit die quantitativen Methoden durchgesetzt.
âVerstehende AnsĂ€tze sind den Geisteswissenschaften verpflichtet und wollen subjektive Strukturen anhand von hermeneutischen, d. h. interpretativen Verfahren nachvollziehen. Hintergrund ist dabei, dass sich im Subjektiven Gesellschaftliches ablagert und dass sich in konkreten, subjektiven, sich wiederholenden Mustern Gesellschaftliches rekonstruieren lĂ€sst. Qualitative AnsĂ€tze etablierten sich vor allem seit den 1980er-Jahren.
Auch wenn es heute kaum mehr einen öffentlich ausgetragenen Methodenstreit gibt, so sind z. B. wissenschaftliche Fachzeitschriften hĂ€ufig entweder dem einen oder dem anderen Ansatz verpflichtet. Nur wenige Zeitschriften publizieren sowohl quantitative als auch qualitative Studien auf hohem Niveau. Auch in der Lehre werden in den Methodenkursen zumeist entweder quantitative oder qualitative Methoden vermittelt und spĂ€testens bei einer Methodenvertiefung mĂŒssen sich die Teilnehmenden fĂŒr das eine oder andere Paradigma entscheiden.
Diese Unterschiedlichkeit löst sich aber dann auf, wenn die Methoden und Paradigmen in ein VerhĂ€ltnis gesetzt werden zum angestrebten Erkenntnisinteresse. Quantitative Methoden sind ungeeignet fĂŒr die Fragen qualitativer Forschungsthemen; mit qualitativen Methoden können keine Fragen quantitativer Forschungsthemen beantwortet werden. Sinnvoll eingesetzt, können beide Methoden sich gegenseitig ergĂ€nzen und befruchten und damit zu noch tieferen Erkenntnissen fĂŒhren. Dies erfordert jedoch eine sorgfĂ€ltige Methodentriangulation (vgl. hierzu 10.3.1, Abschnitt c).
Eine Abkehr von diesem bipolaren Denken zeigt sich im Bereich der Forschungsförderung, sodass Förderinstitutionen zunehmend eine Methodentriangulation einfordern und die Erwartungshaltungshaltung vorliegt, dass der routinierte und seriöse Forscher die Vorteile der beiden methodologischen AnsÀtze kennt und diese souverÀn und gewinnbringend im Rahmen der entsprechenden Forschungsfrage miteinander zu kombinieren vermag. In der Forschungspraxis wird dies, wenn nicht durch den Forschenden selbst, so doch hÀufig durch Forschungskooperationen realisiert, die die VerschrÀnkung von qualitativen und quantitativen Methoden sicherstellt.