KAPITEL 1
Wie ich zu dem kam, wie ich heute behandle. Oder: Das Leben ist ein Fächer an Möglichkeiten
Mein tieferes Schürfen nach dem, was hinter dem Offensichtlichen steckt, hängt mit zwei Faktoren zusammen: zum einen mit meiner angeborenen Neugier an Gesamtzusammenhängen. Deswegen habe ich neben meinem Medizinstudium gleichzeitig Philosophie studiert.
Meine Latein- und Griechisch-Lehrer haben im Internat im mittelfränkischen Windsbach gute Vorarbeit geleistet: Sie begeisterten mich für die tiefere Bedeutung von Sprache und wie sie in ihrer Komplexität wirkt, und sie legten den Grundstock dafür, dass ich in Ulm einen der ersten Philosophiekreise an dieser Universität gründete. Darüber lernte ich meinen Mentor Friedrich Kambartel kennen, Philosophie-Professor an der Uni Konstanz. Seine Lehre und die von Jürgen Habermas, die beide der Meinung waren, dass sprachliche Vernunft Tat und Geist hinterfragen sollte und Ausdruck und Handeln eins sein sollten, inspirierten mich. Nur das sei stimmig, und nur so sei der Mensch authentisch, darum ging es ihnen und auch mir.
Sehr früh hatte ich – und hier kommen wir zu einer zweiten Erklärung für mein tieferes Schürfen – Vater und Mutter verloren. Das war eine prägende wie einschneidende Erfahrung: Mein Vater starb an Dickdarmkrebs, als ich vier Jahre alt war, und auch meine Mutter starb an Dickdarmkrebs, als ich 23 Jahre war. Ich hatte sie fünf Jahre gepflegt und konnte dennoch nichts für sie tun. Dadurch entstand wohl auch mein starkes Bedürfnis, anderen Menschen zu helfen.
Bis ich jedoch so weit war, die Ursache von Krankheiten und Unwohlsein aufzuspüren und zu behandeln, sollte noch einige Zeit vergehen.
Zuerst wollte ich nach meiner Promotion im Münchener Klinikum Großhadern die Karriereleiter an der Universität erklimmen und Professor werden. Mein Doktorvater bot mir die entsprechende Stelle an mit den Worten: »Aber die nächsten zehn Jahre Ihres Lebens können Sie vergessen!« Das war der erste Wendepunkt in meinem beruflichen Leben: Zehn Jahre einfach zu vergessen, konnte ich mir nicht vorstellen. Nach diesen zehn Jahren wäre ich 38 Jahre gewesen – in diesem Alter war mein Vater bereits verstorben. Diese Zeit wollte ich also nicht »opfern«. Daher begann ich nach dem Studium während meines Wehrdienstes als Stabsarzt zu arbeiten und stellte fest, dass man in einer Allgemeinarztpraxis ganz anderen Patienten begegnet und nicht wie in der Uniklinik nur Schwerstkranken. Es machte mir Freude, mich mit den verschiedensten Krankheiten auseinanderzusetzen, daher wählte ich als nächsten Meilenstein in meiner Entwicklung ein kleines Kreiskrankenhaus in Bad Saulgau. Dort behandelte ich sowohl den verunfallten Maurer als auch eine schwangere Mutter sowie Herzinfarktpatienten oder solche, die mit Verbrennungen nach einer Familienfeier in die Notaufnahme kamen.
Danach arbeitete ich, um meine Fähigkeiten als Arzt zu schulen, in verschiedenen Kassenarztpraxen und zum ersten Mal auch in München als Assistenzarzt in einer Praxis für Naturheilverfahren.
Dann sollte wieder ein besonderer Moment in mein Leben kommen: In der Nähe von Passau, im niederbayerischen Ruhstorf, vertrat ich einen kranken Kollegen und behandelte 80 bis 100 Patienten pro Tag, wie es in einer Landpraxis so üblich ist. Ich kam gut zurecht, und es machte mir Spaß, mit den Patienten über einen längeren Zeitraum Kontakt zu haben. Auch das Praxisklima mit den Angestellten war sehr gut. Das sah auch der Kollege so. Denn als er wieder gesund war, bot er mir an, bei ihm als Partner einzusteigen.
Meine damalige Freundin – heute meine Frau – weigerte sich allerdings, in die bayerische Provinz zu ziehen, und so stand ich vor der Frage: Mich trennen und dort einsteigen oder es lassen?
Eines Nachts kurz vor dem Einschlafen wurde mir schlagartig klar, was ich hier eigentlich den ganzen Tag machte: Du behandelst mit acht Sprechstundenhilfen in fünf Zimmern gleichzeitig 80 Patienten am Tag, und ich fragte mich: Heilst du sie denn auch? Du siehst sie immer wieder, manche sogar ständig, doch ihnen helfen die Behandlungen anscheinend nicht. Du verschreibst nur lauter sogenannte Anti-Mittel: Anti-Biotika, Anti-Depressiva, Anti-Hypertonika, Anti-Rheumatika, Anti-Neuroleptika usw.
Damit behandelt man eigentlich nur die Symptome. Man hilft den Patienten nur im Augenblick und wartet darauf, dass der Körper sich selbst heilt. War das die Medizin, die ich mir bei meinem Entschluss, Medizin zu studieren, als Berufsziel vorgestellt hatte? Die Arbeit in der Praxis machte mir Spaß, keine Frage. Ich fühlte mich gebraucht. Aber wollte ich wirklich ein Leben lang ein Anti-Mittel-Arzt sein?
Das willst du nicht!, sagte ich mir. Und gemäß meiner philosophischen Überzeugung musste ich konsequenterweise auch handeln: Wenn du das nicht willst, kannst du nicht einfach so weitermachen. Du musst das tun, was du für richtig hältst! Nur was?, echote es gleich darauf zurück.
Und auch das hat mich das Leben gelehrt: In solchen Entscheidungsphasen liest man genau die Bücher oder spricht mit genau den Leuten, die einen weiterbringen. So ging es mir mit der Lektüre von Christine und Frido Manns Buch Es werde Licht. Die Manns erklären darin, wie die Quantenphysik des Geistes funktioniert und meinen, dass wir in solch existenziellen Augenblicken neue Möglichkeiten erkennen.
Wie aus einem aufgeklappten Fächer der Möglichkeiten können wir Chancen auswählen und nutzen. So war es auch bei mir. Wenige Tage später fiel mir in der Praxis in Ruhstorf eine Broschüre in die Hände. Sie stellte die Neuraltherapie nach Ferdinand Huneke vor.
Aha-Erlebnis: Neuraltherapie
Die Neuraltherapie ist eine Therapieform, die durch Injektionen mit Lokalanästhetika regulativ und reflektorisch in den Organismus eingreift, um zum Beispiel Rückenschmerzen, Kopfschmerzen oder Schwindel zu behandeln. Dieser komplementär ausgerichteten Behandlungsmethode liegt auch die Überlegung zugrunde, dass viele dieser Funktionsstörungen durch bestimmte sogenannte »Störfelder« ausgelöst werden können. Narben, Brüche, alte Entzündungen können solche »Störfelder« sein. Sie irritieren mit Störsignalen kontinuierlich (also chronisch) das vegetative Nervensystem und setzen den Körper unter Dauerstress. Spritzt man in diese Störfelder ein Lokalanästhetikum, wie Procain oder Lidocain, gelingt es häufig, sie zu unterbrechen, der Körper kann wieder in seine normale Regulation zurückfinden.
Das klang so aufregend und interessant, dass ich mich sofort erkundigte, wo man das lernen könne. Wie so oft im Leben braucht man Vorbilder, die einem die Kraft und den Mut geben, etwas Neues auszuprobieren. Gleich der Erste, der mir diese neue Methode nahebrachte, war der Wiener Zahnarzt Prof. Franz Hopfer (1917–1996). Er wurde für mich ein Vorbild.
Bei einer Fortbildung auf dem jährlichen Kongress für Naturheilverfahren 1981 im baden-württembergischen Freudenstadt lernte ich ihn kennen. Drei Tage dauerte der Lehrgang »Neuraltherapie«, und bis in sein 80. Lebensjahr veranstaltete Hopfer mitreißende Fortbildungen, die ich immer gerne besuchte. Er erweiterte die Formel cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich), auf cogita et fac idem, sanus eris« (Denke und handle in gleicher Weise, dann wirst du gesund) und riss auch mich mit seiner Begeisterung über seine Erfolge mit.
Da muss etwas dran sein, dachte ich mir: Dieser Mann hatte genug verdient. Er musste nicht mehr durch die Lande tingeln und für eine neue und damit auch skeptisch betrachtete Therapieform werben. Nein, er war so begeistert von dem, was er erlebt hatte, und wollte das weitergeben. Er wollte, dass die Neuraltherapie Eingang in die Landpraxen fand, weil man mit dieser Therapie erregte Zellen wieder in den Ruhezustand versetzen und Heilung anregen konnte.
Er hatte erkannt, dass – und hier bringe ich ein Beispiel, mit dem ich gerne die Wirkweise der Neuraltherapie erkläre – wenn Sie Radio hören wollen und irgendwo ein Föhn eingeschaltet ist, dann hören Sie ein Rauschen. Sie können noch so oft den Sender wechseln, die Lautstärke regulieren oder sonst einen Knopf an Ihrem Radio betätigen, das alles bringt nichts. Klar und damit störungsfrei hören können Sie erst, wenn der Föhn ausgeschaltet wird.
Sie müssen praktisch das Gesamte betrachten und auch wissen, dass Störungen aus ganz anderen Ecken kommen können, wo Sie diese gar nicht vermuten, die aber einen gravierenden Einfluss auf Ihr Wohlbefinden haben können.
Sie können noch so sehr Symptome behandeln, es wird nichts bringen. Im Gegenteil. Sie werden sich auf Dauer nur noch kränker und ohnmächtiger fühlen. Sie merken – wie viele Patienten, die zu mir kommen –, dass Sie sich im Kreis drehen und sich vor Ihnen ein dunkles Loch auftut, das immer tiefer und tiefer wird.
Nun besuchte ich beflügelt weitere Kurse, las Fachliteratur und wandte – ich hatte inzwischen die Zusatzbezeichnung »Naturheilverfahren« erlangt – mein neues Wissen bei Praxisvertretungen an.
In einer Praxis in Bad Griesbach hatte ich ein ganz besonderes Erlebnis. Am vorletzten Tag meiner Stippvisite räumte ich Krankenakten auf, und mein Blick fiel auf eine sehr dicke Akte einer Patientin. Im ersten Satz der Akte stand: »Nach einer Abrasio langsam beginnende Halbseitenlähmung.« Nach einer Ausschabung der Gebärmutter vor 20 Jahren hatte die Patientin eine Odyssee bei unzähligen Ärzten und Professoren hinter sich, von denen ihr niemand helfen konnte, wie es schien.
Sensibilisiert durch meine Ausbildung, läuteten bei mir sofort alle Alarmglocken: Da stand im ersten Satz bereits die Diagnose. Das gibt’s doch nicht!, dachte ich. Mir war sofort klar: Da hatte sich nach der Operation im Unterleib ein »Störfeld« aufgebaut. Ich war mir völlig sicher und rief die Frau in meinem Eifer als junger Arzt kurzerhand an. Ich erklärte ihr, dass ich glaubte, ihr helfen zu können, aber nur noch einen Tag in Bad Griesbach sei. Sie war natürlich sehr skeptisch und winkte ab: »Ich habe so viele Professoren konsultiert, keiner konnte mir helfen. Was glauben Sie als einfacher Landarzt denn tun zu können?«
Ich argumentierte mit der »neuen Methode«, beharrte auf meinem Wissen, und am nächsten Morgen trugen ihr Mann und ihr Sohn sie zu mir in die Praxis im ersten Stock. Den Rollstuhl hatten sie vor dem Eingang geparkt, einen Aufzug gab es nicht.
Ich setzte eine Injektion rechts und links neben der Gebärmutter in den sogenannten Frankenhäuserschen Plexus, und was dann geschah, war unglaublich. Die Frau konnte ihr gelähmtes Bein wieder fühlen und es bewegen. Wir alle trauten unseren Augen kaum. Wir waren fasziniert, was da vor sich ging: Wir wurden Zeuge eines immer wieder auftretenden Sekundenphänomens.
Dieses Ereignis machte mich vom Interessierten zum feurigen Verkünder der Neuraltherapie, und wenige Monate später eröffnete ich 1982 meine eigene Praxis im Herzen Schwabings. Da man bei der sogenannten Störfeldsuche viel Zeit brauchte, sah ich mich gezwungen – trotz der damals goldenen Zeiten der Kassenpraxen – eine Privatpraxis zu eröffnen.
Um die Kosten gering zu halten, begann ich in unserer Vierzimmerwohnung, in der ich damals mit meiner Frau und deren Sohn lebte, zu praktizieren. Um genau zu sein, im Schlafzimmer. In das stellte ich neben das Doppelbett eine Liege und einen Schreibtisch, ein Wartezimmer gab es nicht. Als eineinhalb Jahre später unsere Tochter geboren wurde, zog ich mit meiner Praxis in die Wohnung nebenan.
Damals glaubte ich, mit Neuraltherapie alles heilen zu können, und empfing die Patienten sozusagen schon mit der Spritze in der Hand. Sie wurde zu meinem Markenzeichen, und mit ihr und der Neuraltherapie konnte ich vielen helfen: Menschen mit Kopf-, Rücken- und Knieschmerzen, mit Sudek-Syndrom, mit Hexenschuss, mit Bandscheibenvorfall, mit rheumatischen Beschwerden, mit nicht heilen wollenden Brüchen …
Aber es gab auch andere Patienten, da funktionierte das Lokalanästhetikum nicht: »Keine Methode kann alles.« Diese Erkenntnis wurde mir im Lauf der Zeit immer klarer. Und weil ich als behandelnder Arzt zu meinen Patienten auch immer eine emotionale Beziehung aufbaue, hat es mich irgendwie enttäuscht, wenn ich in meiner Behandlung nicht zum Ziel kam. Daher habe ich immer wieder Neues ausprobiert: Ich war und bin davon überzeugt, dass, wenn nichts half, ich nur noch nicht den richtigen Schlüssel zu diesem Menschen und seinem Thema gefunden hatte.
Immer einen bestimmten Menschen im Kopf, suchte ich nach neuen Verfahren und Schlüsseln, um ihm helfen zu können. Als Arzt habe ich stets den Menschen vor Augen und nicht einfach nur einen Fall. Oft sind die Patienten lange in einem Ungleichgewicht, das von Anti-Mitteln, die nur die Symptome lindern, genährt wird. Dadurch baut sich eine regelrechte Regulationsstarre auf. Diese Starre gilt es zu lösen und die Selbstheilungskräfte des Körpers wieder anzuregen. Erst wenn es gelingt, eine Starre in eine Wellenbewegung umzuwandeln, kann man überhaupt an Heilung denken.
Daher die Frage: Was muss ich als Arzt tun, damit das möglich wird? Und: Mit welchen therapeutischen Maßnahmen kann ich den Organismus meines Patienten so ankurbeln, dass er wieder in sein natürliches Gleichgewicht zurückfindet?
Individuellere Schlüssel müssen her
Die Suche nach neuen Schlüsseln ließen mich im Frühjahr die Fachkongresse in Freudenstadt und im Herbst in Baden-Baden besuchen. Auch heute noch probiere ich Neues aus und bilde mich weiterhin fort. Denn das Leben steht nicht still. Alles entwickelt sich weiter. Auch die Naturheilkunde. Wenngleich sie wie alle Zweige der Komplementärmedizin – etwa die ayurvedische Medizin oder die Traditionelle Chinesische Medizin – auf einem alten Grundstock an Wissen fußt. Doch es gibt immer Neuerungen.
Nach der Neuraltherapie beschäftigte ich mich mit Akupunktur. Dabei wurde nicht unbedingt das Nadeln für mich wichtig, sondern der Blick auf ein energetisches Gesamtsyst...