Drei sind ein Dorf
  1. 368 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Über dieses Buch

Mit knapp dreißig hat Nilou alles erreicht. Wer hätte je geglaubt, dass sie eine Eliteuniversität besuchen, einen weltgewandten Juristen heiraten und ihre eigene Wissenschaftskarriere beginnen würde? Als Kind ist sie mit ihrer Mutter aus dem Iran geflohen – in die tiefste amerikanische Provinz, wo man sie nicht eben offenherzig empfangen hat. Doch sie hat ehrgeizig nach den Idealen der westlichen Welt gestrebt und sich komplett neu erfunden. Alles könnte also gut sein, wäre da nicht Nilous Vater, ein opiumsüchtiger Verehrer altpersischer Lyrik, der ihr vom Iran aus die Kluft vor Augen führt, die die Familie voneinander trennt. Als Nilou in Amsterdam auf eine Gruppe iranischer Exilanten trifft, mit ihnen kocht und ihren Erzählungen lauscht, erwacht eine alte Sehnsucht in ihr: nach einer Heimat, in der sie ganz einfach sie selbst sein darf.

Häufig gestellte Fragen

Ja, du kannst dein Abo jederzeit über den Tab Abo in deinen Kontoeinstellungen auf der Perlego-Website kündigen. Dein Abo bleibt bis zum Ende deines aktuellen Abrechnungszeitraums aktiv. Erfahre, wie du dein Abo kündigen kannst.
Derzeit stehen all unsere auf mobile Endgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Perlego bietet zwei Pläne an: Elementar and Erweitert
  • Elementar ist ideal für Lernende und Interessierte, die gerne eine Vielzahl von Themen erkunden. Greife auf die Elementar-Bibliothek mit über 800.000 professionellen Titeln und Bestsellern aus den Bereichen Wirtschaft, Persönlichkeitsentwicklung und Geisteswissenschaften zu. Mit unbegrenzter Lesezeit und Standard-Vorlesefunktion.
  • Erweitert: Perfekt für Fortgeschrittene Studenten und Akademiker, die uneingeschränkten Zugriff benötigen. Schalte über 1,4 Mio. Bücher in Hunderten von Fachgebieten frei. Der Erweitert-Plan enthält außerdem fortgeschrittene Funktionen wie Premium Read Aloud und Research Assistant.
Beide Pläne können monatlich, alle 4 Monate oder jährlich abgerechnet werden.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja! Du kannst die Perlego-App sowohl auf iOS- als auch auf Android-Geräten verwenden, um jederzeit und überall zu lesen – sogar offline. Perfekt für den Weg zur Arbeit oder wenn du unterwegs bist.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Ja, du hast Zugang zu Drei sind ein Dorf von Dina Nayeri, Ulrike Wasel, Klaus Timmermann, Ulrike Wasel,Klaus Timmermann im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literatur & Literatur Allgemein. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Das erste Wiedersehen

Oklahoma City, 1993
Keine Begebenheit erweckt in uns
einen Fremdling, von dem wir
nichts geahnt hätten. Leben heißt
langsam geboren werden.
Antoine de Saint-Exupéry
Zum ersten Mal sahen wir uns 1993 wieder. Ich glaubte, Baba würde nach Oklahoma kommen, um bei uns zu bleiben. Wir fuhren an einem glühend heißen Oklahoma-Sonntag gegen Mittag zum Flughafen. Maman erlaubte uns, die Kirche ausfallen zu lassen, und wir freuten uns, weil wir unsere normalen Sachen anbehalten durften. Wir packten einige Flaschen Eiswasser ein, und Kian nahm einen alten Gameboy mit. Die Sonne brannte durch die Autoscheiben, und schon nach fünf Minuten waren wir völlig durchgeschwitzt und erschöpft. Kian und ich trugen Shorts und T-Shirts mit verblassten Markenlogos aus irgendeinem Secondhandladen; Maman trug Jeans und eine hübsche Bluse aus dem Iran. Sie versuchte, möglichst neutral zu wirken. Iranische Frauen denken ständig über ihr Aussehen nach, aber sie wollte Baba nicht den Eindruck vermitteln, dass sie ihn vermisst hatte.
Sie bombardierte uns mit Fragen, ohne sich für unsere Antworten zu interessieren. »Freut ihr euch darauf, euren Baba zu sehen?« »Kian, hast du dein Gedicht dabei?« »Nilou, ich hab doch gesagt, keine Shorts. Soll dein Baba etwa denken, du wärst eine amerikanische dokhtare kharab geworden?«
Seit ich ein Jahr zuvor dreizehn geworden war, trieb Maman die Angst um, ich könnte eine dokhtare kharab werden, ein »gebrochenes Mädchen«, womit Iraner eine sexuell freizügige Person meinen, die zufällig weiblich ist. Sie glaubte, dass ich in dieser Hinsicht stärker gefährdet war als andere, weil ich Babas DNA in mir trug. Wie in den meisten Kulturen geht die männliche Version dieser Bezeichnung so etwa in Richtung verspielt.
Kian stupste mich in die Rippen und fing an, ein nerviges Lied zu singen, das er sich ausgedacht hatte. Maman kicherte. Manchmal zog sie ihn auf, indem sie sein Revolutionslied aus Kleinkindertagen sang. »Der gefangene Vogel leidet Herzweh hinter Mauern«, trällerte sie dann mit Babystimme. Meistens ergänzte Kian den Rest der Strophe, und sie ergötzten sich an ihrer innigen Mutter-Sohn-Beziehung. Ich hasste das. Ich begriff nicht, dass ich in solchen Momenten Baba vermisste.
Vielleicht, weil ich eine Tochter war oder weil ich Babas Tochter war, behandelte Maman mich besonders streng. Sie verbot mir, auch nur einen winzigen Hauch Make-up zu tragen, und gab meinem Drängen, mir endlich die Beine rasieren zu dürfen, erst nach, als sie sah, dass meine Behaartheit gegen die guten Sitten verstieß und sie mich so weder aus dem Haus lassen noch mich zwingen konnte, in der drückenden Hitze Oklahomas lange Hosen zu tragen. Ständig mit Maman und Kian auf engstem Raum lebend, sehnte ich mich nach einem winzigen bisschen Privatsphäre.
Irgendwann während unserer Jahre im Exil hatte ich aufgehört, Kinderspiele zu spielen. Ich vergaß die Bücher, die ich einst geliebt hatte, die Texte der persischen Lieder und fing an, von einer eigenen Wohnung in einer Großstadt zu träumen. In Oklahoma schmiedete ich heimlich Pläne, lieh mir in der Stadtbücherei Ratgeber für Uni-Bewerbungen aus, bereitete mich auf meine zweite Flucht vor – in diesem verschlafenen Flachland konnte ich mich nicht zu Hause fühlen, und jede Anstrengung und Demütigung würde sich gelohnt haben, wenn ich dadurch eine eigene Heimat finden würde. Die anderen Kinder hatten noch nie jemanden aus dem Mittleren Osten gesehen, hatten sich immer nur mit ihren eigenen Träumen und Dämonen befasst, und sie luden mich nicht in ihr beschränktes Universum ein. Sie erklärten mir ihre Liedertexte nicht und ebenso wenig die Völkerballregeln oder wie man die vielen Wörter aussprach, die ich durcheinanderbrachte. Ich blieb mir selbst überlassen und lebte in meiner Fantasie. Bald kam ich zu dem Schluss, dass ich zwei Dinge brauchen würde, um mich hier sicher und zu Hause zu fühlen: Geld und die Ausstrahlung einer echten Amerikanerin (ein schwer fassbarer Begriff, der mir tägliche Blamagen bescherte). Um mich auf meine glänzende großstädtische Zukunft vorzubereiten, aß ich nichts anderes als Pitabrot und Ei ohne Dotter, schwamm täglich tausend Meter und cremte ständig meine Beine ein. Sieben Stunden am Tag paukte ich den Mathe-Lehrplan der zwölften Klasse.
»Er wird mich nicht für kharab halten«, sagte ich zu Maman. »Er hat meine Noten gesehen.«
»Noten haben damit überhaupt nichts zu tun«, sagte sie.
Ich schnaubte. »Wir reden hier von Baba! Mit genug Einsen auf dem Zeugnis könnte ich nackt in die Schule gehen.«
»Nilou!« Sie schlug mit beiden Händen aufs Lenkrad. »Es reicht.« Sie atmete zweimal tief durch. »Bitte vergesst nicht, dass ihr für euren Baba sehr verändert aussehen werdet. Vielleicht macht ihn das traurig. Versucht einfach, lieb zu sein. Ich weiß, dass ihr das noch könnt.«
Etwa um die Zeit, als wir in der ersten Flüchtlingsunterkunft ankamen, fingen meine Albträume an. Sie änderten sich im Laufe der Jahre, aber sie verschwanden nie, und ich gewöhnte mich an den Gedanken, dass fehlende Gliedmaßen und gespenstische Würger und sterbende Eltern einfach der Preis des Schlafes waren. Als ich vierzehn wurde, handelten die Träume meist von Klassenkameraden, die mich wegen irgendwas bloßstellten. Ich fürchtete, sie würden herausfinden, dass ich eine ganze Dekade amerikanische Musik verpasst hatte, dass ich aus einem Land stammte, in dem Frauen gezwungen werden, triste Kleidung zu tragen, dass ich nur etwa die Hälfte von ihrem Slang verstand. Ich fürchtete, sie würden herausfinden, dass ich mich fürchtete. Meine einzigen Gegenmittel gegen die Angst waren Mathe und Naturwissenschaften, konkrete Disziplinen, denen zu trauen ich von Baba gelernt hatte (eine reinere Liebe zum Lernen und Studieren setzte erst in späteren Jahren ein).
In manchen Nächten träumte ich, dass Baba mich entführte, und in diesen Träumen waren seine Augen tot, und ich wusste, dass er der andere Baba war, der Opium-Baba, der zahnjagende Baba, und dass ich ihm entkommen musste.
»Wo wird er denn schlafen?«, fragte ich, obwohl wir das schon besprochen hatten.
Unsere Wohnung war für Immigranten eigentlich nichts Besonderes, aber für mich war sie ein Albtraum. Die in typischen Durchgangsländern wie Italien und den Arabischen Emiraten verbrachte Zeit hatte unsere Geldreserven aufgezehrt. Wir verfügten über Mamans kleines Einkommen und eine dunkle Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss eines zweistöckigen Hauses. Zuerst teilten Maman und ich uns ein Zimmer. Dann Kian und ich. Und bald würden wir wahrscheinlich wieder tauschen. Es hing davon ab, wer ihrer Meinung nach gerade mehr Privatsphäre brauchte, sie selbst oder Kian. Ich nie, denn Privatsphäre war die einzige noch fehlende Zutat, die mich von einer dokhtare kharab trennte. Sie hielt sie von mir fern, wie den versehentlichen Tropfen Eigelb, der eine Schüssel mit schaumigen Baiser-Spitzen in eine flache, schlabberige Zuckersuppe verwandelt.
Wir kamen überein, dass Baba mit Kian und ich wieder mit Maman in einem Zimmer schlafen würde. Wir kamen auch überein, dass Nader, Mamans »Bekannter«, der vor der Revolution aus Kermanschah gekommen war, während Babas Aufenthalt nicht vorbeischauen würde. An den meisten Tagen tauchte Nader gegen sechs oder sieben Uhr bei uns auf und kochte die unterschiedlichsten köstlichen Fleischgerichte. Ständig schwappten scharfe Marinaden in durchsichtigen Behältern im Kühlschrank – sämige rote und gelbe Mischungen mit rohem Fleisch darin, das nach kurzer Back- oder Brat- oder Grillzeit einfach fantastisch schmeckte. Nader sah ziemlich idiotisch aus, wenn er ohne Hemd, aber mit Kopfhörern auf den Ohren in der Küche stand, eine Zigarette zwischen die Lippen geklemmt und eine Pfanne mit Brokkoli in der Hand, doch dann wendete er sämtliche Röschen wundersamerweise mit einem lockeren Schnippen aus dem Handgelenk, sodass kein einziges anbrannte. Manchmal bat er mich, eine Prise Kurkuma zuzugeben, und wenn ich es tat, verzog er das Gesicht. »Eine Prise, Kleine, eine Prise!« Als wäre eine Prise eine genaue Mengenangabe. »Nenn mich nicht Kleine«, sagte ich dann, »und eine Prise ist keine wissenschaftliche Maßeinheit.«
Ich wollte, dass Nader wieder verschwand. Mir war vage bewusst, dass Maman und Baba sich hatten scheiden lassen, weil Baba nicht bereit gewesen war, sein Dorf zu verlassen, seine Stellung, seine Wurzeln, sein Opium aufzugeben. Nachdem Maman im Iran immer stärker in Gefahr geraten war, blieb ihnen keine andere Wahl, als getrennte Wege zu gehen. Außerdem hatte Baba ihr bei der Flucht geholfen, und wie hätte er, wären sie verheiratet geblieben, bei den stundenlangen Vernehmungen danach seine Beteiligung abstreiten sollen? Ich verstand die Lage, wenn auch nur widerwillig. Und es lag nicht an einem Gefühl der Loyalität Baba gegenüber, dass ich diesen neuen Mann unsympathisch fand – Nader nervte einfach.
Wenn ich als Heranwachsende mit Baba telefonierte, bat er mich immer um Geschichten und Fotos, vor allem Fotos. »Schick mir alle, die ihr doppelt habt. Egal, was drauf ist, nicht bloß die besonderen.« Und wenn wir seinem Wunsch nicht nachkamen, ließ er sich Vorwände einfallen: Er brauchte irgendein Dokument oder wollte eine bestimmte Zeitschrift lesen oder bat um eine besondere amerikanische Feuchtigkeitscreme. Maman machte sich stets die Mühe, ihm diese Dinge zu schicken, und wenn er ihr seine Listen durchgab, schob er nach: »Bitte pack Fotos von den Kindern dazu. Nicht vergessen.«
Später, als Maman immer mehr zu tun hatte mit ihren zwei Jobs und der Kirche und der Abendschule, als ich mit der Highschool und dem Schwimmen und den ersten Vorbereitungskursen fürs College anfing, gaben wir nur noch Pakete auf, um ihm seine Kompressionsstrümpfe zu schicken, weil wir wussten, dass Baba wirklich schlimme Krampfadern in den Beinen hatte. Wir stellten uns vor, wie er älter wurde in diesem Land, wo solche Dinge nicht so leicht verfügbar sind und die Menschen sich einfach mit dem Leiden abfinden. Also rief Baba alle paar Wochen an. »Bitte schickt mir noch mehr von diesen speziellen engen Strümpfen«, sagte er. Und dann: »Vielleicht könnt ihr noch einen Stapel Fotos dazulegen. Wo habt ihr die letzten gemacht? Ist das eine gute Geschichte?«
Es wäre ungerecht zu sagen, dass ich meinen Baba mit vierzehn vergessen hatte. Ich dachte oft an ihn. Aber ich hatte aufgehört, ihn zu vermissen, und noch bevor er seinen Besuch ankündigte, hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dass er nachkommen würde. Es schien immer wahrscheinlicher, dass er das niemals tun würde und dass die Versprechungen meiner Eltern während der ersten Monate nach unserer Flucht größtenteils Lügen gewesen waren. Ich wuchs zum Teenager heran. Ich machte mir ständig Sorgen um meine Zukunft. Ich wollte mich unbedingt verlieben, und ich wollte mich unbedingt nicht verlieben, weil ich wusste, dass ich aus Oklahoma fliehen musste, wie meine Mutter aus dem Iran geflohen war.
Und jetzt hatte Baba wie durch ein Wunder ein Touristenvisum ergattert, um uns besuchen zu können, und ich hegte die stille Hoffnung, dass er für immer bei uns bleiben würde – Baba und ich würden das natürlich heimlich deichseln müssen, wie früher, wenn wir Windbeutel ins Haus geschmuggelt hatten; Maman hatte nichts davon gesagt. Wir erreichten den Will Rogers World Airport etwas zu früh, fühlten uns nicht wohl in unserer Haut, in unserer Kleidung und mit unseren Frisuren. Wir warteten im Terminal, bis seine Maschine, die aus New York kam, gelandet war. Als die ersten Passagiere von der Gepäckausgabe kamen, manche von ihnen noch frisch nach einer kurzen Reise, andere übermüdet nach langen, internationalen Flügen, spürte ich, wie meine Beine zitterten. Ich wünschte mir sehnlichst, dass er der nächste Passagier sein würde, der auftauchte. Jedes Mal, wenn ich den Schatten eines erwachsenen Mannes sah oder jemanden, der einen mir vertrauten Gang hatte oder viel Gepäck, war ich mir sicher, dass er es war, und meine rechte Hand schnellte hoch zu meinem rechten Ohr. Falls es eine beruhigendere Geste gibt, als sich am Ohrläppchen zu zupfen, so habe ich die bislang noch nicht entdeckt, und während jener ersten Jahre in der Emigration entwickelte sich diese Angewohnheit zu einem neuen Tick. Maman nahm meine Hand und drückte sie sich an die Brust, und wir warteten weiter.
Schließlich überraschte er uns und kam als Letzter heraus, zusammen mit den Flugbegleiterinnen, die er mit seinem breiten, bärtigen Honigkuchenpferdgrinsen anlächelte, als sie ihm seine vier Feuerzeuge und ein Streichholzbriefchen überreichten. »Er ist kleiner«, flüsterte ich Maman zu. Sie verbot mir nicht den Mund, sagte auch nicht, ich sollte mich benehmen. Sie sah Baba nur staunend an und sagte: »Du bist größer
Als er uns entdeckte, lachte er erschöpft, breitete die Arme aus und versuchte, uns alle drei gleichzeitig hochzuheben. Es war eine ungeschickte Aktion, und einige Passanten musterten uns erstaunt, aber er war nicht zu stoppen. Babas Freude war wie ein Gepäckstück, das eine steile Rolltreppe herunterpoltert. Man versucht nicht, etwas von so viel Masse und Dynamik zu stoppen. Man springt einfach zur Seite. Er lachte und weinte, wischte sich mit einer großen behaarten Hand über die Augen, zog eine Riesenshow ab. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Baba je so laut war, so hemmungslos. Rote Büschel sprossen aus seinem Hemd, das bis zur Brust aufgeknöpft war. Sein Haar war zerzaust, und jetzt, da ich größer war, konnte ich zwischen den babyweichen Strähnen, die er noch immer lang und jugendlich geschnitten trug, die kahle Stelle am Hinterkopf sehen.
»Ist das meine Nilou?«, flüsterte er und legte eine verschwitzte Hand an meine Wange. Irgendwie verließen mich schlagartig die Worte, und ich stand stumm da, ohne Hallo zu sagen, oder: Es ist schön, dich zu sehen, Baba-dschun, wie ich es geübt hatte. Als er meine Wange berührte, wollte ich zurückspringen, nicht, weil seine Hand feucht war, sondern aus einem vergessenen Instinkt heraus, einer alten Angst. Aber ich lächelte. Er sagte: »Nilou khanom, du bist so groß.« Er sah mich lange an, und als ich das Schweigen gerade durchbrechen und Hallo sagen wollte, dröhnte er los: »Ha, du hast ja richtige Schneidezähne! Lass mal sehen.« Er machte Anstalten, mir einen Finger in den Mund zu stecken, aber ich wich zurück. Offenbar stand mir das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, denn sein Blick glitt rasch hinunter zu seinen Schuhen. Er ließ die Hand sinken und sagte: »Du bist sehr erwachsen, Nilou-dschun.« Er klang verletzt, aber ich sagte mir, dass auch ich meine Grenzen hatte, und ich wollte auf keinen Fall leisen nächtlichen Gesprächen darüber lauschen, dass ich zum Kieferorthopäden müsste oder mir frühzeitig die Weisheitszähne ziehen lassen sollte. Nein. Ich war vierzehn. Ich wollte, dass man mir die Hoheit über meinen Körper ließ.
Baba wandte sich Maman zu. »Salam, Pari-dschun«, sagte er mit sanfter, tiefer Stimme, als würde er eine Trauernde auf einer Beerdigung begrüßen. Sie umarmten sich stumm, während Kian und ich von einem Bein aufs andere traten, an unseren Rucksäcken herumhantierten, Fäden aus unseren ausgefransten Shorts zogen. Baba schüttelte Kian die Hand, ein stolzes, leises Lächeln im Gesicht, und wir gingen zum Wagen.
Baba ging, ohne zu überlegen, auf die Fahrerseite, und dann kam ein verlegener Moment, als er und Maman die Plätze tauschten. »Jetzt darf ich vorne sitzen«, erklärte Kian.
»Dein Baba sitzt vorne«, sagte Maman. Ihre Stimme war tonlos und so emotionsfrei, als würde sie Kinder in einen Bus scheuchen.
»Ich setze mich nach hinten zu Nilou«, sagte Baba. Zuerst war ich beklommen. Also erkundigte ich mich nach Onkel Ali, um die Anspannung loszuwerden – wie ging es ihm? Hatte er eine Freundin? Fragte er noch nach mir? Wusste er, dass ich jetzt Schneidezähne hatte? Baba lachte. »Du fehlst ihm sehr«, sagte er. »Und er hat alle deine Fotos gesehen. Ich hab sie ihm gezeigt.«
Den Rest der Fahrt stellte er mir Fragen. Nach der Schule, nach meinen Zähnen, meinen Lieblingsfächern, wie gut ich in Naturwissenschaften war. Darüber sprach ich gern, weil es ein sicheres und konkretes Thema war. »Pari.« Mitten in meiner Aufzählung von vulkanischen Felsen sah Baba zu Maman nach vorne. »Wieso hat Nilou einen Akzent?«
»Ich hab keinen Akzent!«, widersprach ich, weil sie schon wieder über mich redeten, als wäre ich ein kaputter Mixer.
»Sprichst du Farsi mit ihnen?«, wollte er wissen.
»Ja, wir sprechen Farsi«, sagte sie, »aber in der Schule sprechen sie Englisch.«
Er schnaubte und sah mich an, doch dann trat sein kindliches Grinsen wieder hervor wie ein schnell grassierender Ausschlag. »Liest du Gedichte?«, fragte er. Ich zuckte die Achseln. Er fing an, über den Wert von Lyrik zu dozieren, über die vielen verborgenen Bedeutungen seiner Lieblingsgedichte. Während er sprach, berührte er mich manchmal an Arm, Schulter oder Wange, als wäre ich ein Stück Seide, das er unbedingt kaufen wollte. Einmal zog er mich in eine Umarmung, die fast eine Minute lang dauerte. Dabei täts...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. Dr. Hamidis schwierige Scheidung
  7. Ich und Baba und Ardestun
  8. Der andere Dr. Hamidi
  9. Das Dorf zerfällt
  10. Erotic Republic
  11. Das erste Wiedersehen
  12. Hausarrest
  13. Die Gastfreundschaft der Holländer
  14. Das zweite Wiedersehen
  15. Eine Neujahrswelt
  16. Ein Süchtiger auf dem Dam
  17. Das dritte Wiedersehen
  18. Familiengründungen bei frühen Primaten
  19. Kleine Freuden wie Sauerkirschen
  20. Das vierte Wiedersehen
  21. Genau wie dein Baba
  22. Dorfbau
  23. Anmerkung der Autorin
  24. Über das Buch