Aufstand der Matrosen
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Aufstand der Matrosen

Tagebuch einer Revolution

  1. 224 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Aufstand der Matrosen

Tagebuch einer Revolution

Über dieses Buch

Es braut sich etwas zusammen in diesem Herbst 1918. Nach mehr als vier Jahren Krieg haben die Menschen es satt: das Kämpfen, das Hungern, das Sterben. Die alte Ordnung ist längst in Unordnung geraten. Der militärische Zusammenbruch steht unmittelbar bevor. Und doch flüstert man auf den großen Kriegsschiffen vor der deutschen Küste von einem letzten großen Plan, die deutsche Flotte in eine alles entscheidende Schlacht mit England zu schicken. Aber unter den Matrosen, die nun fürchten müssen, in einem sinnlosen Kampf verheizt zu werden, regt sich Widerstand. Dirk Liesemer führt dem Leser auf eindringliche Weise vor Augen, wie sich gehorsame Soldaten in "Sturmvögel der Revolution" verwandelten, wie aus einem Matrosenaufstand eine landesweite Revolution wurde, die Deutschland für immer veränderte.

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Information

Freitag, 1. November

Kiel

Am Vormittag dürfen die fünftausend Matrosen und Heizer des III. Geschwaders an Land übersetzen. Sie sollen sich die Zeit vertreiben, auf andere Gedanken kommen und die Meuterei vergessen. Überall in Kiel sind Blaujacken zu sehen. »Marine und wieder Marine, Matrosen als Kellner, als Friseure, als Bademeister und als Musiker, Matrosen zu Pferd, Matrosen auf dem Kutschbock, auf der Post und hinterm Ladentisch«, so beschreibt es der Seeoffizier Hans Gustav Bötticher. Jeder hier lebt von der Marine, die Schuster und Schneider, die Friseure und Kramer, die Hoteleigner und Sektlieferanten. Die Matrosen laufen meist in weißen Leinenuniformen mit einem blau-weißen Kragen umher. Auf dem Kopf tragen sie eine Tellermütze, in die der Name ihres Schiffs eingestickt ist. Doch den Männern des III. Geschwaders ist heute nicht nach Bummelei. Am Nachmittag sammeln sich rund 250 von ihnen im Gewerkschaftshaus und diskutieren stundenlang über ihre festgenommenen Kameraden. Sie wollen nicht zur Tagesordnung übergehen, solange die Freunde eingesperrt sind und erschossen werden könnten. Was aber ist zu tun, wenn ihre Schiffe wieder auslaufen sollen? Morgen wollen sie sich erneut treffen und entscheiden.

Berlin

Irgendwem müssen die jungen Männer und auch die vielen Kisten aufgefallen sein. Cläre Casper hält erschrocken inne. Mit der Post hat sie gerade eine Vorladung erhalten. Sie soll zur Vernehmung in die Abteilung IA kommen, zur politischen Polizei. So schnell wie möglich müssen all die Waffen aus ihrer Wohnung in Charlottenburg fortgeschafft werden, vierhundert Pistolen und 20 000 Schuss Munition.
Cläre Casper hätte es sich denken können, dass man sie im Auge hat. Hatte sie sich doch im Januar beim großen Streik der Munitionsarbeiter hervorgetan, der fast in einer Revolution gemündet wäre. Damals demonstrierten im ganzen Land Hunderttausende Menschen. Allein in Berlin verschwanden anschließend Tausende im Zuchthaus, viele andere mussten an die Front. Seit jenen Januartagen ist sie sich sicher, dass man nur mit Waffen etwas verändern kann. Sie trat der Partei der Unabhängigen bei und wurde als einzige Frau in den inneren Kreis der Revolutionären Obleute aufgenommen. Im Sommer erfuhr sie dann von einem thüringischen Genossen in Suhl, der Waffen beschaffen könne, und bot ihre Wohnung als Zwischenlager an. Seither nimmt Cläre Casper regelmäßig Pistolen und Munition entgegen, bis diese von zwei jungen Männern abgeholt werden. Von der Wohnung aus schleppen sie die Waffen in Kästchen verpackt zu einem Pferdefuhrwerk, das ein paar Häuser entfernt steht. Mit diesem werden sie zu Verschwörern überall in der Stadt gebracht.
Jetzt kramt Cläre Casper selbst Kisten hervor und packt die Pistolen dicht an dicht. Als die beiden Männer endlich eintreffen, hilft sie ihnen, die schweren Kisten auf den Rücken zu wuchten, und steckt jedem eine Brotstulle in die Manteltasche.
Wenig später sitzt die gerade einmal vierundzwanzigjährige Frau vor einem Polizisten, der ihr aus einem anonymen Schreiben vorliest. Ihr Herz pocht wie selten zuvor. Aus ihrer Wohnung, heißt es, würden Kisten mit Dynamit herausgetragen. Das könne nicht sein, entgegnet sie, weil sie sich viel zu sehr vor solchem Zeug fürchte. Deshalb habe sie auch noch nie in einer Munitionsfabrik gearbeitet. Wie solle sie überhaupt an diese gefährlichen Dinge kommen? Ja, sie habe Kisten aus dem Haus getragen, aber darin seien Äpfel gewesen, die sie habe weiterverkaufen wollen, um etwas Geld zu verdienen. Schließlich weiß der Beamte auch nicht weiter und zeigt ihr den Brief. Er ist in einer ihr fremden Handschrift verfasst.
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Die Aufstände rücken auf Berlin zu. In der Zeitung liest Harry Graf Kessler, dass gestern der ungarische Ministerpräsident István Tisza Graf von Borosjenõ und Szeged in Budapest ermordet worden ist. Anders als die Regierung in Wien hatte er schon vor Kriegsbeginn brutal jegliche Interessen nationaler Minderheiten oder demokratischer Gruppen unterdrückt und galt daher bald als verlässlicher Partner der deutschen Regierung. Auch in Prag, Wien und Deutsch-Österreich gibt es Unruhen. Der Revolutionswind aus Wien werde, weil er aus einem anderen deutschsprachigen Lande komme, hierzulande stärker wehen als der russische, notiert Kessler. Noch halte die Front, aber alles spitze sich zu einer großen inneren Krise zu. Wenn Józef Piłsudski, so resümiert er nun im Bericht für die Reichsregierung, an die Spitze eines polnischen Heeres trete, dann werde der Pole auf jeden Fall den Befehlen seiner Regierung gehorchen, auch wenn diese Deutschland einen Krieg erkläre. Allerdings wünsche sich Piłsudski keinen solchen Krieg und werde deshalb wahrscheinlich mäßigend auf seine Regierung einwirken.

Spa

Welch dreiste Forderungen! »Nun ist es aber genug, ich denke gar nicht daran!« Empört spaziert Wilhelm II. mit dem preußischen Innenminister Bill Drews im weiten Garten der herrschaftlichen Villa La Fraineuse umher. Sie liegt mitten in einem Wald, in dem der Kaiser vorhin noch ein paar Bäume gefällt hat. Ein großer Teil der Menschen im Reich, so hat der Minister ihm eben auseinandergesetzt, wolle die Abdankung Seiner Majestät. Auch der Kronprinz solle auf den Thron verzichten. »Vater und Söhne denken gleich, entweder danken alle ab, oder keiner! Ersteres nur nach völligem Untergang«, setzt der Kaiser nach und droht: »Ich bin jetzt hier bei meiner Armee, wenn zu Hause der Bolschewismus kommt, stelle ich mich an die Spitze einiger Divisionen, rücke nach Berlin und hänge alle auf, die Verrat üben. Da wollen wir mal sehen, ob die Masse nicht doch zu Kaiser und Reich hält!« Wenn er zurücktrete, wäre das der Anfang vom Ende aller deutschen Monarchien. Das sei mit seinen Pflichten als Nachfolger Friedrichs des Großen unvereinbar.
Nach dem Spaziergang wird der Innenminister von einem General so wütend niedergebrüllt, dass er schließlich klein beigibt und meint, er schildere doch nur die Stimmung im Lande. Ansonsten sei er glücklich, wie massiv sich der Kaiser wehre. Gegen die neuesten Machtverschiebungen, die von den kaiserlichen Beratern genau beobachtet werden, ist Wilhelm II. jedoch machtlos: Das Osmanische Reich hat harten Friedensbedingungen zugestimmt, und der Verfall Österreich-Ungarns lässt sich nicht aufhalten. Mittlerweile befürchtet man sogar, dass sich Bayern vom Deutschen Reich lossagen könnte.

Hamburg

Albert Ballin sitzt am Abend daheim im Arbeitszimmer seiner Villa im Stadtteil Rotherbaum. Er greift nach Stift und Briefpapier, um einem befreundeten Großadmiral zu schreiben. Vor ihm auf dem Schreibtisch steht eine kolossale Büste des Kaisers, des einstigen Freundes. Ballin ist müde, gebrochen und verbittert. Nicht erst seit heute. Bereits vor zwei Jahren, als ein letztes offizielles Foto von ihm geschossen wurde, hat er sich nicht mehr zu einem Lächeln aufraffen können. Mit Beginn des Krieges ist die Freude aus seinem Gesicht gewichen. Er ist blasser geworden, die Fältchen haben sich vertieft. Er fühlt sich von tiefer Melancholie erfasst, aus der er sich nicht lösen kann. Mehrfach schon meinte er beiläufig: »Es ist nichts mehr los mit mir, was ich erleben musste, war auch genug, ›to kill anybody‹.« Für alle Fälle liegt in der Schublade seines Schreibtisches eine Packung mit malachitgrünen Tabletten.
Bereits vor Jahren ahnte Albert Ballin einen monströsen Krieg zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich voraus. Die größte Seemacht der Welt musste sich von der immer größer werdenden deutschen Schlachtflotte herausgefordert fühlen. Zwei Jahre vor dem Krieg wäre es ihm beinah gelungen, zwischen beiden Staaten einen weitreichenden Vertrag auszuhandeln. Berlin hätte darin eine Beschränkung seiner Rüstung zugesichert, London dafür seine Neutralität erklärt. Der Vertrag scheiterte an einem winzigen Detail: Das Reich wollte nicht von einer geplanten Verstärkung der Mannschaften abrücken, was Großbritannien strikt ablehnte. »Man kann eine solche Armee und Marine nicht großzüchten, ohne dass sie von Zeit zu Zeit einmal zeigen will, was sie zu leisten vermag«, räsoniert Ballin im Brief an jenen Großadmiral. »Es ist der von mir so oft gebrauchte Vergleich, dass man die Kessel nicht jahraus, jahrein heizen kann, ohne dass der Tag kommt, an dem die Sicherheitsventile reißen und die Maschine von selber losgeht. Den Krieg haben wir gemacht, und der Kaiser, der als Sitzredakteur verantwortlich zeichnet, wird nicht umhinkönnen, abzudanken. Das hätte er schon vor einigen Wochen tun müssen. Strömen die Leute von der Front zurück, dann geht hier alles in Scherben. Der Kaiser ist nicht schuld an dem Krieg, aber das, was der Kronprinz, Tirpitz, Ihr Bruder, Helfferich und die führenden Alldeutschen mit Ludendorff geleistet haben, sollte nicht ungerächt bleiben. Wir haben uns ja alle vor der schreienden Meute verkrochen.«
Albert Ballin hat die größte Reederei der Welt geschaffen. Er ist Generaldirektor der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, kurz Hapag. Wo stünde seine Linienreederei, wenn dieser Krieg nicht erklärt worden wäre? So oft hat er darüber gegrübelt, wie lange sein Unternehmen noch existieren wird. Als man ihm im vergangenen Jahr zu seinem sechzigsten Geburtstag gratulieren wollte, teilte er mit: »Es erscheint mir so außerordentlich inopportun, dass man einem auf den Trümmern seines Lebenswerks sitzenden Mann durch Gratulation das Leben erschweren möchte.«
Von Anfang an war er gegen den Krieg und hatte deshalb selbst dann noch zwischen England und Deutschland zu verhandeln versucht, als die ersten Gefechte bereits begonnen hatten. Aber den Kaiser konnte er nicht vom Wahnsinn abhalten, »vom unsinnigsten aller Kriege«, wie Ballin es formulierte. Krieg und zivile Schifffahrt gehen nicht zusammen, davon war er überzeugt. Und wie wenig beides zusammenpasst, lässt sich beispielhaft an seinem Unternehmenssitz am Alsterdamm ablesen: Zu Friedenszeiten konnte jedes Kind den prachtvollen Firmensitz vom anderen Ufer der Binnenalster aus mit einem kurzen Blick erkennen. Auf dem Gebäude im Renaissancestil stand, ganz oben auf wilden bronzenen Rössern, ein sieben Meter hoher Neptun mit Dreizack, eine Skulptur des jungen Künstlers Ernst Barlach. Doch im Krieg wurde die Skulptur eingeschmolzen.
Mittlerweile rechnet Albert Ballin mit einem Umsturz. Seinen Mitarbeitern gegenüber hat er schon des Öfteren erklärt, wie sehr er sich vor einem Aufstand fürchte. »Wenn die Revolution kommt, wird man natürlich die Falschen hängen. Darüber bin ich mir ganz klar.« So oder so werde es keine große Freude mehr sein, in dieser neuen Welt zu leben. Seine Hapag werde bei einer Revolution zusammenbrechen. Solch eine Katastrophe wolle er nicht erleben.
Seit einiger Zeit klopfen die Herren vom Generalstab wieder an sein Büro. Sie hatten ihn als Flaumacher diffamiert, aber jetzt soll er retten, was sie verbrochen haben. Erst drängte man ihn, den Kaiser, von dem man ihn viele Jahre lang ferngehalten hatte, wieder aufzusuchen. Er sollte ihm bitte klarmachen, dass es mit seiner Herrschaft vorbei sei. Pikiert hatte Albert Ballin zunächst abgelehnt. Schließlich hat er sich doch aufgemacht und Wilhelm II. auf Schloss Wilhelmshöhe aufgesucht. Sie liefen durch den Bergpark, blickten die Wasserspiele hinauf zur Herkules-Statue, plauderten über dieses und jenes, passierten die mittelalterlich wirkende Löwenburg und wohl auch das versteckte Grab des kaiserlichen Dachshundes Erdmann unten am Schlossteich. Albert Ballin hatte den alten Freund von ein paar Dingen überzeugen wollen, von einer Verfassungsreform und einem umfassenden Zugeständnis an Amerika. Aber sie waren nie allein – nicht einen Moment lang. Nach dem Rundgang fühlte sich der Kaiser wie belebt, Ballin aber, den seine Gegner zuletzt als »abgewimmelten Wasserjuden« verspottet hatten, war völlig niedergeschlagen.
Jetzt soll Albert Ballin eine weitere heikle Mission übernehmen. Erst kürzlich stand deshalb der Großindustrielle Hugo Stinnes, der reichste Mann Europas, in seinem Büro. Sie blickten durchs Fenster auf die Alster. Segelboote schaukelten im Wind. Er komme im Namen des Generalkommandos, erklärte Stinnes. Man habe darüber gesprochen, welcher Deutsche am besten mit den Amerikanern über einen Frieden verhandeln könne. Alle seien sie sich einig, das Generalkommando, die Leute vom Zentrum und die Sozialdemokraten. Sie alle wollten, dass er, Ballin, die Gespräche führt. Er sei doch Jude und habe sich so vehement wie laut gegen einen U-Boot-Krieg ausgesprochen, der ja schließlich zum Kriegseintritt Amerikas geführt hat. Keinen anderen Deutschen würden die Feinde deshalb als Gesprächspartner akzeptieren. Er kneife nicht, gab Albert Ballin am Ende nach, aber jedem anderen überlasse er diese Verhandlungen lieber.

Samstag, 2. November

Kiel

Der Werftarbeiter Karl Artelt läuft durch die Straßen zum Gewerkschaftshaus, wo er sich mit Matrosen und Werftarbeitern verabredet hat. Zunächst wollen sie einem Zauberkünstler zugucken, anschließend von der Bühne herab spontan den Ort für ein geheimes Treffen verkünden. Artelt ist ein kräftiger Mann, siebenundzwanzig Jahre alt, mit akkuratem Schnurrbart, jungenhaften Augen und einer markanten Stimme. Vor dem Krieg ist er als Matrose bis nach Ostasien gekommen, wo er von seinem Schiff aus begeistert die chinesische Revolution von Sun Yat-sen beobachtete. Als überzeugter Pazifist verehrt er August Bebel für den Satz: »Diesem System keinen Mann und keinen Groschen.«
Im vergangenen Jahr saß Karl Artelt erst im Gefängnis und dann in einer Nervenheilanstalt, weil er Werftarbeiter zu einem Protest angestachelt hatte. Seit seiner Freilassung muss er als Kolonnenführer in der Pumpenabteilung einer Werft arbeiten. Mittlerweile sammelt er wieder Verschwörer um sich. Doch es ist schwierig, andere vom Kampf gegen das System zu überzeugen. Auf der Kaiserlichen Werft etwa brüsten sich die Arbeiter, noch nie gestreikt zu haben.
Das Gewerkschaftshaus ist heute jedoch von Polizisten abgeriegelt worden. Kein Matrose, Heizer oder Werftarbeiter darf ins Innere. Jemand muss das geplante Treffen ausgeplaudert haben. Als sich Hunderte Menschen vor der Absperrung sammeln, machen sie sich gemeinsam auf die Suche nach einem anderen Ort und laufen schließlich hinüber zum Exerzierplatz Viehburger Gehölz. Gegen halb acht sind sie rund sechshundert Matrosen, Heizer, Werftarbeiter, Schaulustige, darunter auch ein Bonbonhändler namens Lothar Popp, der als Pazifist bekannt ist.
Von ferne schauen Polizisten zu, als Karl Artelt mitten auf dem Platz auf einen Kieshaufen steigt. Von oben herab fordert er: Schluss mit dem Militarismus, fort mit den Herrschern – notfalls mit Gewalt! Und er ruft für morgen zu einer neuen, größeren Versammlung auf. Während sich die Menge auflöst und die Seeleute zu ihren Schiffen zurückkehren, haben bereits Soldaten den Befehl erhalten, die Heizer und Matrosen festzunehmen. Von Weitem rufen sie diesen jedoch zu: »Wir tun niemand was, lauft weg, wir sollen euch fangen.« Zurück auf ihren Schiffen, erzählen die Seeleute ihren Kameraden, was sie an Land erlebt haben.
Unterdessen laufen Karl Artelt und Lothar Popp zum Parteibüro in der Preußerstraße. Sie kennen sich seit gut einem Jahr. Beide glauben nicht mehr an das Reich oder den Krieg. Für seine Überzeugungen hat auch der einunddreißigjährige Popp schon eingesessen. Während der landesweiten Streiks im Januar hatte man ihn auf dem Wilhelmsplatz zum Vorsitzenden eines Soldatenrates bestimmt. Weil Lothar Popp das Wort ergriffen hatte, wurde er mit zwei Monaten Gefängnis bestraft. Ein Parteifreund erhielt gleich zwei Jahre, nur weil er gesagt hatte, man müsse den Herren die Brocken vor die Füße werfen.
Im Parteibüro der Unabhängigen verfassen die beiden Verschwörer gemeinsam Flugblätter, um sie morgen früh an Soldaten und Arbeiter zu verteilen: »Kameraden, schießt nicht auf Eure Brüder!...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Krieg – Revolution – Demokratie: Schicksalstage 1918
  6. Montag, 28. Oktober
  7. Dienstag, 29. Oktober
  8. Mittwoch, 30. Oktober
  9. Donnerstag, 31. Oktober
  10. Freitag, 1. November
  11. Samstag, 2. November
  12. Sonntag, 3. November
  13. Montag, 4. November
  14. Dienstag, 5. November
  15. Mittwoch, 6. November
  16. Donnerstag, 7. November
  17. Freitag, 8. November
  18. Samstag, 9. November
  19. Sonntag, 10. November
  20. Montag, 11. November
  21. Dienstag, 12. November
  22. Ausblick
  23. Zitatverzeichnis
  24. Literaturverzeichnis
  25. Dank
  26. Register
  27. Über das Buch