Silas Marner
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Silas Marner

Der Weber von Raveloe

  1. 260 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Silas Marner

Der Weber von Raveloe

Über dieses Buch

Der junge Leinenweber Silas Marner verliert durch eine Intrige seines besten Freundes nicht nur seine Verlobte, sondern auch seinen Platz in der Gemeinde. Er sieht sich gezwungen, seine nordenglische Heimat zu verlassen, und zieht in das kleine Bauerndorf Raveloe. Dort erwartet ihn, der auch hier zum Außenseiter wird, ein bescheidenes, von Arbeit geprägtes Dasein. Als ihm sein gesammelter Goldschatz und damit sein letzter Lebensinhalt genommen wird, scheint er endgültig ein gebrochener Mann. Doch auf wundersame Weise kommt ein Findelkind in sein Haus – und öffnet ihm die Augen für die Schönheit der Welt. Als sich der Vater des Mädchens zu erkennen gibt, droht dieses Glück aber erneut in Gefahr zu geraten … Mit erzählerischer Raffinesse und psychologischem Feingefühl verknüpft George Eliot die schicksalsträchtige Existenz ihrer Hauptfigur zu einer bewegenden Geschichte um die Licht- und Schattenseiten des Menschseins.

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Information

Silas Marner
ERSTER TEIL
1
In jenen Tagen, als in den Pächterhäusern noch emsig die Spinnräder schnurrten – und selbst vornehme Damen, angetan mit Seide und Zwirnspitze, ein poliertes Eichenrädchen in der Stube stehen hatten –, konnte es geschehen, dass man in abgelegenen Gegenden auf den Heckenwegen oder im Schutze der Hügel auf gewisse bleiche, kleingewachsene Männer traf, die neben dem stämmigen Landvolk wie die letzten Überlebenden eines enterbten Geschlechts erschienen. Der Hund des Schäfers schlug laut an, wenn einer dieser fremdartig aussehenden Gesellen sich auf dem Hochland zeigte, dunkel vor dem frühen winterlichen Sonnenuntergang; denn welchem Hund hätte je der Anblick einer unter einem schweren Sack gebückten Gestalt gefallen? – diese blassen Menschen nämlich machten sich fast nie ohne solch eine geheimnisvolle Last auf den Weg. Der Schäfer selbst hatte zwar allen Grund zu der Annahme, dass der Sack nichts weiter enthielt als Leingarn oder auch die dicken Ballen festen Leinens, das daraus gefertigt wurde, aber deshalb hätte er doch nicht schwören mögen, dass das Gewerbe des Leinwebens, so unentbehrlich es sein mochte, so ganz ohne den Beistand des Leibhaftigen auskam. In dieser fernen Zeit heftete sich der Aberglaube schnell an jede Person und jedes Ereignis, das in irgendeiner Weise ungewohnt war, und sei es nur deshalb, weil es unregelmäßig oder in größeren Abständen wiederkehrte, wie die Besuche des Hausierers oder des Scherenschleifers. Niemand wusste, wo diese Fahrenden zu Hause waren und woher sie stammten; und wie sollte man einen Menschen einschätzen, wenn man nicht wenigstens jemanden kannte, der wiederum dessen Vater und Mutter kannte? Für die Bauern der damaligen Zeit war die Welt außerhalb ihrer eigenen unmittelbaren Erfahrung eine Region der Zweifel und Geheimnisse; ihrem beschränkten Horizont schien jegliches nichtsesshafte Leben in ein ebensolches Dunkel gehüllt wie das Winterquartier der Schwalben, die mit dem Frühling zurückkehrten, und selbst ein Siedler wurde, wenn er nur von weit genug herkam, zeit seines Lebens mit einem Rest von Misstrauen betrachtet, sodass niemand überrascht gewesen wäre, wenn er nach langen Jahren des untadeligen Verhaltens plötzlich ein Verbrechen begangen hätte – zumal dann, wenn man ihm besondere Kenntnisse nachsagte oder er sich durch handwerkliches Können hervortat. Jegliche Gewandtheit, sei es im flinken Gebrauch jenes schwierigen Instruments, der Zunge, sei es in einer anderen Kunst, in der die Dorfbewohner nicht bewandert waren, galt an sich schon als verdächtig: Anständige Leute, deren Werdegang jedermann von Geburt an mitverfolgt hatte, waren zumeist nicht überklug oder gewitzt – zumindest nicht über die Fertigkeit hinaus, das Wetter vorherzusagen. Und wie irgendein Mensch sich Schnelligkeit und Gewandtheit jedweder Art aneignen konnte, war ihnen so durch und durch schleierhaft, dass sie gleich Zauberei dahinter vermuteten. So kam es, dass diese versprengten Leinweber – Städter allesamt, die es aufs Land verschlagen hatte – von ihren ländlichen Nachbarn bis an ihr Lebensende als fremdartige Wesen angesehen wurden und in der Regel auch die exzentrischen Gewohnheiten annahmen, die ein Leben in Einsamkeit mit sich bringt.
Zu Anfang dieses Jahrhunderts ging solch ein Leinweber mit Namen Silas Marner seinem Beruf in der Nähe des Dorfes Raveloe nach, in einer von Haselbüschen umstandenen Steinhütte am Rande eines stillgelegten Steinbruchs. Das befremdliche Geräusch von Silas’ Webstuhl, das so völlig anders klang als der fröhliche Trott der Worfelmaschine oder der einfachere Rhythmus des Dreschflegels, übte eine angenehm gruselige Faszination auf die Buben von Raveloe aus, die häufig ihren Haselnüssen oder Vogelnestern den Rücken kehrten, um durch das Fenster der Steinhütte zu spähen – wobei sie eine leichte Beklemmung beim Anblick der geheimnisvollen Bewegungen des Webstuhls dadurch bekämpften, dass sie seine wechselnden Geräusche und die gebückte Haltung des Webers am Tretwerk nachäfften; das verlieh ihnen ein wohltuendes Gefühl verachtungsvoller Überlegenheit. Manchmal jedoch geschah es, dass Marner seine Arbeit unterbrach, um eine Unregelmäßigkeit im Gewebe zu beheben, und dabei die kleinen Strolche bemerkte. Er hielt zwar sehr mit seiner Zeit haus, aber dieses Eindringen missfiel ihm derartig, dass er vom Webstuhl herabstieg, um die Tür zu öffnen und die Kinder mit einem Blick zu bedenken, der sie entsetzt davonrennen ließ. Wie sollten sie sich denn auch vorstellen können, dass diese großen, vorquellenden braunen Augen in Silas Marners bleichem Gesicht nichts erkennen konnten, was sich nicht in allernächster Nähe befand – wo es doch auf der Hand lag, dass ihr grausiges Stieren dem Jungen, der gerade das Schlusslicht bildete, Krämpfe, Rachitis oder Schiefmäuligkeit anhängen würde? Vielleicht hatten sie Vater oder Mutter andeuten hören, dass Silas Marner, wenn er geneigt war, den Rheumatismus zu heilen wisse, oder dunkler noch, dass er einem die Arztkosten sparen könne, wenn man sich nur mit dem Teufel gutstellte. Auf solch merkwürdige, hartnäckig verweilende Nachklänge der alten Dämonenverehrung trifft der aufmerksame Zuhörer bei der grauhaarigen Landbevölkerung selbst heute noch; denn für einen unbedarften Geist ist die Vorstellung von Macht mit der des Wohlwollens nur sehr schwer zu vereinen. Menschen, die ihr Leben lang nur harte Arbeit und primitivste Bedürfnisse gekannt haben und deren Dasein nie durch religiöse Begeisterung erleuchtet worden ist, stellt sich das Unsichtbare am ehesten als eine schattenhafte Macht dar, die mit großer Überredungskunst unter Umständen davon abgehalten werden kann, Schaden zu wirken. Schmerz und Ungemach nehmen für solche Menschen weitaus vielfältiger Gestalt an als Freude und Genuss; ihrer Phantasie ermangelt es fast völlig an Bildern, die Begehren und Hoffung wecken, vielmehr ist sie überwuchert von Erinnerungen, die stets wieder nur die Furcht nähren. »Können Sie sich denn gar nichts vorstellen, was Sie gerne essen würden?«, fragte ich einmal einen alten Tagelöhner, der seine letzte Krankheit durchmachte und all die von seiner Frau gereichten Speisen ablehnte. »Nein«, erwiderte er, »ich hab nie was andres gekannt wie einfache Kost, und die kann ich nicht mehr essen.« Die Erfahrungen eines ganzen Lebens hatten in ihm keinerlei Vorlieben geweckt, die ihm wenigstens einen Anflug von Appetit hätten vorgaukeln können.
Raveloe jedenfalls war ein Dorf, wo viele dieser alten Echos noch nachklangen, ohne dass sie von neuen Stimmen übertönt wurden. Dabei zählte es keineswegs zu jenen armen Gemeinden am Rande der Zivilisation – Heimstatt magerer Schafe und spärlich verstreuter Schäfer: Im Gegenteil, es lag in der fruchtbaren Ebene im Herzen jener Gegend, die wir so gerne als »Merry Old England« bezeichnen, und nannte Pächterhäuser sein Eigen, die, vom geistlichen Standpunkt aus betrachtet, höchstwillkommene Abgaben leisteten. Aber es duckte sich in eine behagliche, dicht bewaldete Senke, eine gute Reitstunde entfernt von jeder Chaussee, wo es die Töne des Posthorns ebenso wenig erreichten wie die der öffentlichen Meinung. Es war ein ansehnliches Dorf mit einer schönen alten Kirche und einem großen Kirchhof in der Mitte, und dazu ein paar großen Ziegelgehöften mit fest ummauerten Obstgärten und verzierten Wetterhähnen, die dicht an der Straße standen und mit noch imposanteren Fassaden aufwarteten als das Pfarrhaus, das hinter dem Kirchhof zwischen den Bäumen hervorspitzte: ein Dorf, das sofort alle Höhepunkte seines gesellschaftlichen Lebens offenbarte und dem geübten Auge auf den ersten Blick verriet, dass es in der Nachbarschaft kein großes Herrenhaus mit dazugehörigem Park gab, dafür aber mehrere Grundbesitzer in Raveloe selbst, die ihr Land in aller Ruhe so schlecht bestellen konnten, wie sie nur wollten – das Geld, das ihnen ihre Misswirtschaft einbrachte, reichte in diesen Kriegstagen immer noch aus, um ausgelassen zu leben und ein fröhliches Weihnachten, Pfingsten und Ostern zu feiern.
Silas Marner war vor nunmehr fünfzehn Jahren nach Raveloe gekommen; damals war er einfach ein bleicher junger Mann mit vorstehenden, kurzsichtigen braunen Augen gewesen, dessen Erscheinung einem durchschnittlich gebildeten und welterfahrenen Menschen gar nicht weiter aufgefallen wäre. Aber auf die Dorfbewohner, in deren Nähe er sich niedergelassen hatte, machte er einen geheimnisvollen, absonderlichen Eindruck, der ihnen ganz zu der außergewöhnlichen Natur seines Gewerbes und der unbekannten Gegend seiner Herkunft »droben im Norden« zu passen schien. Sein Leben verlief folgendermaßen: Er lud keinen Besucher ein, den Fuß über seine Schwelle zu setzen; nie fand er den Weg ins Dorf, um ein Glas im Rainbow zu trinken oder beim Wagner ein Schwätzchen zu halten. Wenn nicht gerade die Geschäfte es erforderten oder er sich mit Mundvorrat eindecken musste, suchte er weder Mann noch Frau auf; und bald war es den jungen Mädchen von Raveloe klar, dass er niemals eine von ihnen gegen ihren Willen drängen würde, die Seine zu werden – es war, als hätte er mitangehört, wie sie erklärten, nichts könne sie je dazu bringen, einen von den Toten Auferstandenen zum Mann zu nehmen. Dieses letztere Bild von Marner hatte seinen Ursprung nicht allein in seinem blassen Gesicht und den eigenartigen Augen; Jem Rodney, der Maulwurfsjäger, behauptete nämlich, ihn eines Abends auf dem Heimweg gesehen zu haben, wie er an einem Zaunübertritt lehnte, einen schweren Sack bei sich, den er auf dem Rücken behielt, statt ihn auf dem Übertritt abzustellen wie jeder vernünftige Mensch. Im Näherkommen habe er, Jem, bemerkt, dass Marner mit stieren Augen blickte wie ein Toter; er habe ihn angesprochen und ihn geschüttelt, doch seine Glieder seien steif gewesen, und seine Hände hätten den Sack umklammert, als wären sie aus Eisen; aber just, als er zu dem Schluss gekommen war, der Weber sei tot, habe der sich erholt, und zwar im Handumdrehen, habe ihm eine gute Nacht geboten und sei davonmarschiert. All das hatte sich wirklich so zugetragen, das schwor Jem, und zwar wusste er es deshalb so genau, weil es an dem Tag gewesen war, an dem er auf dem Land von Squire Cass Maulwürfe gejagt hatte, unten bei der alten Sägegrube. Manche meinten, Marner müsse einen »Anfall« gehabt haben, ein Wort, das Dinge zu erklären schien, die sich auf andere Weise nicht fassen ließen; aber der Küster des Kirchspiels, der streitbare Mr Macey, schüttelte den Kopf und verlangte zu wissen, ob man je von jemandem gehört habe, der einen Anfall gehabt habe und dabei nicht zu Boden gefallen sei. Ein Anfall war schließlich ein Schlag, oder etwa nicht, und ein Schlaganfall raubte einem Menschen bekanntlich die Herrschaft über einen Teil seiner Gliedmaßen, sodass die Gemeinde für ihn aufkommen musste, es sei denn, er hatte Kinder, die für ihn sorgten. Nein, nein, ein Schlaganfall war das nicht, wenn der Mann noch auf den Beinen blieb wie ein Pferd an der Deichsel und dann davonmarschierte, kaum dass man »Hü!« gerufen hatte. Aber es sollte ja auch vorkommen, dass sich die Seele vom Körper loslöste und aus- und einfuhr, wie ein Vogel aus dem Nest fliegt und wieder zurück; so war schon manch einer überklug geworden, denn in diesem hüllenlosen Zustand gingen die Leute zur Schule bei denen, die ihnen mehr beibringen konnten, als ihre Nachbarn mithilfe ihrer fünf Sinne und des Pfarrers je lernen würden. Und woher hatte Meister Marner sein Wissen über die Kräuter – und die Zaubersprüche, wenn er sie denn preisgeben wollte? Jem Rodneys Geschichte überraschte ja wohl keinen, der mitangesehen hatte, wie Marner Sally Oates kuriert und sie zum Schlafen gebracht hatte wie ein Kind in der Wiege, damals, als sie ein solches Herzrasen gehabt hatte, dass es ihr fast die Brust zersprengt hätte, und das über zwei Monate hinweg, trotz aller Bemühungen des Doktors. Wenn er wollte, konnte er gewiss noch mehr Leute kurieren; aber auch so stellte man sich besser gut mit ihm, und sei es nur, damit er einem nichts auf den Leib wünschte.
Nicht zuletzt dieser unbestimmten Furcht hatte Marner es zu verdanken, dass er vor den Nachstellungen, die seine Eigenheiten andernfalls auf sich hätten ziehen können, verschont blieb. Entscheidender noch war freilich, dass der alte Leinweber in der Nachbargemeinde Tarley gestorben war, sodass Silas’ Handwerk ihn zu einem hochwillkommenen Ansiedler machte, nicht nur bei den reichen Hausfrauen der Gegend, sondern auch bei den wohlhabenderen Häuslern, die zum Jahresende einen kleinen Garnvorrat angesammelt hatten. Das Bewusstsein, auf ihn angewiesen zu sein, wirkte jeglicher Abneigung oder Skepsis entgegen, solange der Stoff, den er für sie webte, nicht falsch bemessen war oder sonst einen Mangel aufwies. Und die Jahre waren verstrichen, ohne in der Einstellung der Nachbarn gegenüber Marner irgendeinen anderen Wandel herbeizuführen als den von der Neuheit zur Gewohnheit. Am Ende der fünfzehn Jahre sagten die Einwohner von Raveloe genau dieselben Dinge über Silas Marner wie am Anfang: Sie sagten sie nicht mehr ganz so oft, dafür aber mit umso größerer Überzeugung. Eine wichtige Ergänzung nur hatten die Jahre gebracht: dass Meister Marner nämlich irgendwo eine hübsche Summe beiseite gelegt habe, und dass er »gewichtigere Männer« als sich selbst aufkaufen könne.
Doch während die Ansichten über ihn beinahe gleich geblieben waren und seine täglichen Gewohnheiten kaum eine sichtbare Änderung zeigten, hatte Marners Innenleben mit der Zeit eine Verwandlung erfahren, wie sie bei jedem empfindungsstarken Menschen zu erwarten steht, wenn er in die Einsamkeit geflohen oder zur Einsamkeit verdammt ist. Vor seiner Ankunft in Raveloe war sein Dasein erfüllt gewesen von dem regen Gefühls- und Geistesleben und der engen Kameradschaft, durch die damals wie heute das Leben eines Handwerkers geprägt wird, der von klein auf in eine festgefügte religiöse Sekte eingebunden ist, in der noch der ärmste Laie Gelegenheit erhält, sich durch das Mittel der Sprache hervorzutun, und allermindestens das Gewicht eines stummen Wählers in der Führung seiner Gemeinschaft hat. Marner war hoch geachtet gewesen in dieser kleinen, verborgenen Welt, die sich die Kirche vom Lantern Yard nannte; man sah in ihm einen jungen Mann mit beispielhaftem Lebenswandel und glühendem Glauben; und seit er bei einer Gebetsversammlung in eine merkwürdige Starre und Bewusstlosigkeit verfallen war, die, da sie mindestens eine Stunde angedauert hatte, fälschlich für seinen Tod gehalten worden war, galt ihm ein besonderes Interesse. Eine medizinische Erklärung für dieses Phänomen zu suchen, hätte für Silas wie für den Prediger und die anderen Mitglieder ein vorsätzliches Sich-Verschließen vor einer möglichen spirituellen Bedeutung des Erlebnisses dargestellt. Ganz offensichtlich war Silas ein Bruder, an den eine besondere Berufung ergangen war; und obwohl die genauere Auslegung dieser Berufung dadurch erschwert wurde, dass Silas sich keinerlei religiöser Vision während seiner äußerlichen Trance entsinnen konnte, so waren doch er und die anderen fest davon überzeugt, dass die Wirkung sich in einem Zuwachs von Einsicht und Glaubenseifer bemerkbar machte. Ein weniger wahrheitsliebender Mensch als Silas wäre vielleicht versucht gewesen, im Nachhinein eine Vision zu erfinden, indem er so tat, als kehre s...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Inhalt
  3. Silas Marner
  4. Nachbemerkung der Übersetzerinnen
  5. Editorische Notiz
  6. Nachwort
  7. Die Autorin