Nackt
  1. 160 Seiten
  2. German
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eBook - ePub

Über dieses Buch

Ein Kleid aus Honig bildet den Höhepunkt der Herbstkollektion, die Marie in Tokyo präsentiert. Nackt, nur mit glänzender Süße überzogen, schreitet das Mannequin über den Laufsteg, gefolgt von einem lebenden Bienenschwarm. Ein erhabener und doch fragiler Moment, der erst Perfektion erlangt, als die minutiöse Planung dramatisch scheitert... Mit dieser umwerfenden Szene beginnt der neue Roman von Jean-Philippe Toussaint um die Modeschöpferin Marie Madeleine Marguerite de Montalte.Am Ende des gemeinsamen Sommers wartet der Erzähler vergeblich am Fenster seiner Pariser Wohnung auf ihren Anruf. Seine Erinnerung führt ihn zurück zu der Nacht in Tokyo, als er Marie durch ein Fenster auf dem Dach eines Museums beobachtete und ihr in Gedanken sagte, was er nicht laut auszusprechen wagt - dass er sie liebt, auch später nicht, vielleicht aus Angst, sein Bild von ihr, diese zerbrechliche Schichtung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, könnte unwiederbringlich zerfallen. Als sie ihn schließlich doch anruft, im herbstlichen Paris zwei Monate später, um ihn nach Elba einzuladen, wirkt Marie gegenwärtiger, wirklicher als je zuvor. Bei ihrer Ankunft liegt über der Insel nach einem Feuer in einer Schokoladenfabrik ein kakaogeschwängerter Schleier, den der Regen allmählich aus der Luft wäscht. Und noch etwas stimmt nicht: Jemand ist in Maries Schlafzimmer eingedrungen. Dort, im Dunkeln des verlassenen Haus- es, endet das stetige Umkreisen der Liebenden in einer entblößten Empfindung, die zugleich jeder Entzauberung entgeht.Im vierten und letzten Teil des Romanzyklus um die Modeschöpferin Marie Madeleine Marguerite de Montalte zeigt Jean-Philippe Toussaint sich erneut als Meister des fiktiven Spiels. Mit der Überlappung von Ebenen der Wirklichkeit und Wahrnehmung und dem Verflechten von Zeiträumen entwirft er eine zarte, perfekt austarierte Kreation, an deren ozeanische Bewegung sich das Liebespaar schmiegt - das glänzende und hochliterarische Finale für Marie und den Erzähler.

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Herbst-Winter

I

Anfang September, nach dem großen Brand Ende des Sommers auf Elba, kehrten wir wieder nach Paris zurück, jeder von uns in seine eigene Wohnung, Marie in ihr Appartement in der Rue de la Vrillière und ich in mein kleines Zweizimmerappartement in der Rue des Filles-Saint-Thomas, wo ich seit unserer Trennung wohnte. Als ich aus dem Taxi stieg (wir hatten am Flughafen Roissy gemeinsam ein Taxi nach Paris genommen), war ich nicht in der Lage, den Gefühlen Ausdruck zu geben, die ich für Marie empfand – aber war ich jemals dazu in der Lage gewesen? Vielleicht hätte ich meinen Gefühlen, die ich empfand, als ich Marie nach den zwei glücklichen gemeinsamen Wochen auf Elba jetzt verlassen musste, freien Lauf geben können, wenn es in diesem Moment keinen Zeugen gegeben hätte (der Taxifahrer wartete hinter dem Steuer, um seine Fahrt in die Rue de la Vrillière fortzusetzen). Es kam zu einem kurzen Moment der Unentschlossenheit, ich betrachtete Marie, die auf der Rückbank des Taxis saß, und glaubte in ihrem Blick eine stumme Frage zu erkennen, als ob sie auf etwas wartete – eine letzte Geste, ein Bekenntnis –, aber ich sagte nichts mehr, hielt ihr nur die Hand hin. Ich drückte zärtlich ihr Handgelenk und streichelte es dabei, um ihr auf Wiedersehen zu sagen. Sie lächelte mich sanft an und sagte mit einem Anflug von belustigter Komplizenschaft und einer verträumten, verführerischen Stimme: »Du, sobald du mich mit der Hand berührst, mmmmhhh.«
In diesem Augenblick wusste ich es noch nicht, aber das war vielleicht das letzte Liebenswürdige, das sie mir in den kommenden zwei Monaten sagen würde. Als ich dann meine kleine Zweizimmerwohnung betrat, wieder auf dieses trübsinnige Grau in Grau eines Pariser Septembernachmittags stieß, befiel mich sofort eine tiefe Niedergeschlagenheit, als hätte ich schon das Nichtstun, das mich in den kommenden Tagen erwartete, vorweggenommen. Meine Reisetasche hatte ich am Eingang stehen gelassen und war durch das leere Appartement gegangen, hier und da standen im Flur noch Kartons herum, die ich seit meinem Umzug nicht angerührt hatte. In den düsteren Räumen roch es muffig, eine Mischung aus Feuchtigkeit von draußen und abgestandener Sommerhitze, die sich während meiner Abwesenheit aufgestaut hatte. Das Bett im Schlafzimmer war nicht gemacht, die Laken durcheinandergeworfen und verknittert, wie kleine Wellen aus weißer Baumwolle. Eine Schlafanzughose lag auf dem Boden herum, eine Mineralwasserflasche stand noch auf dem Schreibtisch. Ich trat ans Fenster und schaute hinaus. Niemand war auf der Straße. Ich richtete den Blick in die Ferne Richtung Börse, wohin gerade das Taxi mit Marie verschwunden war.
Ich stand am Fenster und betrachtete die nasse Straße unter mir, die Bürgersteige glänzten vor Feuchtigkeit. Ein paar Passanten unter ihren Regenschirmen, und dieses altvertraute Parisgefühl – Paris, das Grau in Grau und der Regen – erschien mir jetzt als besonders bedrückend, gerade angesichts der zurückliegenden sonnigen Tage mit dem strahlend blauen Himmel, die wir ohne Unterbrechung zwei Wochen lang auf Elba erlebt hatten. Dort war ich zu jeder Stunde mit Marie zusammen gewesen, wir haben uns ständig gesehen, haben zu zweit auf der Terrasse gefrühstückt, ich streifte ihre nackten Arme in den Fluren des Hauses, und wenn wir zum Baden die Stufen zum Meer hinuntergegangen sind, berührte ich leicht ihre Taille. Auch wenn es mir durchaus bewusst war, dass wir getrennt waren, hatte ich doch um nichts in der Welt unter dieser Trennung gelitten, eben weil wir die ganze Zeit zusammen waren. Dadurch und nur dadurch verstand ich jetzt die Trennung von Marie, wenn sie da war.
Tatsächlich dachte ich, dass mich Marie sofort nach ihrer Ankunft anrufen würde. Ich stellte mir in diesem Moment sogar vor, Marie würde mir im Laufe der kommenden Tage den Vorschlag machen, wieder mit ihr in der Rue de la Vrillière zusammenzuwohnen. Ich wusste natürlich, dass sie es sicher nicht so in Worte fassen würde, aber insgeheim erhoffte ich mir, die Dinge würden sich auf natürliche Weise entwickeln und wir würden uns nach den überstürzten Ereignissen auf Elba in den kommenden Tagen so häufig sehen, und in derart großem stillschweigenden Einverständnis und wiedergefundener Zärtlichkeit, dass sie mir eines Abends, natürlich an einem Abend nach einem Diner in einem Restaurant, vorschlagen würde, sie in die Rue de la Vrillière zu begleiten, und dass ich dort die Nacht mit ihr verbringen würde, und ich wäre erst im Morgengrauen wieder zu mir gegangen. Eine sachte Annäherung, die wir im Laufe der Tage wiederholt hätten, ich wäre immer ein bisschen später weggegangen, bis ich dann irgendwann überhaupt nicht mehr weggegangen wäre, gewissermaßen übergangslos, und hätte dann nach und nach je nach Bedarf ein paar Sachen von der Rue des Filles-Saint-Thomas in die Rue de la Vrillière gebracht, kurzum, ich träumte von einer Art umgekehrtem Umzug, doch anders als zu Beginn des Jahres nach meiner Rückkehr aus Japan dieses Mal ganz behutsam, in Etappen, nach und nach, ein Kleidungsstück nach dem anderen, Buch für Buch, immer nur eine Sache, nicht alle Umzugskartons auf einmal, wie ich es so schmerzvoll Anfang des Jahres hatte machen müssen, als ich eine Spedition mit dem Umzug beauftragte, um den Platz zu räumen und zu verschwinden.
Ich wagte nicht, es mir offen einzugestehen, aber was ich hier am Fenster stehend von jetzt an in Wahrheit erwartete, das war ein Anruf von Marie. Ich hoffte sogar, dass ihr Anruf kommen würde, noch bevor ich meinen Platz am Fenster verlassen, bevor ich Gelegenheit gefunden hätte, hier in diesem Appartement was auch immer zu machen, Post zu öffnen oder meine Tasche auszupacken, um ihr dann beim Abnehmen des Hörers mit gespielter Zurückhaltung, vielleicht mit einem leichten Unterton von Triumph, sagen zu können: »Schon?!«, und diese unendlich lange halbe Stunde, die ich am Fenster vergeblich auf den Anruf von Marie wartend verbrachte, war wie ein Kondensat der zwei Monate, die ich von da an mit dem Warten auf ein Zeichen von ihr verbringen sollte. In den ersten Augenblicken dominierten noch das Fiebernde und die Ungeduld, meine Liebe zu Marie war durch die vergangenen, gemeinsam auf Elba verbrachten Tage wieder aufgeflackert, mein Verlangen, ihre Stimme am Telefon zu hören, war wieder da – ihre vielleicht schüchterne, sanfte und heitere Stimme, mit der sie mir vorschlagen würde, dass wir uns noch am selben Abend sehen sollten –, aber dann, in dem Maße, wie die Minuten verstrichen, dann die Stunden und Tage und die Wochen und bald der ganze Monat September, ohne dass sich Marie bei mir in irgendeiner Form gemeldet hatte, machte meine anfängliche Ungeduld doch spürbar dem Fatalismus und der Resignation Platz. Meine Gefühle zu Marie gingen allmählich von der drängenden Zärtlichkeit der ersten Minuten in eine Art Gereiztheit über, die ich zuerst noch im Zaum zu halten versuchte. Doch mit Voranschreiten der Zeit hielt ich nichts mehr zurück und ließ meinem Groll schließlich freien Lauf. Maries letzte Sprunghaftigkeit, mich erst für zwei Wochen mit ihr nach Elba einzuladen, um mich danach derart hängenzulassen und kein Lebenszeichen mehr von sich zu geben, war nichts anderes als der höchste Ausdruck ihrer absoluten Unbekümmertheit.
Aber etwas war vielleicht jetzt, also seit unserer Rückkehr von Elba, anders, denn Marie war die Großtat gelungen, mich jetzt sogar durch ihre Abwesenheit wütend zu machen. Bis jetzt hatte mir Marie immer sofort gefehlt, sobald sie nicht da war, nichts konnte meine Liebe zu ihr mehr steigern, als wenn sie nicht bei mir war – also was konnte man da sagen gegen ihre Abwesenheit? Diese neue Irritation aber, dieser tiefsitzende Groll, der sich in mir anbahnte, als ich dort am Fenster stand und auf ihren Anruf wartete, war vielleicht ein erstes Anzeichen dafür, dass ich im Begriff war, mich auf unsere Trennung einzustellen, und begann, mich unmerklich mit dieser Perspektive abzufinden – allerdings, und diese Nuance ist von großer Bedeutung, könnte es also durchaus sein, dass, wenn es mich so sehr ärgerte, »wenn« Marie nicht da war, es vielleicht ganz simpel nur daran lag, »weil« sie nicht da war. Und dann gab es auch diese andere merkwürdige Konstante in meiner Liebe zu Marie, dass jedes Mal, wenn jemand sie zu kritisieren begann, und selbst wenn ich es gewesen wäre, und auch wenn es zutreffend gewesen und mit den besten Absichten der Welt geschehen wäre, ich nicht anders konnte, als ihr auf der Stelle zur Seite zu stehen, so wie bei gewissen Ehepaaren, wo einer den anderen mit Zähnen und Klauen verteidigt, zugleich aber am besten über dessen Fehler Bescheid weiß. Ich brauchte also wirklich keinen anderen, der über Marie herzog, um all das Schlechte über Marie zu denken, was angebracht war, genügte ich mir schon selbst. Ich wusste nur zu gut, wie Marie einen fertigmachen konnte. Ich wusste bestens, was ihre anderen Kritiker nur zu einem Viertel wussten, wie oberflächlich sie war, wie leichtfertig, wie unverschämt und unbekümmert (und dass sie niemals die Schubladen zumachte), aber kaum hatte ich diese Litanei schlechter Eigenschaften in Gedanken auch nur angetippt, stand mir auch schon wieder das Gegenteil dieser Beschwerden vor Augen, ihre geheime, verborgene Kehrseite, wie das wertvolle, den Blicken entzogene Unterfutter eines allzu auffälligen Schmucks. Denn wenn das Gefunkel ihrer Pailletten manchmal auch beim ersten Blick auf Marie blendete, hieße es sie falsch verstehen, wenn man sie auf diesen Schaum mondäner Lebensweise einschränkte, der in ihrem Kielwasser brodelte. Eine viel konsistentere Woge trug sie durchs Leben, zeitlos und naturgegeben. Das, was das Wesen Maries charakterisierte, und nichts anderes, war ihre Fähigkeit, mit der Welt im Reinen zu sein, es waren Momente, in denen sie von einem Gefühl reiner Freude erfüllt war: Dann flossen Tränen über ihre Wangen, die sich nicht unterdrücken ließen, als wenn sie sich vor Entzücken in Flüssigkeit auflöste. Ich weiß nicht, ob Marie sich darüber im Klaren war, aber diese besondere Art der Exaltiertheit lag tief in ihrem Inneren begründet, und alles an ihrem Verhalten wies darauf hin, dass sie die Fähigkeit besaß, sich auf das Innigste mit der Welt eins fühlen zu können. Denn so, wie es ein ozeanisches Gefühl gibt, konnte man im Falle Maries von einer ozeanischen Disposition sprechen. Marie besaß diese Gabe, diese einzigartige Kapazität, diese wunderbare Fähigkeit, sich von einem Moment zum anderen eins zu machen mit der Welt, eine Harmonie zwischen sich und dem Universum herzustellen, in einer völligen Auflösung ihres eigenen Bewusstseins. Der ganze Rest ihrer Persönlichkeit – Marie die Geschäftsfrau, Marie die Chefin eines Unternehmens, die Verträge unterschrieb und in Paris und in China Immobilientransaktionen betrieb, den tagesaktuellen Dollarkurs kannte und die Entwicklung an den Börsen verfolgte, Marie die Modeschöpferin, die weltweit mit Dutzenden von Assistenten und Mitarbeitern zusammenarbeitete, Marie eine Frau ihrer Zeit, aktiv, gestresst, großstädtisch, die in den großen Hotels abstieg und wie der Wind die Flughäfen durcheilte, im beigen Trenchcoat und einem Gürtel, der immer auf dem Boden schleifte, vor sich zwei oder drei Gepäckkulis vollbeladen mit Gepäckstücken, mit Koffern, Reisetaschen, Tüten, Zeichenkartons, Fotorollen, wenn nicht gar – mein Gott, ich kann mich noch gut daran erinnern – mit Papageienkäfigen (leer zum Glück, denn sie transportierte nur selten lebende Tiere, ausgenommen, das nur nebenbei bemerkt, ein Vollblut – auch das eine Kleinigkeit für sie – das letzte Mal, als sie aus Tokio zurückgeflogen war) –, all das war auch Teil ihrer Persönlichkeit, aber eben nur auf eine sehr oberflächliche Weise, etwas, das sie umschloss, ohne sie zu kennzeichnen, sie umriss, ohne sie zu erfassen, und am Ende nur Schall und Rauch im Vergleich mit der alles bestimmenden einen Eigenschaft, die allein ihren Charakter umfassend kennzeichnete, ihrer ozeanischen Disposition. Marie fand immer, intuitiv und spontan, eine Übereinstimmung mit den Naturelementen, mit dem Meer, mit dem sie genussvoll verschmolz, nackt im salzigen Wasser, das sie umhüllte, mit der Erde, liebte den ursprünglichen Kontakt mit ihr, wenn sie grobkörnig trocken oder etwas feucht klebend in ihrer Hand lag. Instinktiv erreichte Marie eine kosmische Dimension des Seins, auch wenn sie dabei gelegentlich dessen soziale Dimension völlig außer Acht ließ, sie verhielt sich mit derselben ungekünstelten Natürlichkeit allen Leuten gegenüber, mit denen sie zu tun hatte, unabhängig von Alter oder Stellung, von Prominenz oder Etikette, ließ jedem dieselbe Aufmerksamkeit und Liebenswürdigkeit zukommen, dieselbe ausgesuchte Höflichkeit und dasselbe Entgegenkommen, den Zauber ihres Lächelns ebenso, wie den ihrer Gestalt, ob es sich um einen Botschafter handelte, der sie anlässlich einer Ausstellung zu einem Abendessen in seine Residenz eingeladen hatte, oder um die Putzfrau, mit der sie Freundschaft geschlossen hatte, oder um einen Lehrling, der in ihrem Modehaus Allons-y Allons-o angestellt war, sie sah in ihnen immer nur das menschliche Wesen, das sie waren, ohne sich im Geringsten um ihre gesellschaftliche Stellung zu kümmern, als sei sie unter dem Deckmantel der Erwachsenen, die sie geworden war, und ihrer Reputation als weltweit anerkannte Künstlerin das Kind geblieben, das sie einmal gewesen war und das noch immer in ihr weiterlebte, mit seinem unverwüstlichen Fundus an unschuldiger Herzensgüte. Die soziale Wirklichkeit existierte für sie wie in völliger Abstraktion, wie abgeschliffen und abgebeizt, was bewirkte, dass sie immer wie nackt auf der Oberfläche der Welt entlang zu spazieren schien, wobei das »wie« in ihrem Fall eigentlich überflüssig war, weil sie sich tatsächlich häufig nackt durchs Leben bewegte, bei sich zu Hause oder im Garten ihres Hauses auf Elba, vor den Augen all der verblüfften Geschöpfe, die ihr verzückt nachblickten, eines Schmetterlings, der sein natürliches Ebenbild gefunden zu haben glaubte, oder der kleinen aufgeregten Fische, die im Meer hinter ihr her zappelten, wenn ich nicht gerade der privilegierte Zeuge ihrer unschuldigen Marotte war, sich bei der kleinsten sich bietenden Gelegenheit nackt zu zeigen, als sei es ihr Wahrzeichen, ihre geheime Chiffre, der Beweis ihrer wesensgleichen Übereinstimmung mit der Welt, in dem, was sie als Beständigstes und Wesentlichstes seit Hunderttausenden von Jahren ausmacht.
Da wir gerade von Elba zurückgekommen waren, waren es diese sonnendurchtränkten Bilder von Marie, die mir jetzt, am Fenster stehend, wieder in den Sinn kamen: Marie halbnackt, nur mit einem alten blauen Hemd ihres Vaters bekleidet auf dem Anwesen auf Elba. Ich schaute auf diese graue, verregnete Straße von Paris vor mir, während Marie, ohne dass ich die geringste Bewusstseinsanstrengung unternehmen musste, sich unwiderstehlich in meinem Geist bemerkbar machte. Ich weiß nicht, ob Marie wusste, wie sehr sie in diesem Moment in meinen Gedanken lebendig war, als ob es neben der wirklichen Marie, die inzwischen ihre Wohnung in der Rue de la Vrillière erreicht haben musste, noch eine andere Marie gab, die frei, eigenständig und von ihr selbst unabhängig nur in meiner Vorstellung existierte, wo ich sie bewegen und leben lassen konnte, wo sie in meinen Erinnerungen sich anschickte, nackt schwimmen zu gehen, oder in den Gärten ihres Vaters Gestalt annahm. Ich sah sie wieder vor mir in dem kleinen Garten auf Elba, diese verdoppelte Marie, meine eigene Marie, in ihrem schlichten Badeanzug, den sie, wenn es ihr zu heiß wurde, bis zur Taille herunterrollte (und natürlich auch ganz ohne Badeanzug, klar doch). Ich näherte mich ihr in meiner Vorstellung mit aller Vorsicht, erriet ihre entblößte Gestalt durch das Gezweig des kleinen Gartens, das in einer leichten Brise erschauerte, sah ihre vom Sonnenlicht gesprenkelten Schultern, wie sie dort vor einem großen Tonkrug kniend die Gartenerde mit beiden Händen knetete und um die kleinen Setzlinge herum festpresste, die sie gerade umgepflanzt hatte, um sie dann zu begießen, wobei sie mit größter Aufmerksamkeit, in einer Art stiller Meditation, die ihre ganze Person zu absorbieren schien, den dünnen Wasserstrahl aus dem Gartenschlauch betrachtete. Ich ging zu ihr in den Garten hinüber und streifte sachte ihre Schulter, sagte ihr wie nebenbei, wenn sie schon keinen Badeanzug anhabe, könnte sie vielleicht einen Sonnenhut aufsetzen – das mache man so, sagte ich ihr, wenn man nackt ist (und sie zuckte nur mit den Schultern, antwortete nicht einmal). Marie gelang es immer, mich zu überraschen und mich aus der Fassung zu bringen. Marie, die Unberechenbare – als sie ein paar Wochen zuvor auf Elba eine Aprikose aß, die sie aus der Auslage eines Obst- und Gemüseladens in der Altstadt von Portoferraio gestohlen hatte, behielt sie noch lange den Kern in ihrem Mund und lutschte ihn träumerisch in der Sonne, bevor sie mich dann plötzlich am Hafen gegen die Wand eines schattigen Durchgangs stieß und brüsk ihre Lippen auf meine presste und sich des Kerns in meinem Mund entledigte.
Und mir wurde dann bewusst, dass ich hier im Begriff war, in meiner Erinnerung immer nur dieselben Glücksmomente wachzurufen, dass es immer dieselben sommerlichen Bilder von Marie waren, die mir ins Gedächtnis kamen, gefiltert und gereinigt von den unangenehmen Bestandteilen und durch den zeitlichen Abstand, den sie seit meiner Rückkehr annahmen, noch anrührender geworden. Aber hat nicht jede wahre Liebe, so sagte ich mir, ja mehr noch, jedes Vorhaben, jedes Werden und sei es das Erblühen einer Blume, das Wachsen eines Baumes oder die Vollendung eines Werks, nur einen einzigen Inhalt, eine einzige Absicht, nämlich auf dem eigenen Sein zu beharren, ist es nicht immer und notwendigerweise diese alte Leier? Und als ich ein paar Wochen später diesen Gedanken von Liebe als einer alten Leier oder ewigen Wiederholung wieder aufgriff, verschärfte ich meine Formulierung noch, als ich Marie fragte, was denn Liebe, wenn sie andauerte, anderes sein könnte als etwas Nochmalgelutschtes.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit seit meiner Rückkehr in die Wohnung verstrichen war, aber draußen in der Rue des Filles-Saint-Thomas dämmerte es bereits, und ich hatte mich noch immer nicht vom Fenster fortbewegt. Die Straße war nun etwas belebter, ein paar Ladenschilder in der Umgebung der Börse waren erleuchtet. In einem der Wohnhäuser mir gegenüber wurden Bauarbeiten durchgeführt, eine Wohnung im dritten Stock war entkernt worden und die Hausfassade verschwunden, was einen Blick in die Eingeweide des Hauses erlaubte, ein Anblick wie nach einem Wirbelsturm oder einem Erdbeben. Im grellen Licht der Baustellenlampen gingen drei oder vier Arbeiter mit Helmen auf Plastikplanen hin und her, die über dem Boden von dem ausgelegt waren, was einmal das Wohnzimmer gewesen sein musste. Die Szene hatte etwas Halluzinatorisches, wenig Pariserisches (oder ich kenne mich mit Paris nicht aus), schien sich eher in einer großen Metropole Asiens abzuspielen, mit dem Neonlicht und dem Funkenregen der Schweißgeräte. Ich beobachtete die hell angestrahlte Baustelle mir gegenüber und dachte an die Reise, die ich mit Marie Anfang des Jahres nach Japan unternommen hatte. Dort hatte alles begonnen, oder vielmehr, dort hatte alles aufgehört, weil wir uns dort getrennt hatten, weil wir uns dort das letzte Mal geliebt hatten, in einem Zimmer eines Grandhotels von Shinjuku. Wir waren gemeinsam nach Japan gereist und waren zwei Wochen später getrennt, jeder für sich, zurückgekehrt, ohne noch miteinander gesprochen zu haben, ohne jedes weitere Lebenszeichen. Bei meiner Rückkehr nach Paris, gewissermaßen um unsere Trennung amtlich zu machen, zog ich in die Rue des Filles-Saint-Thomas. Und bis zum Ende des Sommers hatten wir uns kaum einmal gesehen, bis sie mir den Vorschlag machte, sie auf Elba zu besuchen. Aber was Marie nicht wusste – und was sie noch immer nicht weiß –, war, dass auch ich am Abend der Vernissage ihrer Ausstellung im Contemporary Art Space von Shinagawa gewesen bin.
Da war vieles, was Marie über meine letzten Tage in Japan noch nicht wusste. Bei meiner Rückkehr nach Tokio – denn nach meinem kurzen Abstecher nach Kyoto war ich wieder nach Tokio zurückgefahren – habe ich mir, ohne jemandem etwas davon zu sagen, ein Zimmer in einem kleinen Hotel der Tobu-Kette in der Nähe der JR-Station von Shinagawa genommen. Ich bin drei oder vier Tage in Tokio geblieben, allein und ohne etwas zu tun, die meisten Nachmittage verbrachte ich auf dem Bett des Hotelzimmers liegend. Da es mir nicht gelungen war, Marie am Abend meiner Rückkehr am Telefon zu erreichen, hatten sich die Dinge für mich unlösbar miteinander verstrickt, und ich hatte nicht die Kraft aufgebracht oder die Energie gefunden, sie in der Folge im verlassenen Hotelzimmer ihres Grandhotels in Shinjuku anzurufen, wo sie auf eine Nachricht von mir warten musste. Aber da ich das Datum der Vernissage...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Titel
  4. Zitat
  5. Herbst-Winter
  6. Impressum
  7. Über den Autor