1Ausgangspunkt und Ziel des Buches
Kinder wachsen in Deutschland in andauernden Ungleichheitsverhältnissen auf, die sich in vielen Teilbereichen der Gesellschaft zeigen. Die vorliegende Publikation konzentriert sich auf die Ungleichheiten innerhalb des deutschen Bildungssystems; sie werden in der fachlichen Diskussion insbesondere nach sozialer Herkunft/Schichtzugehörigkeit, Migrationshintergrund, Geschlecht und Region/ Bundesland differenziert und analysiert.
Seit mehreren Jahren wird durch institutionalisierte Berichtssysteme auf diese Ungleichheiten hingewiesen, die mit weiteren Ungleichheiten im Leben von Kindern verknüpft sind, zum einen beispielsweise mit Armutslagen (u. a. Laubstein, Holz und Seddig 2016) und zum anderen mit nachweisbaren Folgen für ihre zukünftigen Bildungs- und Arbeitsmarktchancen bzw. Lebenschancen in der Erwachsenengesellschaft. Zu diesen Berichtssystemen gehören unter anderem der Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme (Bock-Famulla, Lange und Strunz 2015) oder der nationale Bildungsbericht (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016), der die Bereiche von der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung über die allgemeinbildende Schule und nonformale Lernwelten im Schulalter bis hin zur Weiterbildung und dem Lernen im Erwachsenenalter umfasst. Auch die Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung (zuletzt BMFSFJ 2013) zeigen in regelmäßigen Abständen und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen Ungleichheiten im Kinderleben und in den Bedingungen des Aufwachsens auf, unter anderem im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe. Hinzu kommen groß angelegte quantitative und international vergleichend angelegte Studien wie IGLU oder PISA, die ebenfalls soziale, ethnische, geschlechtsspezifische und regionale Disparitäten in der Bildungsbeteiligung und den Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern dokumentieren. Im Vergleich der OECD-Staaten schließlich wird problematisiert, dass es in Deutschland nach wie vor einen überdurchschnittlich starken Zusammenhang von Herkunftsfaktoren und Chancen auf Erfolg im Bildungssystem gibt (exemplarisch OECD 2016).
Aufgrund der gut belegten und in der Öffentlichkeit breit wahrgenommenen Problematik wurden zahlreiche Bildungsreformen, Programme und Initiativen auf den Weg gebracht, die – zumeist neben anderen Zielen – dazu dienen sollen, die genannten Bildungsungleichheiten zu vermindern und abzubauen. Zu denken ist etwa an die Einführung der Ganztagsschulen in Deutschland oder an die Implementierung von Sprachstandsfeststellungsverfahren im vorschulischen Bereich, an Initiativen wie »Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS)« oder das Programm »Elternchance II – Familien früh für Bildung gewinnen«. Auch zahlreiche Initiativen zur Steigerung der Qualität in den Kindertageseinrichtungen gehören dazu.
Die Reformen und Maßnahmen setzen dabei auf unterschiedlichen Ebenen an. Es geht um
•die Veränderung der Strukturen (Stichworte: Strukturqualität; Organisationsentwicklung), der Rahmenbedingungen und des Finanzierungssystems,
•die Ausweitung des Angebots, auch für jüngere Kinder (u. a. Krippenausbau), für Kinder und ihre Eltern (u. a. Familienzentren, Elternbildungsangebote) sowie für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache (u. a. Sprachförderung),
•die Vernetzung und Kooperation zwischen verschiedenen Institutionen (z. B. Übergangsgestaltung, Kooperationsvorhaben; Bildungs- und Erziehungspartnerschaft im weiteren Sinne siehe Stange 2012),
•die Qualifizierung der pädagogischen Fach- und Lehrkräfte; dazu können Reformen in der Ausbildung (Akademisierung) sowie die Intensivierung der Fortbildung für die pädagogisch Tätigen gezählt werden (Stichwort: Professionalisierung; Orientierungs- und Prozessqualität).
Trotz zahlreicher Maßnahmen und zum Teil bereits seit Jahren praktizierter Programme ist die Diagnose deutlicher Bildungsungleichheiten in unterschiedlichen Bereichen des Bildungssystems auch im Jahr 2017 immer noch zutreffend. Es besteht somit nach wie vor Handlungsbedarf, wenn es darum geht, Disparitäten zu vermindern und Ungleichheiten abzubauen.
Zusammenarbeit und Bildungs- und Erziehungspartnerschaft als Maßnahme zum Abbau von Ungleichheit
Im Zuge der vielfältigen und sehr unterschiedlich gelagerten Bemühungen, Bildungsungleichheiten zu vermindern und allen Kindern gleiche (Start-)Chancen zu ermöglichen, wird seit geraumer Zeit insbesondere auf (fach-)politischer, aber auch auf handlungsfeldbezogener und zum Teil wissenschaftlicher Ebene eine Bildungsund Erziehungspartnerschaft zwischen Familien und Kindertageseinrichtungen bzw. Grundschulen eingefordert. Bildungs- und Erziehungspartnerschaften – und damit die Zusammenarbeit zwischen Bildungsinstitution und Familie – gelten neben den bereits skizzierten Ansätzen als eine zentrale Antwort auf die Frage, wie bestehende (Bildungs-)Ungleichheiten vermindert werden können. Die Zusammenarbeit wird, auch als Bildungs- und Erziehungspartnerschaft, prominent in den Bildungs- und Erziehungsplänen der Bundesländer vorgeschrieben. Ebenso ist die Partnerschaft in Teilen in den Schulgesetzen der Länder und den Gesetzen zur Kindertagesbetreuung verankert; sie hat Eingang gefunden in zahlreiche Leitlinien und Leitbilder von Trägern, Kindertageseinrichtungen und Schulen sowie in die Aus- und Fortbildungsunterlagen für (angehende) pädagogische Fach- und Lehrkräfte. Praxisorientierte Fachzeitschriften, die sich an pädagogische Fach- und Lehrkräfte, Leitungen, Träger und Behörden sowie an Eltern und die interessierte (Fach-)Öffentlichkeit richten, befassen sich ebenfalls intensiv mit dem Thema Zusammenarbeit als Bildungs- und Erziehungspartnerschaft.
In der vorliegenden Publikation steht im Zusammenhang mit der Beobachtung gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse das Themenfeld1 Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit Familien im Fokus, wobei der Schwerpunkt auf Kindertageseinrichtungen und Grundschulen gelegt wird. Aus einer erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Perspektive wird somit die Schnittstelle von Bildungsinstitution und Familie genauer betrachtet: Wie soll sie gestaltet sein? Wie wird sie gestaltet? Welche Konsequenzen bzw. Effekte ergeben sich hieraus jeweils für die unmittelbar beteiligten Akteure, also die pädagogischen Fach- und Lehrkräfte, Eltern sowie Kinder?
Die Betrachtung dieser Schnittstelle ist unter zwei Gesichtspunkten besonders interessant:
Erstens ist – wie oben kurz skizziert – unstrittig, dass in Deutschland familiale Merkmale und Prozesse mit der Bildungsbeteiligung und Teilhabe im Feld der Kindertagesbetreuung sowie mit Erfolgen im Bildungssystem zusammenhängen. Ungeklärt ist aber, wie genau, d. h. durch welche Mechanismen, Bildungsungleichheit gerade an der Schnittstelle von Familie und Institution (Kindertageseinrichtung/ Grundschule) – und damit auch im Kontext von Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Partnerschaft – hergestellt wird. Dies stellt eine Forschungslücke dar. Zugleich ist unbekannt, durch welche politischen und pädagogischen Maßnahmen diese Ungleichheiten wirksam und nachhaltig vermindert werden könnten.
Zweitens, und dies ist ein neuer Gesichtspunkt, lässt sich gar nicht über Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit Familien sprechen, ohne zugleich etwas über eine weitere Ausprägung von gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen auszusagen, die mit dem Alter der Gesellschaftsmitglieder korrespondiert: diejenige zwischen Kindern und Erwachsenen und damit die generationale Ungleichheit. Diese Perspektive eröffnet auch Einsichten in das Machtgefälle, da Erwachsene in der machtvolleren Position sind als Kinder – wie dies auch im Kontext der Kinderrechtsdebatte immer wieder vorgetragen wird (exemplarisch Liebel 2007). Allein auf der sprachlichen Ebene zeigen sich unmittelbar Problemstellungen und offene Fragen, ist doch in der Literatur und fachlichen Diskussion in erster Linie von der Eltern beteiligung die Rede – allein semantisch geht es damit also zunächst nicht auch um die Kinder beteiligung. Die Frage, die sich stellt, lautet: Mit wem sollte zusammengearbeitet und eine Partnerschaft aufgebaut werden, wenn von Familie die Rede ist: mit Eltern, mit Kindern oder mit beiden? Ebenso sollte thematisiert werden, wer in der Kindertageseinrichtung und Grundschule der Partner der Familien ist: die Fach- bzw. Lehrkraft oder auch die Kinder bzw. die Schülerinnen und Schüler?
Die auf das Bildungssystem bezogene soziale Ungleichheit und die generationale Ungleichheit wurden bereits in der Expertise von Betz (2015) genauer in den Blick genommen und problematisiert. Die Autorin arbeitete zwei Punkte kritisch heraus: Zum einen weist die fachliche Debatte über die Schnittstelle zwischen Bildungsinstitution und Familie zahlreiche Lücken und blinde Flecken auf. Zum anderen sind die Diskussionen und Forderungen in der deutschen Debatte vor allem programmatisch und damit auch weniger stark – oder gar nicht – empirisch fundiert.
Zielsetzung und Vorgehen
In dieser Publikation sollen daher die empirischen Grundlagen für eine sachliche Diskussion zum Themenfeld Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Partnerschaft mit Familien vorgestellt und aufbereitet werden. Zugleich geht es auch darum, einerseits die Rahmenbedingungen sowie andererseits die Wirkungen und Nebenwirkungen der verstärkten Bemühungen in diesem Bereich empirisch genauer zu betrachten. Hierfür wird der Blick auf die internationale wissenschaftliche Debatte zu Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Partnerschaft ausgeweitet, wie sie sich in empirischen Studien präsentiert.
Um diesen Vorhaben nachzugehen, bilden die folgenden beiden Säulen das Gerüst der Publikation:
1.Im ersten empirischen Schritt werden mögliche Determinanten von gesellschaftlichen, auf das Bildungssystem bezogenen Ungleichheiten genauer betrachtet: Eigene empirische Analysen von Dokumenten und Textsorten, die bislang als Forschungsgegenstand nahezu unbeachtet geblieben sind, ermöglichen Einsichten, wie die Schnittstelle von Bildungsinstitution und Familie in rechtlichen und politischen Kontexten sowie im handlungsfeldbezogenen Fachdiskurs gestaltet wird; dies ist insofern bedeutsam, als die Inhalte dieser Dokumente den politischen, den (fach-)öffentlichen und den handlungsfeldbezogenen Diskurs maßgeblich prägen. Für die Analysen werden, mit dem Fokus auf Zusammenarbeit und Partnerschaft, zunächst die rechtlichen Grundlagen der Arbeit in Kindertageseinrichtungen und Schulen auf Ebene der Bundesländer und des Bundes eingehender betrachtet. Anschließend werden mit den Bildungs- und Erziehungsplänen der Länder, die als Orientierungsgrundlage für das pädagogische Handeln dienen (sollen), weitere relevante Komponenten der institutionellen Rahmenbedingungen im Bildungswesen themenbezogen analysiert. Schließlich wird eine Untersuchung des fachlichen Diskurses um Zusammenarbeit und Partnerschaft vorgestellt, wie er sich in den einschlägigen praxisnahen Zeitschriften in Bezug auf Kindertageseinrichtungen und Grundschulen zeigt. Mit diesen drei empirischen Schlaglichtern können bisher in der Debatte wenig zur Kenntnis genommene Aspekte der Gesamtthematik in den Blick genommen werden, insbesondere im Hinblick auf generationale Ungleichheitsverhältnisse, die in den Analysen im Vordergrund stehen.
Empirische Forschung zu diesen Dokumenten (und ihren Rezeptionsweisen) ist auch vor dem Hintergrund der Frage bedeutsam, in welchem Zusammenhang sie mit der (Re-)Produktion von Ungleichheiten stehen. Die durchgeführten Analysen können so den Ausgangspunkt für zukünftige vertiefende Untersuchungen bilden, die daran interessiert sind, das Themenfeld Zusammenarbeit und Partnerschaft mit Familien in gesamtgesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen zu verorten.
2.In einem zweiten empirischen Schritt werden weitere (mögliche) Determinanten von gesellschaftlichen, auf das Bildungssystem bezogenen Ungleichheiten genauer betrachtet, indem erstmalig ein systematischer Überblick über die einschlägige empirische internationale Fachliteratur (Literaturreview zu empirischen Studien) zum Themenfeld Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Partnerschaft mit Familien gegeben wird. Hierbei geht es um die Fragen, was sich aus Sicht der nationalen und internationalen wissenschaftlichen Studien hinter den Phänomenen Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Bildungs- und Erziehungspartnerschaft verbirgt und welche Schlussfolgerungen aus der empirischen Forschung für die fachliche Debatte ableitbar sind. Der Fokus wird bei der Analyse und Aufarbeitung insbesondere auf die Akteursgruppen gerichtet, die (un-)mittelbar in die Zusammenarbeit und Partnerschaft involviert sind, d. h. die Eltern, die pädagogischen Fachkräfte, die Lehrkräfte und die Kinder bzw. Schülerinnen und Schüler. Damit wird die Mikroebene der unmittelbaren Reproduktion von Ungleichheiten in den Vordergrund gerückt.
Ziel dieses Vorgehens ist es, den Prozessen auf die Spur zu kommen, durch die soziale und generationale Ungleichheiten an der Schnittstelle von Bildungsinstitution und Familie wirksam werden. Damit können und sollen in diesem Buch Politik, Wissenschaft und (Fach-)Öffentlichkeit für die komplexen Mechanismen der (Re-)Produktion von bildungsbezogenen und generationalen Ungleichheiten im Feld de...