I. SATZ – SONJA
1.1. Sonja
Ich heiße Sonja, Sonja Ziemann geborene Lutz. Meinen Mädchennamen verlor ich durch Heirat. Das hat mir nichts ausgemacht. Ich war stolz, seinen Namen zu tragen.
Unzweifelhaft wurde ich durch die Hochzeit zur Frau. Das Fräulein war Vergangenheit, meine Stellung sichtbar verändert. Ich war endlich vollständig, ernst zu nehmen, eine Frau mit Rückhalt.
Dann bin ich Mutter geworden. Das hat mich sehr glücklich gemacht. Der kleine Ruben ist ein so dankbares Kind. Seinetwegen und für ihn habe ich gerne auf vieles verzichtet.
Es fiel mir gar nicht so leicht, meine Arbeit aufzugeben. Sie hat mir Spaß gemacht. Ich war geschätzt und erfolgreich. Drei Jahre lang bleibt mir die Stelle erhalten. Die Zeit ist bald um. Ich muss mich entscheiden, ob ich zurückkehren möchte.
Ich hätte so gerne ein zweites Kind. Aber Max spielt nicht mit. Es ist nicht so, dass er nie mehr Kinder möchte - aber vorerst nicht, sagt er.
Max ist ein guter Vater. Stundenlang spielt er mit Ruben. Er hängt sehr an ihm, manchmal ein wenig zu sehr, um ehrlich zu sein. Ich empfinde dann so etwas wie Eifersucht, fühle mich ausgeschlossen. Vielleicht kommt es daher, dass ich nicht sehr verspielt bin. Während die beiden Häuser bauen, lege ich mich ein paar Minuten hin. Oder erledige Dinge, zu denen ich während der Zeit mit Ruben nicht komme.
Ich bin froh, dass die beiden sich gut verstehen. So ein Kind bringt viele Belastungen mit sich, physisch wie psychisch. Es ist gut, sie gemeinsam zu tragen. Ruben ist unser Kind. Wir haben ihn beide gewollt und unser Leben entsprechend eingerichtet. Wir haben jetzt weniger Geld als vorher. Max versucht, die Lücke durch Mehrarbeit auszugleichen. Wir bleiben viel mehr zu Hause. Unser Freundeskreis hat sich verändert. Automatisch sind wir durch Ruben jetzt eher mit Leuten zusammen, die Kinder in seinem Alter haben - ähnliche Fragen, Probleme verbinden. Mit Zufriedenheit kann ich sagen, dass ich versuche, es dem Kind an nichts fehlen zu lassen. Seit einigen Tagen besucht er die musikalische Früherziehung, je einmal pro Woche Kindergruppe und Schwimmkurs; vielfach sehen wir Freunde und Verwandte. Für den Kindergarten habe ich ihn auch angemeldet.
Gestern rief mich mein Chef an und fragte, wann ich wieder arbeiten wolle. Ich habe ihm noch keine verbindliche Antwort gegeben. Er geht davon aus, dass ich zurückkehren werde. Ja oder nein? Ganzoder halbtags? Ich muss mich entscheiden.
1.2. Max
Das Rotlicht an der Ampel macht mich nervös. Ein Blick auf die Uhr. Es ist noch früh. Kein Grund zur Eile.
Die Entscheidung war richtig. Es macht einfach Spaß, diesen Wagen zu fahren. Er sieht gut aus, die PS-Leistung hält, was sie verspricht, die Innenausstattung ist komfortabel, und auch der Preis, den ich dafür zahlte, lag deutlich unter dem Marktpreis. Man muss nur lange genug warten können.
Ich fahre zu schnell. Den ganzen Tag über habe ich mich auf diese Stunde gefreut. Jetzt bin ich ungeduldig.
Abendrot. Diese Stadt ist schön, besonders im Sommer. Ihre Farben stimmen aktiv, ihre Häuser sprechen an, ihr Geruch wühlt mich auf. Lebensart und Kultur dieser Gegend haben mich geprägt. Die Menschen sind mir vertraut. Das hat mich Wurzeln schlagen lassen.
Natürlich hatte sie nichts dagegen, als ich ihr vorschlug, bei ihr vorbeizukommen. Sie hat einen Computer ohne Schreibprogramm; kein Zustand auf Dauer, zumal sie damit arbeiten möchte. Sie hat gelächelt, als sie meinen Vorschlag annahm. Wir machten einen Termin aus. Das war vor einigen Tagen. Seitdem bin ich unruhig.
Vor der ausgemachten Zeit möchte ich nicht bei ihr erscheinen. Ich werde einen kleinen Umweg fahren, wollte mir sowieso einmal das inzwischen fertig gestellte Hochhaus anschauen, das laut Presse eine Revolution im sozialen Wohnungsbau darstellt. Neu ist, dass sich Gemeinschafts- und Serviceeinrichtungen wie Kindergarten mit Kinderhort und Krabbelstube, Sauna, Friseur, Blumenladen und Supermarkt im Gebäude selbst befinden, und zwar auf den verschiedenen Stockwerken, jeweils mit passendem Ambiente wie Pflanzen, Wasserspielen und Sitzgelegenheiten. Ziel soll es sein, die Anonymität zu vermindern und die Wohnqualität zu steigern.
Habe ich Erwartungen an das, was jetzt kommen wird?
Von außen nichts Besonderes, dieser Neubau. Es wurde versucht, die glatte Hochhaus-Architektur optisch zu verschönern. Das ist nicht neu, aber immer noch selten.
In zwei Minuten werde ich bei ihr angekommen sein. Ihr Wohnviertel, ihre Straße, selbst das Haus, in dem sie wohnt, kenne ich genau. Durch die vielen Jahre ist mir fast jeder Winkel der Stadt vertraut.
Sie hat mir vom ersten Augenblick an gefallen. Wann war das eigentlich? Vor mehr als zwei Jahren schon. Ihr Lachen und der ernste Ausdruck ihrer Lippen. Das Leuchten ihrer Augen. Ihre schönen, schlanken Beine. Wo ist der Wein? Nicht nur für den Computer habe ich etwas mitgebracht.
1.3. Nina
Ich bin unruhig. Das gefällt mir nicht. Jedes Geräusch erschreckt mich.
Es ist äußerst unangenehm, auf Leute warten zu müssen. Vielleicht liegt das an der Furcht, dass diese nicht kommen könnten, an dem starken Wunsch, eines auf jeden Fall zu verhindern: sitzengelassen und in der Vorfreude auf Gemeinsamkeit enttäuscht zu werden. Das beste Mittel: erst gar keine Hoffnungen, Wünsche, Träume zu haben, die von anderen abhängig sind! Ich packe nur das an, was greifbar ist. Ich stehe sozusagen mitten im Leben.
Warum bin ich bloß nervös? Ich will doch gar nichts von ihm. Er schon eher von mir, wie es scheint. Sein lauernder Tigergang, immer um mich herum - ohne dass ich mir allerdings sicher bin, dass seine Aufmerksamkeit wirklich mir gilt. Seine Blicke, sein Lächeln, seine Zuwendung - außergewöhnlich oder nicht außergewöhnlich? Mein Gefühl sagt mir: außergewöhnlich, und doch bin ich mir nicht sicher. Was soll denn diese Grübelei überhaupt!? Gewöhnlich, außergewöhnlich, es kann mir doch gleich sein – wichtig ist, was ICH von ihm will – und ich will das Computerprogramm, welches er mir anbot. Wir können gern Freunde werden. Ich mag ihn, und ich mag es, Freunde zu haben. Eine Liebschaft mit ihm will und brauche ich nicht, und ich möchte auch gar nicht daran denken. Er ist verheiratet. Zu Leuten mit Trauschein habe ich, was meinen Freundeskreis anbetrifft, kaum Kontakt. In unseren Kreisen heiratet es sich nicht. Ehemänner sind mir eher suspekt, weil die Erfahrung mir sagt, dass fast jeder Mann untreu wird, wenn eine nach seinen Wertmaßstäben einigermaßen attraktive Frau es darauf anlegt. Folglich habe ich großen Respekt vor treuen Männern, insbesondere, wenn sie interessant und freiheitsliebend sind – doch bisher sind mir solche noch nicht begegnet. Ich lasse meine Finger auch deshalb von Männern mit Trauschein, weil ich ihre Frauen nicht verletzen möchte.
Es ist nicht so, dass ich verheiratete Männer als Tabu betrachte. Bei den meisten ist die Ehe doch ein reines Zufallsprodukt! Die wenigsten stehen wirklich hinter ihr oder zu dem Partner, an den sie geraten sind. Dies ist doch schon durch die Art zu belegen, wie sie über ihren Partner, ihre Partnerin sprechen: die Frauen meist kritisch, die Männer meist gar nicht. Größtenteils ist es Eigennutz, wenn sie zusammen bleiben, nicht Liebe. Liebe bedeutet doch, gerade wegen des Partners, der Partnerin zusammen zu leben, auf ihn, auf sie respektvoll, bewundernd, liebend eben fixiert zu sein. Sie haben sich in den Verhältnissen eingerichtet, die sie nur schufen, weil fast alle sie schaffen. Von klein auf werden wir mit der Zweierbeziehung bombardiert.
Ich lebe zurzeit allein und bin zufrieden damit - im Vergleich zu dem auch erlebten Zustand, aus Kompromiss mit einem Menschen zusammenzuleben, der mich nicht wirklich begeistert. Vielleicht suche ich noch immer die große Liebe. Doch gibt es sie überhaupt? Ich bin ihr, so glaube ich, bisher nicht begegnet. Kann denn EIN Mann alle meine Bedürfnisse befriedigen – können? Vielleicht brauche ich viele Männer? Vielleicht keinen Mann?! Vielleicht eine Frau!? Niemanden!
Das ist Theorie. Die Praxis sieht anders aus. Schlimm, die Tage ohne freundliche Worte und ohne Berührungen. Schrecklich, der Gang in die leere Wohnung, schmerzhaft der Klang der Tür, die hinter mir ins Schloss fällt, abends, wenn ich schließlich irgendwann doch alleine nach Hause gegangen bin. Das Wissen um die eigene Einsamkeit macht so verletzlich. Ängstlich versuche ich, jede Art der Abweisung zu umgehen, weil diese so schmerzt, und spüre doch bei jeder Begegnung in jedem Moment, dass sie letztlich, beim Abschied, unvermeidlich ist. Ja, auch Abschied ist eine Art von Abweisung.
Gehe ich allein durch die Straßen, fühle ich mich den männlichen Blicken schutzlos ausgeliefert. Ich bin zu haben – ohne Mann – bin bedürftig, könnte bedürftig sein, weil ich doch einen Mann suchen könnte. Ohne Mann komme ich mir oft nackt vor. Es ist schrecklich, bei Familienfesten oder anderen Geselligkeiten ohne Partner herumzusitzen, sichtbar als wahrhaft Sitzengebliebene, alleine, womöglich noch Mitleid auf mich ziehend. Ich stehe nicht zu meiner Einsamkeit. Ich empfinde sie als Schwäche, Behinderung.
Mein Verlangen nach Nähe will ich keinesfalls zeigen, um die Verletzbarkeit nicht noch zu steigern. Ich bin deshalb abweisend, kühl, distanziert, verhalte mich somit grundsätzlich entgegengesetzt zu meinen Bedürfnissen. Wie oft das schmerzt!
Mein Kopf rät mir, dass die Liebe nicht wieder Mittelpunkt meines Lebens werden sollte. Jahre habe ich damit verbracht, ihr Geheimnis ergründen zu wollen – und bin nicht viel weitergekommen. Im Gegenteil. Das, woran ich anfangs glaubte, stelle ich heute in Frage. Womit kann ich sie jedoch ersetzen? – Wie mich mein großes Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit quält!
Wenn nicht die Liebe, was ist dann der Sinn des Lebens? Die Arbeit? Warum stürze ich mich dann nicht in sie hinein, schwimme mich frei, setze mir Ziel...