Aquariumtrinker. Roman
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Aquariumtrinker. Roman

  1. 222 Seiten
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Aquariumtrinker. Roman

Über dieses Buch

Aquariumtrinker ist eine zwischen Poesie und Wut, Wahn und Wirklichkeit changierende Rache- und Entwicklungsgeschichte, die in soghaftem Tempo auf ein furioses Finale zusteuert.Leon Spihr hat ein Problem mit der Wirklichkeit. Seit seiner Geburt an einem schönen Augustmorgen im pophistorisch verhängnisvollen Jahr 1969 geht eigentlich alles in die Brüche. Sogar die Musik, stärkste und tröstlichste Kraft in seinem Leben, hat ihre Magie verloren. Spihr hat sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen: Frau und Kinder, Beruf, sogar seine Band. Schließlich heuert er für einen Sommer als Lebensmittellieferant in Blankenese an, dem Beverly Hills der Hamburger Westside. Als Spihr dort seiner großen Hassliebe "Krimhild" wieder begegnet, beginnt er einen verhängnisvollen Racheplan zu schmieden, von dem ihn nicht einmal Vivi abbringen kann, die zauberhafte Lebenskünstlerin mit dem Schnurrbart aus Puderzucker und dem Herzen aus Gold. Doch vielleicht bleibt ihm auch gar nichts anderes übrig in dem Nobelvorort am Elbufer, der perfekten Blaupause einer elitären Republik, die das Rentenalter längst überschritten hat und sich mühsam Richtung Ziellinie schleppt. Und dieser Zusammenbruch spiegelt sich für Spihr auch im Niedergang der Popmusik wider, von Elvis' Heartbreak Hotel bis Bowies Blackstar.

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Information

AQUARIUMTRINKER

List Of The Lost. Asoziale gibt es überall und zu ziemlich gleichen Teilen: Hartz-IV-Empfänger, Hartz-IV-Sachbearbeiter, Hauptschulabbrecher und Hochschulabsolventen, Lebensmittelhändler, Lebensmittellieferanten, Lebensmittelkonsumenten. Hier, in der im Aussterben begriffenen, dünkelhaften, geldadeligen, besitzstandwahrenden Alten Welt der Damen und Herren oben auf den Hügeln ist es nicht anders. Den Mangel an echter Betätigung und sexueller Energie gleicht man aus, indem man sich gegenseitig mit Klagewellen überzieht, wegen eines Parkplatzes, eines überhängenden Kirschbaumastes oder irgendeinem anderen Nichts und Wiedernichts, indem man dem anderen mit vollem Vorsatz die Vorfahrt nimmt, für den kleinen Kick zwischendurch, auf dem Weg zur Bank, zum Golfplatz oder zum Einlösen der letzten Privatrezepte in einer der unzähligen Apotheken am Platze.
Und doch ist all das Wertkonservative, Traditionelle, Gewachsene immer noch tausend Mal besser als das verschwendungssüchtige, hochleistungsgedopte, vorbehaltlos von sich selbst eingenommene Hedonistentum der Neuen Welt, weil hier Diskretion herrscht und man unter sich bleibt, am liebsten, und niemandem auch nur das Geringste neidet, weil man selbst alles hat, und mehr als genug davon. Und so trifft man im Hamburger Westen (East Egg) nicht an jeder x-beliebigen Ecke auf die Sorte neureicher Kotzbrocken, die wie die biblische Heuschreckenplage die Stadt heimsucht und bereits ganze gewachsene Stadtteile wie Eppendorf oder Winterhude (West Egg) fest im Griff hat. Halten ihre Visagen in jede bereit oder nicht bereit stehende Goldene Kamera, drängeln sich am Morgen beim Bäcker vor, Smartphone in der Linken, Coffee-to-Go-Becher in der Rechten, und kultivieren alles in allem eine Art gieriger, bornierter, arroganter, egotistischer Widerwärtigkeit, die alle geahnten oder ungeahnten Dimensionen sprengt. Niemals sänke ein Vertreter der Alten Welt so tief, ein wichtiges oder auch weniger wichtiges geschäftliches oder gar privates Telefongespräch in aller Öffentlichkeit zu führen. Niemals dächte ein Vertreter der Alten Welt daran, einen Fuß in ein Internetcafé zu setzen, ein Waxingstudio, eine Muckibude oder einen der zahllosen, quer über die Stadt verteilten Tiermassenvernichtungsmaschinerietempel wie BK oder JB oder KFC oder McD (mit dem weithin leuchtenden, verlockend gelb schimmernden, zum stilisierten M verbogenen Hakenkreuz über dem Eingang). Niemals ließe ein Vertreter der guten, alten Alten Welt seine Frau arbeiten, es sei denn an der steten Perfektionierung ihrer ureigenen Home & Garden-Vision innerhalb der eigenen vier Wände, oder, rein steuerabschreibungstechnisch, in der Alten Welt selbst, weshalb ich es vorzugsweise mit dem schönen Geschlecht zu tun habe auf meinen kapriolenhaften Wanka’schen Kreisen und Kringeln durch East Egg.
Nur in einem gleichen sich die Alte und die Neue Welt wie ein Ei dem anderen: Sie werden zusammengehalten, vollständig, von Geld, Rücksichtslosigkeit, Verantwortungslosigkeit, Argwohn und Mittelmaß und hinterlassen nichts als einen faden Beigeschmack auf der Zunge dessen, den die Gesellschaft als Misanthropen ächtet, weil er seine Freiheit bis zur Erschöpfung im Schöpferischen sucht, ausschließlich und allein (obwohl er die Menschen doch lieben möchte, im tiefsten Innern, wenn sie sich nur lieben ließen), ohne auch nur ein einziges Mal so menschen-, tier- und naturverachtend aufgelegt zu sein wie die Götter des 21. Jahrhunderts in den Zentren der Macht, die Banken und Börsen und Bonzen und Battenbergs. Also schweigt mich zu Tode!, diffamiert mich!, nennt mich misanthropisch!, masochistisch!, manisch!, meinetwegen, verbittert!, verblödet!, verhaltensgestört! Nehme ich alles und noch mehr. Denn was, frage ich Euch, bleibt einem kleinen Licht von Lebensmittellieferanten außer der Trauer und der Wut und dem geistesgestörten Traum, sich selbst zu bewahren und nicht so zu sein oder zu werden, wie alle anderen sind.
Spritztour mit Krimhild. Am Samstagabend, September ’87, saßen wir im Riley’s, Krimhild und ich, ganz hinten in der Ecke, rechts vom Eingang zum Billardraum, mit Blick auf die Tür, damit wir notfalls den Engländern entkommen konnten, die in schöner Regelmäßigkeit im Vollsuff den Laden auseinandernahmen. Krimhild sagte, sie kenne einen Weg, an den Toiletten vorbei durchs Lager auf den Hinterhof, wo man über eine Mauer klettern könne, die an die Gasse hinter der Stadtkirche grenzt. Ihre Cousine Lisa hätte letzten Sommer aushilfsweise im Riley’s gejobbt und den Weg zweimal benutzt, weil sie keine Lust hatte, den Tommies dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig das Mobiliar über die Quadratschädel kloppten, bevor die Militärpolizei anrückte und die Übeltäter ohne jeden Widerstand in die bereitstehenden Autos verlud. Warum wir ins Riley’s gingen, obwohl dort jedes zweite Wochenende Großalarm herrschte? Weil das Riley’s, abgesehen von einem halben Dutzend Touristen-Cafés, je einem trinkhallenmäßigen Proll-und-Biker-Treff an allen vier Ausfahrtstraßen sowie ein paar in rustikaler Eiche gehaltenen Post-68er-Kneipen, in denen alte Männer Altbier vom Fass tranken und nonstop und immer schön abwechselnd die letzte Joe-Cocker- und die letzte Eric-Clapton-Scheibe lief, der einzige Laden in der Stadt war, in den man als halbwegs normaler Durchschnittspost-pubertierender einen Fuß setzen konnte, ohne übermäßig unangenehm aufzufallen.
So saßen wir da, Krimhild und ich, vor unseren Milchkaffeeschalen und unterhielten uns über Gottweißwas, als Kunstmann reinkam, sein ewiges Faktotum im Schlepptau. Jonas Fisk. Mit dem ich schon auf der Grundschule keine guten Erfahrungen gemacht hatte, weil er wegen diverser Ehrenrunden mindestens zwei Jahre älter als die Ältesten von uns war und so ziemlich jedem, also auch mir, irgendwann mal ohne jeden ersichtlichen Grund das Taschengeld abgenommen, den Ranzen über dem Mülleimer ausgeleert oder die Fresse poliert hatte. Oder alles zusammen. Ich duckte mich ein wenig weg, in Krimhilds Schatten, nur für den Fall, und beobachtete die beiden aus den Augenwinkeln. Ließen sich zwei Bier geben und gingen direkt an uns vorbei in den Billardraum, wobei Kunstmann ganz leicht an Krimhilds Stuhl stieß. Absicht oder nicht – Kunstmann drehte sich um, beugte sich zu Krimhild hinunter und entschuldigte sich, ganz Prince Charming. Und Krimhild? Schlug die Augen nieder, züchtig und ladylike, und rührte verlegen mit dem Löffel in ihrem kalt gewordenen Kaffee. Kommst Du, Kunstmann?, rief Fisk aus dem Billardsaal. Klar, komm ich, sagte Kunstmann, der den Blick nur schwer von Krimhild lösen konnte. Er schnalzte mit der Zunge, fast unhörbar, machte auf dem Absatz kehrt und stiefelte davon. Ich werd Dir zeigen, Joe, wer hier der Boss ist, sagte er, eine Spur zu laut. Und spätestens jetzt begannen die Alarmglocken zu klingeln in meinem Kopf, sehr laut, sehr schrill und sehr ausdauernd. Also versuchte ich Krimhild wegzulotsen aus dem Riley’s und begann Vorschläge zu machen: kleiner romantischer Abendspaziergang durch den mondbeschienenen Park vielleicht oder über die Siebenseelenbrücke und dann am Fluss entlang zu den Froschteichen. Oder wir gehen nur so zum Spaß in einen dieser altbackenen Hippie-Schuppen, bestellen zwei Halbe vom Fass und benehmen uns so richtig daneben, werfen mit Bierdeckeln, rauchen Zigarren und lassen uns einen Schaumbart stehen. Nichts zu machen. Also spielte ich den letzten Trumpf aus: Und wenn wir zu mir gehen und ich für Dich auf der Gitarre spiele, Krimhild, sämtliche Songs, die Du in der großen Pause trällerst, vor versammeltem Publikum, unter der Kastanie, auf dem Schulhof. Fast hatte ich sie soweit.
Du kannst Gitarre spielen?, fragte Krimhild. Aus dem Billardraum hörte man Fisk jauchzen, und es war klar: Es war nur eine Frage von Minuten, bis Kunstmann an unserem Tisch auftauchen und Krimhild auf ein Gläschen einladen würde. Irgendwas Prickelndes, Klebriges: Spumante oder Prosecco oder Bols Blau mit weißer Brause. Komm, sagte ich, ein wenig ungeduldig, und Krimhild stutzte: Was ist los?, sagte sie. Nichts, es ist nur …, begann ich. Und während ich noch überlegte, ob ich die Flucht nach vorn antreten und Krimhild sagen sollte, dass ich Angst hatte, um sie und mich und uns, weil wir kurz davor waren, in die Fänge der zwei übelsten Schläger der Stadt zu geraten, trat auch schon Kunstmann an unseren Tisch.
Scheiße, sagte er direkt an Krimhild gewandt, hab verloren. Er zog einen Stuhl heran, vom Nachbartisch, und setzte sich zu uns, rechts von Krimhild, während Fisk sich links neben mir aufbaute, die Arme vor der Brust verschränkt, mit dem Rücken an den Türrahmen gelehnt. Na, Ihr zwei Hübschen, sagte Kunstmann, was habt Ihr heute noch so vor? Fisk lachte sein heiserstes Lachen und nuckelte an seiner Bierflasche. Eins musste man Krimhild lassen: Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sah Kunstmann an und sagte, das wüssten wir noch nicht, wir wären gerade am überlegen, allerdings müsse sie so gegen zwölf zuhause sein. Na, sagte Kunstmann, dann haben wir ja noch Zeit. Er starrte sie an, mit Stielaugen und einem süffisanten Lächeln auf den Lippen: Was haltet Ihr davon, sagte er, wenn wir zusammen eine kleine Spritztour machen?
Im selben Augenblick fing ich an zu schwitzen, lief knallrot an und suchte nach einem Ausweg. Fieberhaft. Nahm all meinen Mut zusammen und wagte einen halbherzigen Vorstoß: Wir wollten gerade zu mir, sagte ich mit kümmerlicher Stimme. So?, sagte Kunstmann und bedachte mich mit einem kurzen Blick aus den Augenwinkeln. Und dann?, fragte er. Wollte ich ihr …, begann ich und brach ab. Es klang zu lächerlich in Gegenwart der beiden. Kunstmann nickte wissend, rollte die Zunge im Mund herum und sah Krimhild an. Und Du, sagte er, wolltest mit zu ihm? Ich weiß nicht, wie er es machte, doch so, wie er die Frage stellte, klang es, als wäre Krimhild als die unschuldige Joan of Arc vom Lande kurz davor, auf Jack the Ripper persönlich reinzufallen. Cream, sagte ich, komm – Doch legte Fisk seine Hand auf meine Schulter und drückte mich sanft hinunter in den Sitz. Cream, sagte Kunstmann, in schlechtem Englisch, und ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, ist das Dein Name? Er blickte vielsagend auf zu Fisk. Ich glaube, sagte er, wir sollten unsere zwei Turteltäubchen allein lassen, Cream und ihren stolzen Beschützer, mit ihrem französischen Kaffee und ihren französischen Küsschen, und uns was anderes suchen.
Niemand kann sich meine Erleichterung vorstellen, als Kunstmann aufstand, Krimhilds Hand nahm, sich verbeugte und ihr einen Kuss auf die Finger drückte. Fisks Griff lockerte sich. Au revoir, sagte Kunstmann in schlechtem Französisch und gab Fisk einen Wink, nur um zu zeigen, wer der Boss war von den beiden. Komm, sagte er. Moment, sagte Krimhild, ich glaub, das mit der Spritztour ist gar keine so schlechte Idee.
Und so saßen wir dort, im blauen Neonlicht, in Kunstmanns Audi, Krimhild und ich hinten, Fisk am Steuer, während Kunstmann in der Tanke verschwand, um Stoff zu kaufen, wie er es nannte. Kam zurück mit einem Six-Pack und einer Flasche Southern Comfort, die er aufdrehte und Krimhild nach hinten reichte, während Fisk Gas gab. Trat das Pedal durch, als gäbe es kein Morgen mehr, drehte die Musik auf und grölte lauthals mit: Def Leppard. Bei alldem bekam ich kaum mit, wohin die Reise ging, bis Kunstmann sich zu uns umwandte und brüllte: Wir gehen schießen auf dem Truppenübungsplatz! Fisk wüsste, wie man ins Munitionslager käme, von einem Kumpel seines Vaters, der früher mal bei Hoffmann die Logistik gemacht hätte. Kennt Ihr aus der Tagesschau, sagte er, nahm einen tüchtigen Schluck, reichte mir die Flasche und forderte mich auf, mit einer einzigen winzigen Bewegung des Kopfes, oder vielmehr des Kinns, es ihm nachzutun. Das Zeug schmeckte scheußlich, süß und ölig und pisswarm. Na, geht doch, sagte Kunstmann, nahm mit der Linken die Flasche, legte die Rechte auf Krimhilds Knie, trank alles auf ex, wischte sich den Mund mit der Rückseite der Hand, grinste Krimhild an, öffnete das Fenster und schmiss die Flasche über die Schulter hinaus.
Keine Angst, sagte Kunstmann, während er Krimhild über den Zaun half, hier hört uns keine Menschenseele. Ich muss so langsam nach Hause, sagte Krimhild, während sie über den Zaun kletterte, auf dem Fisk hockte wie ein Raubtier vor dem Sprung. Mit dem Fuß drückte er den Stacheldraht runter, damit Krimhild nicht daran hängenblieb. Wäre doch schade um das süße Fleisch, sagte Kunstmann und kletterte gewandt über den Zaun. Kommst Du?, fragte Krimhild von der anderen Seite. Ich machte mich daran, ihr nachzuklettern, zerriss mir die Hose am Stacheldraht, vom Sprunggelenk bis hoch zum Knie, und befühlte die Schramme am Schienbein, als ich unten ankam. Los, kommandierte Kunstmann und nahm meinen Arm.
Es stimmte: Fisk hatte einen Schlüssel zum Munitionslager. Und einen für die Waffenschränke. Mannomann, sagte Kunstmann, im flackernden Licht des Feuerzeugs, mit Blick auf die in Reih und Glied aufgehängten MPs und MGs in den Wandschränken. Er nahm zwei Pistolen und eine Schachtel Munition. Kommt, sagte er, ich weiß, wo wir hingehen.
Eine halbe Ewigkeit warteten wir, auf dem Aussichtsturm im Wald. Starrten hinunter auf die Lichtung, die von einem weißen Mond beschienen wurde. Krimhild nahm meinen Arm, zitternd vor Kälte, und ich legte ihr meine Jacke um die Schultern. Dann sahen wir sie: die leuchtenden Augen. Etwa fünf Paar. Wie Glühwürmchen tanzten sie auf und ab am Waldrand. Wildschweine, flüsterte Fisk und legte an. Warte, zischte Kunstmann. Er zog Krimhild auf seinen Schoß, drückte ihr die Pistole in die Hand, legte seine Finger um ihre und flüsterte: Jetzt. Und im selben Moment hallte ein ohrenbetäubender Schuss durch die Nacht. Dass ich glaubte, das Herz bliebe mir stehen und die Erde würde schwanken unter mir und der Turm in sich zusammenfallen. Ich hörte das Getrappel der Wildschweinherde, die im Wald verschwand, und sah das Augenpaar, grün schimmernd, dort unten auf der Waldlichtung, nur ein paar Meter von uns entfernt. Kommt, sagte Kunstmann und kletterte behände als Erster die Leiter hinunter.
Wir standen um das Wildschwein herum, das schnell atmete und aus kleinen Schweinsäuglein aufsah zu uns, von einem zum anderen. Warte, sagte Kunstmann wieder, als Fisk die Waffe hob. Er trat hinter Krimhild, die noch immer die Pistole in der Hand hielt, und legte die Arme um sie. Nahm ihre Hände, ihre Finger. Sie wird es zu Ende bringen, sagte er mit seltsamer Erregung in der Stimme. Und keine Ahnung, was dann mit mir passierte, doch stürzte ich mich auf Krimhild, im selben Moment als sie schoss, riss Kunstmann zu Boden und schlug auf ihn ein. Mörder, hörte ich mich brüllen, von irgendwoher, bis Fisk mich von hinten packte und mich hochzog und Kunstmann sich vor mir aufbaute und auf mich einzuschlagen begann. Was glaubst Du, wer Du bist?, sagte er und schlug zu. Ins Gesicht und in den Magen. Abwechselnd und immer wieder. Bis ich zusammensackte und Fisk mich losließ und Kunstmann zutrat, zwei oder drei Mal. Ich hörte Krimhild lachen. Wie irre. Komm her, sieh ihn Dir an, Deinen Beschützer, brüllte Kunstmann, und Krimhild beugte sich über mich, mit ihrer maskenhaften Walpurgisnachtvisage. Oder nein, genau andersherum: Sie hatte alle Masken fallen lassen, meine nibelungentreue Liebe, spätestens jetzt, als Kunstmann sie bedrängte, von hinten, wie ein wildes Tier. Spuck ihm in die Fresse, Kleine, zischte er ihr ins Ohr, spuck. Und Krimhild? Lachte, wie besessen, bewegte den Kiefer, als wollte sie Knochen zermahlen, und spuckte.
Briefe an Vivi 5: Störungen haben Nachrang! Ich wünschte, ich könnte mich mit Deinen Augen sehen, meine Einzige, ein einziges Mal, und müsste nicht immer zweifeln, an allem und jedem, und am meisten an mir selbst. Jedes Gefühl hinterfragen, jedes Wort, jeden vagen Moment von Glück. Und mehr als alles andere: jede kleinste Regung von
L-
Lllll-
Lllllie-
Lllliiiääähhh-
Boooääaargghh!
So, nun ist es raus.
Keine Zärtlichkeit, keine Berührung, kein Schwur, kein Versprechen von Zuneigung, das je groß genug gewesen wäre, mein verfrorenes Herz aufzutauen. Und dabei, meine Liebe, ist es doch der Zweifel, am Ende, der mich am Leben hält. Weil er so mächtig ist und allem innewohnt, dass ich nicht umhin kann, sogar an ihm zu zweifeln, dem Großen Meister selbst. Und nicht von der Autobahnbrücke springe, an eisgrauen, schneematschigen, regenverschleierten Novembernachmittagen. Das könnte ich, wie Ana Arden eines schönen gemeinsamen vergangenen Eheabends beim Abwasch so schön sagte, immer noch machen, wenn die Kleinen aus dem Haus sind. Hatte leicht reden, die heilige Madonna und Mutter meiner Kinder, in deren Familie sämtliche Angelegenheiten über Generationen hinweg so gründlich und grundsätzlich unter den Teppich gekehrt wurden, dass man kurz davor war, sich zu siezen, wenn man sich alle Jubeljahre mal über den Weg lief, weil es sich nun so gar nicht vermeiden ließ. Konfliktscheu, die Ardens. Beinahe wie Du, meine geliebte Prokrastinistin, die Du mit Carl auch nur über Alltagsbanalitäten hinaus Dinge verhandeltst, wenn ein akuter Notstand es verlangt, und auch dann nur, um Dir Luft zu verschaffen, für den Moment, bevor sämtliche grundsätzliche Fragen einmal mehr auf ein unbestimmt späteres Mal vertagt werden –
(Don’t Get Lost On) Luneburg Heath. Da sind wir ganz anders, höre ich meine cholerische Großmutter väterlicherseits sagen. Herrscherin über einen Hof voller Männer. Und Recht hat sie. Auf den ersten Blick. Hier im Hause Spihr wurden die Dinge auf den Tisch gebracht oder vielmehr: auf die Theke, nachts, wenn alle genug intus hatten und sich zwischen zwei Bier mit Korn gegenseitig die Wahrheiten ins Gesicht schleuderten. Mit hässlichen, hochrot angelaufenen Gesichtern, grotesk verdrehten Mäulern und hervorquellenden Augen gingen sie aufeinader los: Onkel Phil auf Onkel Meck, Onkel Meck auf Onkel Braun, Onkel Braun auf meinen Vater, mein Vater auf Onkel Phil und so weiter und so fort. In jeder denkbaren Konstellation und Variante und anschließend wieder von vorn.
Drei oberste stillschweigende Gebote gab es bei alldem. Erstens: Niemand hatte jemals nicht Recht. Zweitens: Niemand trug jemals auch nur einen Funken Verantwortung für die eigene Misere. Und drittens: Alle waren schuld an allem, nur man selbst war schuld an nichts. Und mein Großvater, das nominelle Oberhaupt der Familie, stand daneben und grinste. So ist doch wenigstens Leben in der Bude, sagte er und schickte die Frauen wieder nach Hause, die ihre Männer vom Dorffest, vom Frühlingsfest oder vom Schützenfest abholen wollten. Drückte mir ein Schnapsglas in die Hand, grinste sein Grinsen und sagte: Hier, probier mal, Junge, Honigschnaps, hat Dein Opa selbst gebrannt. Es kratzte im Rachen, das Zeug, obwohl es süß war wie die Sünde. Und die Onkels und der Vater? Fuhren besoffen nach Hause, wenn sie genug hatten, alle in einem Auto oder jeder für sich, oder schliefen ein an der Theke oder fielen vom Hocker und blieben liegen, bis die Band aus dem Nachbarkaff am Morgen zum Frühschoppen aufspielte und es mit einem Kurzen vor der ersten festen Mahlzeit weiterging. Kein Wunder, dass meine Mutter die Nase voll hatte, nach kürzester Zeit, und ihre Sachen packte. Zu denen, nach einem ersten halbherzigen, drei Monate währenden Versuch mit dem Möchtegernmaler Berger, im zweiten Anlauf auch ich gehörte. Mehr oder weniger zufällig. Sie stand einfach auf eines Morgens und ging zur Bushaltestelle. Mit mir an der Hand. Zog in die Stadt, den Kleinen im Schlepptau, und stritt mit dem Vater herum, der ohne jede Ankündigung auftauchte, alle zwei Tage oder einmal alle zwei Monate, in seinem alten Mercedes, und mich mitnehmen wollte, in sein Kaff am Rande des Zonenrandgebiets. Und mich tatsächlich mitnahm, nach einigen obligatorischen Debatten, für zwei oder vier oder siebe...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Weißes Album, Schwarzer Stern
  6. Ferdinands Höh # 10 & 25
  7. Geisterstunde
  8. Letzte Lieferung
  9. Aquariumtrinker
  10. Inhalt