Mein goldener Sprung in der Schüssel
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Mein goldener Sprung in der Schüssel

Wie ich als Pastor mit meinen Zwangsstörungen und der Alkoholabhängigkeit lebe

  1. 272 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Mein goldener Sprung in der Schüssel

Wie ich als Pastor mit meinen Zwangsstörungen und der Alkoholabhängigkeit lebe

Über dieses Buch

Die ergreifende Biografie eines Pastors, der mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen hat! Schon als Kind hat Volker Halfmann Zwangsgedanken, Depressionen. Eigentlich menschenscheu, ergreift er den Beruf des Pastors und übt ihn auch einige Jahre erfolgreich aus. Kaum einer ahnt, dass der wortgewandte Prediger immer weiter abrutscht: Alkohol, Tabletten, Ängste, eine Essstörung, Selbstmordgedanken. Er landet in der Klinik. Mühsam arbeitet er sich ins Leben zurück. Es folgt der Rückfall. Ein erneuter Psychiatrieaufenthalt. Die Welt um ihn herum zerbricht. Heute ist er Pastor in seiner alten Gemeinde. Mit einigen Themen wird er sein Leben lang zu kämpfen haben. Aber er weiß: Gott kann ihn gebrauchen - auch zerbrochen und angeschlagen.

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Kapitel 1:

Wenn nichts mehr geht – Der Weg in die Klinik

Am Ende der Selbstachtung

»Herr Halfmann, haben Sie noch einen Moment Zeit für mich? Ich müsste Sie einmal dringend unter vier Augen sprechen.« Mit diesen Worten nahm mich der Supervisor meiner Seelsorge-Fortbildung im Herbst 2006 nach einer unserer Gruppensitzungen zur Seite. »Ich möchte Ihnen eine sehr persönliche Frage stellen und bitte Sie, mir offen und ehrlich zu antworten.«
Ich wusste, was jetzt kommen würde, denn ich hatte es durch eine Bemerkung in der Gruppe selbst provoziert. »Herr Halfmann, spielen Sie ernsthaft mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen?« Schweigen. Eigentlich wollte ich ja, dass er mich anspricht, doch zugleich hatte ich Angst vor den Konsequenzen. Endlich kann ich mich zu einer Antwort durchringen: »Ich danke Ihnen wirklich sehr für Ihre Nachfrage. Aber wir beide wissen, was passieren wird, wenn ich Ihnen eine ehrliche Antwort gebe. Ich werde die kommenden Tage und Wochen in der geschlossenen Psychiatrie verbringen und das will ich nicht. Was also soll ich Ihrer Meinung nach tun?«
Auf seine erste Frage war ich vorbereitet gewesen, nicht aber auf das, was nun folgte. Mein Supervisor hatte Tränen in den Augen, als er mich beschwor, mein Leben nicht einfach wegzuwerfen: »Denken Sie an Ihre Frau und Ihre Kinder – die brauchen Sie!« Offensichtlich lag diesem Mann etwas an mir, was über eine professionelle Empathie hinausging. Aber warum? Für mich war das vollkommen unverständlich, denn in meinen eigenen Augen war ich ein erbärmlicher Niemand, ein Stück Dreck.
Als Gemeindepastor hatte ich total versagt. Über Jahre war es mir nicht gelungen, die Gräben zwischen den verfeindeten Geschwistern zuzuschütten und Versöhnung zu stiften. Meine Gottesbeziehung war eine riesige Baustelle. Ich hatte viel mehr Fragen als Antworten und sah mich außerstande, weiter zu predigen.
Gemessen an meinem kranken Ideal hatte ich außerdem sieben Kilo Übergewicht und verachtete meinen Körper zutiefst. Inzwischen war ich nicht einmal mehr in der Lage, in den Spiegel zu schauen. Gleichzeitig war in meinem Kopf die Hölle los. Meine irren Gedanken und Grübeleien wurden immer aufdringlicher und machten es mir unmöglich, zur Ruhe zu kommen. Nicht nur das: Über Wochen hatte ich meine Frau Claudia belogen und ihr vorgespielt, ich würde nichts mehr trinken. Dabei konnte ich ohne Alkohol keinen einzigen Tag überstehen.
Ich war am Ende: am Ende mit meiner Selbstachtung, am Ende mit meinem Glauben, am Ende mit dem Versuch, zu funktionieren, und am Ende mit der Hoffnung, dass es für mich noch einmal besser werden könnte. Ich hasste mein Leben und war doch zu feige zum Sterben. Ich war erbärmlich!
Vielleicht bewog ja gerade das meinen Supervisor, sich um mich zu kümmern: Erbarmen. Am Ende unseres Gespräches versicherte ich ihm, dass ich mich bei einem Psychologen in Würzburg vorstellen würde, um professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich hatte keine Ahnung, was mich dort erwarten würde, aber vielleicht gab es ja doch noch eine Zukunft für mich?

Manisch-depressiv?

Leider ist mein Problem mit Ärzten, dass ich ihnen gegenüber meist in ohnmächtiger Unterwerfung erstarre. Ähnlich geht es mir mit Polizisten, Anwälten, Managern und überhaupt allen Typen, die nur so vor Selbstbewusstsein strotzen. Der Psychologe stellte mir viele Fragen und ich gab kurze Antworten. Die ganze Atmosphäre in der Praxis machte mir Angst und auch der Kerl selbst war mir ziemlich unsympathisch. Aber darum ging es hier ja nicht. Schließlich war er der Profi und ich der Patient. Also versuchte ich, seinen Fragen gerecht zu werden und meinen Zustand irgendwie in Worte zu fassen.
Am Ende dieses Gespräches diagnostizierte er, ich sei manisch-depressiv und müsse mit einer Lithium-Behandlung beginnen. Er nahm mir Blut ab und meinte, ich solle in ein paar Tagen wiederkommen. Dann seien die Laborwerte da und die Behandlung könne beginnen. Ich nickte alles willig ab und machte mich auf den Weg nach Hause.
Doch je näher ich Karlstadt kam, umso größer wurde meine Verzweiflung: »Ich, manisch-depressiv? Niemals! Der Typ hat doch überhaupt keine Ahnung, was wirklich mit mir los ist!« Und mit der Verzweiflung kamen die Vorwürfe: »Volker, du bist so ein armes Schwein! Wie soll er denn wissen, was mit dir los ist, wenn du ihm nicht alles erzählst? Und warum in aller Welt lässt du so was mit dir machen? Warum kannst du dich nicht durchsetzen? Du Nichts, du Niemand!«
Rund vierhundert Meter vor unserem Haus machte ich eine Vollbremsung, sprang aus dem Wagen und rannte in die Praxis meines Hausarztes. Der war so ein Arzt der alten Schule, einer, der sich noch Zeit nimmt für seine Patienten und wissen will, wie es ihnen wirklich geht. Er war der Einzige, der mir jetzt noch helfen konnte.
Da nun sowieso alles egal war, schilderte ich bei der Anmeldung meine Situation und konnte schon nach kurzer Wartezeit zu ihm, ein echter Glücksfall. Wir hatten ein langes und gutes Gespräch, an dessen Ende er mir versicherte: »Sie müssen da nicht mehr hin, Herr Halfmann. Ich regle das für Sie.« Stattdessen vereinbarte ich einen Termin bei seiner Frau, die in derselben Praxis als Psychotherapeutin arbeitete. Damals, am scheinbaren Ende, begann mein Weg zurück ins Leben.
Von dieser Psychotherapeutin fühlte ich mich ernst genommen und wertgeschätzt und konnte so zum ersten Mal von meinen verrückten Gedanken und Ängsten sowie von meiner Alkoholabhängigkeit erzählen. Sie war es auch, die sich für mich um eine Überweisung in die Klinik kümmerte.
Um in der Klinik Bad Herrenalb aufgenommen zu werden, musste ich damals einen schriftlichen Bericht über meine Beschwerden verfassen. Dies ist mein Bericht vom 27. März 2007:
Meine Beschwerden sind Schlafstörungen, ständiges Kreisen der Gedanken, ein Grundgefühl der Angst, Traurigkeit, Resignation, Müdigkeit, Leere. Insgesamt das Empfinden, in ein »schwarzes Loch« gefallen zu sein (ohne die Möglichkeit, den Fall aufzuhalten). Die Angst ist mein ständiger Begleiter und ist in den letzten Jahren immer stärker geworden. Sie äußert sich auch körperlich (Atemnot, Enge) und führt dazu, dass ich nicht mehr in der Lage bin, einfachste Absprachen zu treffen oder Aufgaben zu erledigen. Das wiederum führt bei mir zu Scham und Selbstverachtung. Bis zum Beginn meiner Therapie hatte ich versucht, mithilfe von Alkohol diese Probleme zu vertreiben. Das hat auch funktioniert. Nur bin ich dadurch mehr und mehr in eine Abhängigkeit geraten und musste schließlich erkennen, dass ich keine Kontrolle mehr über meinen Alkoholkonsum habe. Ich musste die Dosis immer weiter steigern und konnte einfach nicht mehr aufhören.
Von Beruf bin ich Pastor in einer evangelischen Freikirche und habe somit ständig mit Menschen zu tun. Doch fällt es mir immer schwerer, ihnen zu begegnen. Das hat wohl auch etwas mit meiner Scham zu tun und der Angst, »enttarnt« zu werden. Es hängt aber auch damit zusammen, dass ich gedanklich ständig darum kreise, was wohl die anderen über mich denken und von mir halten. Das hat zur Folge, dass ich nachts immer schlechter einschlafe, weil auch dann mein Kopf voll ist von Gesprächen, Situationen, Befürchtungen.
Seit Oktober letzten Jahres trinke ich nun keinen Alkohol mehr. Die Schuld- und Schamgefühle, die nach einem Alkoholrausch entstanden sind, habe ich damit nicht mehr (wohl aber von Zeit zu Zeit das unbändige Verlangen nach Alkohol).
Seit einiger Zeit verschiebt sich meine Selbstablehnung mehr auf meinen Körper. Manchmal kriege ich einen »Flash« und stopfe alles Mögliche in mich hinein, nur um anschließend alles wieder herauszuwürgen und zu erbrechen.
Was meine Arbeit anbelangt, so halte ich den Schein aufrecht, versuche, mir nichts anmerken zu lassen und das Nötigste irgendwie zu erledigen. Auch mit meiner Frau spreche ich immer weniger über meine Probleme. Ich fühle mich schuldig ihr gegenüber, sie hätte was anderes verdient (ebenso unsere drei kleinen Kinder). Und ich habe Angst, sie könnte irgendwann einmal die Nase voll haben von meinem Gerede über Ängste, Blockaden, Probleme.
Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Menschen mit Depressionen eigentlich immer depressiv bleiben wollen und sich nicht heraus trauen aus dem »Kokon« ihres Selbstmitleids und ihrer Abhängigkeiten. Vermutlich gibt es auch bei mir den Hang, mich versorgen zu lassen und Verantwortung abzuschieben. Aber mich ganz aufgeben, das will ich nicht! Ich will leben! Und zwar leben mit dem Kopf über Wasser, ohne das ständige Gefühl, abzusaufen. Dabei musste und muss ich erkennen, dass ich dieses Ziel ohne fremde Hilfe nicht werde erreichen können.

Eine seltsame Zugfahrt

Am 16. Mai 2007 verabschiedete ich mich von meiner Familie und marschierte zum Bahnhof, um mit dem Zug nach Bad Herrenalb zu fahren. Die Gemeinde wurde darüber informiert, dass ich eine längere Auszeit brauche und in einer Klinik sei. Unsere Gemeindeleitung bat darum, von weiteren Rückfragen abzusehen. Man könne für meine Familie und mich auch beten, ohne alles zu wissen.
Die Fahrt von Karlstadt nach Bad Herrenalb dauerte knapp vier Stunden. Es war eine seltsame Reise voller Erinnerungen und wirrer Gefühle. Eigentlich liebe ich das Zugfahren. Schon als Kind war ich total begeistert, wenn wir die Strecke von Köln nach Frankfurt fuhren. Wann immer möglich saß ich am Fenster und ließ die wunderschöne Landschaft an mir vorüberziehen. Vor allem die alten Schlösser und Burgen entlang des Rheins hatten es mir angetan. Dabei stieg jedes Mal das Gefühl in mir auf: »Hier, in meinem Zugabteil, bin ich der Mittelpunkt des Universums, während draußen das Leben an mir vorbeizieht.«
Doch bei dieser Fahrt war das anders, der Zauber der Kindheit war inzwischen verflogen. Jetzt, als gescheiterter Pastor Anfang vierzig, saß ich wieder im Abteil und schaute nach draußen. Und mir wurde plötzlich klar: »Es sind nicht die alten Schlösser und Burgen, die an mir vorbeiziehen. In Wahrheit bin ich es, der an ihnen vorbeifährt! Sie stehen dort schon seit Jahrhunderten und werden wohl auch noch in hundert Jahren dort stehen. Ich aber werde sie nicht mehr allzu lange bewundern können, denn meine Zeit ist begrenzt.«
Der Song »Time« von Pink Floyd kam mir in den Sinn. Darin heißt es: »Du bist jung und das Leben ist lang, heute kannst du die Zeit totschlagen.« Aber dabei bleibt es nicht, denn eines Tages, findet man heraus, dass zehn Jahre vergangen sind. Also rennt man, um die sinkende Sonne einzuholen, vergeblich, denn: »Die Sonne ist, wie sie immer war, aber du bist älter geworden: Dein Atem ist kürzer und du bist einen Tag näher am Tod.«5
Auch bei mir war das so. Die Hälfte meines Lebens war bereits abgelaufen. Und was hatte ich aus meiner Lebenszeit gemacht, was hatte ich erreicht? Nichts, absolut nichts! Ich war ein Versager, eine Niete, eine Nullnummer. Wie hatte es nur so weit kommen können? Warum nur war ich dermaßen abgestürzt? Ich hatte doch die besten Voraussetzungen: ein behütetes Elternhaus, eine gute Schulbildung, eine wundervolle Familie und gute Freunde. War das nicht mehr als genug, um ein einigermaßen vernünftiges Leben zu führen?
So kauerte ich in meinem Abteil wie ein Häuflein Elend und trank ein Bier nach dem anderen, um meine Verzweiflung hinunterzuspülen. Während ich die Landschaft draußen nur noch verschwommen wahrnahm, ging ich die einzelnen Stationen meines Lebens noch einmal durch.

Kapitel 2:

Und plötzlich bist du 40 – Stationen meines Lebens

Kindheit und Jugend

Im Jahr 1964 hatten meine Eltern, Esther und Horst Halfmann, bereits zwei Söhne. Ein drittes Kind war nicht geplant, da ihre finanziellen Verhältnisse begrenzt waren und ihr Wohnraum recht beengt. Ein Jahr später jedoch verbesserten sich ihre Lebensbedingungen und nun konnten sie sich durchaus vorstellen, noch ein drittes Kind zu bekommen. Bei der Vorstellung blieb es nicht, meine Mutter wurde schon bald schwanger und ich erblickte im Sommer 1966 in Remscheid das Licht der Welt.
Zunächst wohnten wir in einer kleinen Wohnung im Zentrum der Stadt, doch schon bald nach meiner Geburt erhielten meine Eltern das Angebot, ein Reihenhaus zu kaufen. Da sie eigentlich immer von dem Wunsch erfüllt waren, für uns Kinder ihr Bestes zu geben, nahm mein Vater diverse Kredite auf und arbeitete bis tief in die Nacht, um dieses Haus zu finanzieren. So zogen wir Anfang 1968 von der Remscheider Innenstadt nach Remscheid-Lennep, einem Stadtteil, der wie eine typische Kleinstadt im Bergischen Land wirkt. Wir wohnten auf dem »Hasenberg«, einem Wohngebiet, welches vor allem dadurch auffiel, dass fast alle Häuser mit schwarzem Schiefer verkleidet waren. – Wenn man mich heute einen alten »Schwarzseher« nennt, so mag das durchaus auf meine ersten Lebensjahre zurückgehen.
In Remscheid-Lennep verbrachte ich meine Kindheit und Jugend. Dort ging ich zur Schule und machte mit Freunden die Gegend unsicher. Außerdem besuchten meine Brüder und ich mit meinen Eltern die Freie evangelische Gemeinde (FeG), denn meine Eltern waren tief gläubige Menschen. Sie vertrauten auf Jesus Christus und folgten ihm nach. Dazu gehörte für sie ganz selbstverständlich die aktive Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche. Uns Kinder nahmen sie schon sehr früh in diese Kirche mit. Sonntags gab es dort parallel zum Gottesdienst für die Erwachsenen einen Kindergottesdienst.
So lernte ich schon als Kind die biblischen Geschichten kennen und hatte damals nicht die geringsten Zweifel daran, dass diese wahr sind und dass der Gott der Bibel wirklich existiert. Neben dem Kindergottesdienst am Sonntag ging ich als Schulkind unter der Woche noch in die Jungschar und später in den Jugendkreis der FeG. Im Keller des Gemeindehauses durften sich die Jugendlichen ihre eigenen Räume einrichten: mit Kicker, Billardtisch und abgewetzten Sofas. An den Wänden hingen die typischen Kawohl-Poster aus den frühen 80er-Jahren wie »Spuren im Sand«.
Für die Leiter unseres Jugendkreises war ich damals wohl eine ziemliche Herausforderung, denn es war sehr schwierig, an mich heranzukommen. Woran das lag, ahnten sie nicht, denn ich erzählte niemandem von den furchtbaren Gedanken und den Ängsten, unter denen ich litt. Manchmal haute ich mitten im Programm ab, um gemeinsam mit meiner Clique nach Wuppertal oder Köln zu fahren. Wenn es sein musste, stieg ich dafür auch aus dem Fenster. Und doch war diese Zeit für mich sehr wertvoll und prägend.
Unser Jugendraum hieß anfangs noch »Teestube« und wir tranken dort in der Tat eine Menge Tee und diskutierten dabei sehr engagiert. Trotz der großen Altersspanne (die Jüngste war 14 und der Älteste rund 30 Jahre alt) bildete unsere Gruppe eine enge Gemeinschaft. Einmal im Jahr gab es ein »WoKo«, ein »Wohnen & Kochen«. Dann wohnten wir über mehrere Tage in den Gemeinderäumen, wir schliefen und aßen dort und machten am Nachmittag unsere Hausaufgaben. Wir sangen auch viel, beteten und dachten über Gott und die Welt nach. In den Nächten spielten wir stundenlang »Risiko« oder »Monopoly«. Und ich war mittendrin. Ein Teil dieser Gemeinschaft. Ich gehörte dazu. Für einen Jugendlichen ist das sicher eine der wichtigsten Erfahrungen überhaupt: angenommen zu werden und dazuzugehören. Genau diese Erfahrung machte ich damals.
Der Jugendkreis der FeG war aber auch noch auf andere Weise prägend für mich, denn eines Tages tauchte dort ein junges Mädchen auf, das ich anfangs nur oberflächlich wahrnahm, weil ich zu sehr in meiner eigenen kleinen Welt feststeckte. Doch nach und nach wurde mir dieses Mädchen sympathischer und wichtiger, schlich sich in meine Gedanken und in mein Herz, sodass ich mich schließlich bis über beide Ohren in sie verliebte. So etwas hatte ich zuvor noch nicht erlebt – und es machte mich fertig. Denn woher sollte ich wissen, ob sie auch für mich etwas empfand?
Meine damalige Strategie war ziemlich bescheuert: Ich stellte mich bewusst kratzbürstig und abweisend, weil ich mir dachte: »Wenn sie dann immer noch was mit mir zu tun haben will, dann heißt das, dass sie mich auch liebt.« Das hätte ganz schön nach hinten losgehen können, doch Gott sei Dank ließ sich Claudia, trotz aller Fragen und Zweifel, damals nicht von meinem seltsamen Verhalten abschrecken. Sie wagte es doch tatsächlich, meine Freundin, Verlobte und Ehefrau zu werden.
Seit 1990 sind wir verheiratet, und für Claudia war d...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Haupttitel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Über den Autor
  6. Vorwort von Ulrich Eggers
  7. Vorwort von Dr. Wilfried Haßfeld
  8. Vorwort von Claudia Halfmann
  9. Prolog: Mein Leben proggt
  10. Teil 1 – Die Risse
  11. Teil 2 – Die Ursachen
  12. Teil 3 – Die Scherben
  13. Teil 4 – Der Meister
  14. Teil 5 – Das Gold
  15. Epilog: „Eines weiß ich“
  16. Zur Vertiefung
  17. Anmerkungen
  18. Leseempfehlungen