TEIL 1
Einführung in die Theorie des motivorientierten Führens
Hintergrund der motivorientierten Führung
Was ist motivorientierte Führung, was ist sie nicht? Der Ansatz der motivorientierten Führung ist weder Zauberei noch ein Allheilmittel. Vielleicht haben Sie sich selbst auch schon gefragt, warum es Ihnen so leichtfällt, manche Ihrer Führungsziele zu erreichen, während Sie in andere zwar viel Energie stecken, aber letztlich scheitern? Die Berücksichtigung der zentralen Motive Ihrer Mitarbeiter, also motivorientiertes Führen, kann Ihnen helfen, Ihre Führungsziele künftig schneller und effektiver zu erreichen. Schließlich liegen die Erkenntnisse des motivorientierten Führens bereits mehr oder weniger bewusst in Ihnen – in Ihrer Fähigkeit, sich selbst und andere einzuschätzen und Ihr Handeln danach auszurichten.
Theoretische Grundlagen
Ziel dieses Kapitels ist es, Ihnen einen Einblick in die motivations- und führungstheoretischen Grundlagen der motivorientierten Führung zu geben. Ihnen werden Antworten auf die drei folgenden Fragen gegeben:
• Was bedingt unser Verhalten?
• Wie ist Motivation erkennbar?
• Wie kann Führung auf Motive ausgerichtet werden?
Die folgende Einordnung der motivorientierten Führung in bestehende Theorien ist vor allem für die Leser von Interesse, die motivorientiertes Führen nicht nur anwenden, sondern als fundierte Einstellung zum Thema »Führung« für sich selbst annehmen wollen. Wer insbesondere an der Anwendung der motivorientierten Führung in der Praxis interessiert ist, kann gerne auch direkt zu den Handlungs- und Kommunikationsmaßnahmen vorblättern (siehe Kapitel “Kommunikations- und Handlungsweisen der motivorientierten Führung”). Er sollte sich jedoch bewusst machen, dass das grundlegende Verständnis der motivorientierten Führung durch die nachfolgenden Ausführungen einen nachhaltigen Erfolg in der Praxis bringt.
Was bedingt unser Verhalten?
Interne und externe Faktoren
Wenn Sie jemand fragen würde, was Ihrer Meinung nach Ihr Verhalten in den unterschiedlichsten Situationen beeinflusst – was würden Sie antworten? Vermutlich würden Sie in Ihrer Antwort damit beginnen, dass immer eine ganze Reihe von Komponenten für das Verhalten verantwortlich ist. Einige davon sind in Ihnen und Ihrer Persönlichkeit begründet, andere durch situative Faktoren beeinflusst.
Können, Wollen, Dürfen
Das Modell des Können, Wollen und Dürfen fasst diese internen und externen Bedingungsfaktoren für das Verhalten zusammen und stellt Begriffe zur Verfügung, mit deren Hilfe der Hintergrund von Verhalten näher beschrieben werden kann.
Abb. 1: Das Modell des Können, Wollen und Dürfen
Dabei ist das Wollen eines Mitarbeiters ein intern begründeter Einflussfaktor auf das Verhalten, während das Dürfen eine extern angesiedelte Komponente darstellt. Das Können wiederum ist sowohl durch den Menschen selbst als auch durch sein Umfeld bestimmt.
• Das Können eines Menschen beschreibt seine individuellen Fähigkeiten, die er im Laufe seines Lebens erworben hat. Ein Mitarbeiter z. B. besitzt bestimmte Fachkenntnisse und Erfahrungen, durch die er seine Aufgaben bearbeiten kann.
• Das Dürfen einer Person sind geschriebene und ungeschriebene Regeln und Normen des Verhaltens, die durch das Unternehmen, die Position oder die Führungskraft bestimmt sind. Beispielsweise darf ein Mitarbeiter nur in dem Rahmen Entscheidungen treffen, der ihm durch seine Führungskraft zur Verfügung gestellt wird.
• Das Wollen eines Menschen stellt seine Ziele und Motive dar, die er mit seinem Verhalten anstrebt. Sie sind wichtig und erstrebenswert für ihn. Beispiel: ein Mitarbeiter, der sich in einem bestimmten Gebiet weiterbilden und Expertise aufbauen will.
Einfluss der Führungskraft
Eine Führungskraft hat verschiedene Möglichkeiten, das Können, Dürfen und Wollen eines Mitarbeiters zu beeinflussen. Das Können eines Mitarbeiters kann weiter ausgebaut werden, wenn ihm zum Beispiel über Personalentwicklungsmaßnahmen wie fachliche Trainings die Mittel und Ressourcen dazu bereitgestellt werden. Des Weiteren kann eine Führungskraft in der Regel leicht Einfluss auf das Dürfen des Mitarbeiters ausüben, da die Gestaltung vieler Prozesse und Regeln unmittelbar in ihrem Einflussbereich liegt.
Um zu verstehen, inwiefern das Wollen eines Mitarbeiters durch die Führungskraft beeinflussbar ist, ist zunächst einmal die Frage zu beantworten, wie das individuelle Wollen eines Menschen zustande kommt.
Das Wollen im eigentlichen Sinne kann das Ergebnis von expliziten, zumeist rationalen Zielen und/oder impliziten, zumeist emotionalen Motiven, sein. Idealerweise ist es die Schnittmenge von beidem. Bildlich hilft es, sich Motive und Ziele als zwei Kreise vorzustellen, die sich überschneiden können:
Abb. 2: Explizite Ziele und implizite Motive, angelehnt an Kehr (2009)
Eine Führungskraft kann beispielsweise durch Zielvereinbarungsgespräche die expliziten Ziele eines Mitarbeiters beeinflussen, jedoch nicht seine impliziten Motive (die 16 Lebensmotive nach Steven Reiss).
Schnittmengenmodell nach Kehr
Diesen Zusammenhang zwischen bewusst oder unbewusst gesetzten Zielen und internen persönlichkeitsspezifischen Motiven eines Menschen beschreibt auch das Schnittmengenmodell von Motivation und Wille nach Hugo M. Kehr (2009) näher. Es entsteht danach intrinsische Motivation, wenn implizite Motive und explizite Ziele übereinstimmen:
• Implizite Motive bezeichnen stabile Prägungen, die uns antreiben und unsere Wahrnehmung beeinflussen. Oft nehmen wir diese als ein undeutliches »Bauchgefühl« wahr. In der Regel sind uns diese Motive nicht bewusst, sondern werden durch unser individuelles genetisches Erbe und unsere Erfahrungen in der frühen Kindheit geprägt.
• Explizite Ziele werden oft extern vorgegeben oder bewusst gesteckt. Sie sind durch sozialen Einfluss, Normen und Werte geprägt, da Ziele das Ergebnis unserer eigenen Erwartungen und der Erwartungen anderer sind.
Der Grad der Überschneidung drückt dabei aus, wie stark die Motive und Ziele eines Menschen übereinstimmen. In der Schnittmenge aus impliziten Motiven und expliziten Zielen sind wir intrinsisch motiviert – wir erledigen also eine Aufgabe, weil sie uns Spaß macht und wir das mit ihr verfolgte Ziel erreichen wollen. Bewegt man sich innerhalb dieser Schnittmenge, benötigt man keine besondere Willenskraft, um die Aufgabe zu erledigen und verfällt eventuell sogar in einen »Flow«. Wir nennen diese Fläche »Sweet-Spot«. Der Sweet-Spot ist eine besonders effektive Zone. Wenn sich etwas im Sweet-Spot befindet, hat es die optimale Wirkung. In Sportarten wie Tennis oder Golf ist es zum Beispiel der optimale Treffpunkt am Schläger. Mit wenig Kraft wird ein idealer Schlag ausgeübt.
Es gilt also:
Ein Verhalten kostet am wenigsten Kraft, wenn implizite Motive und explizite Ziele übereinstimmen.
Beispiel
Das implizite Motiv eines Mitarbeiters ist es, Kontakt zu Menschen zu haben und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Wenn er das explizite Ziel hat, ein Projektteam zusammenzustellen und mit ihnen gemeinsam eine Aufgabe zu bewältigen, wird es ihm mit großer Wahrscheinlichkeit sehr leichtfallen, das Ziel zu erreichen.
In diesem Beispiel gab es eine sehr große Schnittmenge, einen großen Sweet-Spot von impliziten Motiven und expliziten Zielen.
Im Gegensatz dazu ist es aber auch möglich, dass implizite Motive und explizite Ziele stark voneinander abweichen. Dies kann zum einen daran liegen, dass die Menschen ihre inneren Motive gar nicht kennen und sich Ziele wählen oder ihnen zustimmen, die nicht zu ihrer Persönlichkeit passen. Zum anderen ist es auch möglich, dass sie ihre Motive zwar kennen, sich jedoch bei der Auswahl ihrer Ziele von anderen Erwägungen leiten lassen.
Beispiel
Wenn ein Mitarbeiter ein Projektteam zusammenstellen soll, der durch den Kontakt zu Menschen und die Zusammenarbeit mit ihnen nicht motiviert wird, sondern lieber alleine arbeitet, wird es ihm natürlich möglich sein, aber eher schwerfallen, dieses Ziel zu erreichen.
Immer dann, wenn derartige Diskrepanzen zwischen den Motiven und Zielen eines Menschen bestehen, kann das Ziel nur mit viel Willenskraft, »Volition«, erreicht werden. Bestehen diese Diskrepanzen über lange Zeit, kann es zu starken inneren Konflikten und physischen wie psychischen Problemen kommen.
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg?
Bestimmt haben auch Sie schon einmal von Kollegen oder Freunden den Rat gehört: »Wenn du es wirklich willst, schaffst du es auch!« Das mag zwar kurzfristig stimmen, langfristig ist man jedoch in der Regel erfolgreicher, wenn die inneren Motive mit den gesetzten Zielen übereinstimmen. Die wahre Weisheit liegt also nicht in »Selbstüberlistung« und darin, nach der Maxime des »eisernen Willens« vorzugehen, sondern darin, gemäß der individuellen Motive zu handeln.
Was bedeuten diese Ausführungen zu den allgemeingültigen Faktoren, die das menschliche Verhalten bedingen, nun für die Mitarbeiterführung? Zentral ist die Erkenntnis:
Die Motivation eines Mitarbeiters kann gesteigert werden, wenn die gesetzten Ziele mit den individuellen Motiven des Mitarbeiters übereinstimmen.
Somit sollte in der Mitarbeiterführung zwar immer das Können, Dürfen und Wollen eines Mitarbeiters berücksichtigt werden. Den Ansatz- und Schwerpunkt der motivorientierten Führung stellt hingegen allein das Wollen dar. Auch wenn das Wollen eines Mitarbeiters durch seinen Vorgesetzten nur indirekt beeinflusst werden kann, ist es dennoch die Grundlage dafür, mit wie viel Energieaufwand und wie erfolgreich er die übertragenen Aufgaben erfüllen kann.
Ziel der motivationsorientierten Führung ist es, dem Mitarbeiter durch passgenaue Handlungs- und Kommunikationsmaßnahmen eine Plattform zu bieten, auf der die innere Motivation mit den vorgegebenen Zielen weitestgehend abgestimmt (worden) ist. So kann ein Mitarbeiter durch das Ausleben seiner Motive wie im »Flow« seine vorgegebenen Ziele erreichen.
Wie sind Motive erkennbar?
Um motivorientiert zu führen, ist es von entscheidender Bedeutung, die Motivation eines Mitarbeiters zu erkennen – nur auf dieser Basis können individuelle Handlungs- und Kommunikationsmaßnahmen entwickelt und angewendet werden. Doch wo ist dabei anzusetzen, wie ist die Motivation eines Menschen erkennbar? Die wissenschaftliche Motivationsforschung setzt sich schon seit Jahrzehnten mit dieser Fragestellung auseinander. In den folgenden Abschnitten möchten wir Ihnen verschiedene Ansätze der Motivationsforschung vorstellen, ihre praktische Anwendbarkeit diskutieren und Ihnen abschließend mit der Theorie der 16 Lebensmotive nach Prof. Steven Reiss einen entsprechenden Weg aufzeigen, wie die individuelle Motivation eines Menschen erkennbar gemacht werden kann.
Bedürfnispyramide nach Maslow
Eine der ersten Motivationstheorien überhaupt entwickelte Abraham Maslow 1943 mit seiner Bedürfnispyramide, die auch heute noch als Grundlage in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Motivation verwendet wird. Darin geht er von einer hierarchischen Anordnung menschlicher Bedürfnisse aus und differenziert die Motivation eines Menschen in fünf unterschiedliche Motivklassen, die aufeinander aufbauen:
Abb. 3: Die Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow
Schon Bertolt Brecht schreibt in seiner Dreigroschenoper: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« Ganz in diesem Sinne geht Maslow davon aus, dass zuerst die unterste Stufe der Bedürfnispyramide erfüllt sein muss, bevor das Bedürfnis nach der nächsthöheren Stufe zunimmt und ein Mensch beginnt, sein Verhalten auch auf deren Erfüllung auszurichten.
Defizitbedürfnisse
Die Basis der maslowschen Bedürfnispyramide bilden menschliche Grundbedürfnisse wie Atmung, Schlaf, Nahrung, Wärme und Sexualität, die zur Selbsterhaltung notwendig sind. Erst wenn diese erfüllt sind, entwickelt ein Mensch Sicherheits...