Vorsorge
An apple a day?
Einfache Frage: »Wann ist eine Organisation gesund?« Einfache Antwort: »Bei Abwesenheit von Krankheit.« Zumindest chronisch, also dauerhaft, darf sie nicht sein. Dass krankhafte Muster entstehen, wird sich nicht immer verhindern lassen. Dass die sich festsetzen und fortpflanzen, aber sehr wohl. Die Grundrezeptur für eine gesunde Organisation beruht auf Beobachtung und Diskurs mit und über sich selbst. Außerdem sollte Vorbeugung auf dem Programm stehen. »An apple a day keeps the doctor away« – ach, wenn es doch nur so einfach wäre. So komplex unsere Organisationen sind, so vielfältig sind auch die Ansatzpunkte und Stellhebel für die Prophylaxe. Viele haben Sie in den vergangenen Kapiteln als Akutbehandlung konkreter Krankheiten kennengelernt; diese möchte ich durch einige wesentliche Aspekte ergänzen und vertiefen.
Komplexes Denken
Es macht einen fundamentalen Unterschied, ob ich eine Organisation als Sammlung von Individuen oder als System betrachte. Im zweiten Fall achte ich auf Dynamiken und Zusammenhänge und suche nach Einsichten zum Systemverhalten. So werden nachhaltigere und tiefere Lösungen gefunden. An dieser Stelle erläutere ich einige Grundgedanken komplexen Denkens, für eine intensive Auseinandersetzung verweise ich auf meinen Bestseller Unkompliziert! (2018).
Ein System besteht aus (vielen) Elementen, die strukturell miteinander verbunden sind, woraus eine bestimmte Menge an Verhaltensweisen entsteht. Die Elemente sind Menschen, materielle Dinge (Produkte, Budget und so weiter) und auch Immaterielles (Vertrauen, Motivation und so weiter). Organisationen, Abteilungen, Teams sind soziale Systeme und per se schwer greifbar, weil sie nicht sichtbar sind. Das heißt, die Systemgrenzen (wer gehört dazu und wer nicht?) sind nicht immer eindeutig. Die Rückkopplungsprozesse innerhalb eines Systems sind sehr dynamisch, und ihre Robustheit führt manches Mal dazu, dass der Versuch von Veränderung scheitern muss, wenn er nicht entsprechende Relevanz für das System besitzt.
Wollen Sie Organisationen gesund, flexibel und anpassungsfähig halten, dann liegt der erste Schritt darin, die Wechselwirkungen und Muster zu beobachten, zu verstehen und passende Interventionen auszuwählen. Das geht eben nicht, indem man auf die Persönlichkeit der einzelnen Menschen abzielt, sondern über Einflussnahme auf das »große Ganze«. Und dazu muss man erkennen, auf welcher Ebene die größte Hebelwirkung für das aktuelle Problem liegt.
Wiederholen sich Ereignisse immer wieder, handelt es sich um ein Muster
Als Menschen in Unternehmen, egal, in welcher Funktion oder Rolle, agieren wir stark ereignisgesteuert. Es passiert etwas, wir reagieren. Eine Lieferung verspätet sich, Ersatz wird gesucht. Ein Fehler passiert, das Blame-Game läuft an. Ein Mitbewerber lanciert ein neues Produkt, wir überlegen schnell, wie der »Gegenschlag« aussehen kann. Auf Geschehnisse spontan reagieren ist (meistens) notwendig und gleichzeitig reicht es nicht. Ereignisse liefern uns keinerlei Erkenntnisse über die Zusammenhänge in unserem System. Bleibt es bei der reinen Ereignisbearbeitung, werden wir nichts lernen können und keine tiefen Einsichten gewinnen. Für einzelne Vorkommnisse ist das auch nicht relevant, wiederholen sich Ereignisse aber, handelt es sich möglicherweise um einen Trend, um ein Muster.
Um das zu erkennen, müssen Systeme über die Zeit betrachtet werden, denn nur dann lassen sich Ereignisse im Kontext erkennen und in Relation zueinander setzen. Werden beispielsweise Fehler immer wieder unter den Tisch gekehrt oder verzögern sich Lieferungen regelmäßig oder überziehen fast alle Projekte ihr Budget, haben wir es sicher mit Mustern und nicht mit Einzelereignissen zu tun. Jetzt liegt die Lösung nicht im schnellen Reparieren, sondern im Betrachten der Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Wir erkennen, wie das System tickt, und die dahinter liegende Struktur des Systems. Gemeint ist sowohl die formale als auch die informelle Struktur. In vielen Organisationen gehört es immer noch zur verabredeten informellen Struktur, dass im Fehlerfall ein Schuldiger gesucht und an den Pranger gestellt werden muss. Daraus entsteht sehr oft das Muster »Lieber keine Fehler machen – und wenn’s doch passiert, schnell wegducken«.
In tradierten zentralistisch-pyramidalen Organisationen, in denen Führungskräfte individuelle Zielvorgaben für ihren Bereich haben, ist ein Klassiker die mangelnde Kooperation gerade bei projektbezogener Arbeit. Kein Wunder, die Struktur zwingt die Menschen, den dabei entstehenden Zielkonflikt irgendwie zu beantworten. »Linie vor Projekt« ist die häufigste Antwort, die Lösung liegt dabei aber eben in der Struktur, nicht im Willen der Menschen. Auf der Ebene der Struktur finden sich viele Problemursachen und auch der wesentliche Hebel für deren Lösung. Über Verabredungen auf dieser Ebene wird Veränderung initiiert und die Zukunft gestaltet.
Nun entstehen die Strukturen einer Organisation auch nicht durch Zufall. Sie haben eine Basis, und zwar die mentalen Modelle. Was denkt man in einer Organisation über Zusammenarbeit? Welches Menschenbild existiert hier? Wie werden Kunden betrachtet? Was ist die gemeinsame Wertebasis in der Organisation? Glaubenssätze, Stereotype, Vorurteile bilden die mentale Basis der Organisation, und die sorgt dafür, dass die passenden Strukturen geschaffen werden. Vertrauen Sie darauf, dass die Menschen erwachsen und verantwortlich sind, so arbeiten Sie auf der Grundlage von Prinzipien miteinander. Glauben Sie nicht daran, formulieren Sie viele, viele Regeln bis ins kleinste Detail und kontrollieren deren Einhaltung. Glauben Sie daran, dass es den einen richtigen Führungsstil für Ihr Unternehmen gibt, lassen Sie alle Führungskräfte darauf trainieren und schaffen große Führungskräfteentwicklungsprogramme.
Die mentalen Modelle haben die größte Wirkung in einer Organisation und sind gleichzeitig zu einem erheblichen Teil unbewusst. Gesunde Organisationen sind sich ihrer Denkmodelle bewusst und validieren diese bei Bedarf. Sie verstehen, zu welchen Strukturen diese Glaubenssätze führen, und erkennen die Muster, die wiederum daraus entstehen. Komplexes Denken bedeutet, zu erkennen, auf welcher Ebene der Hebel für Problemlösung anzusetzen ist. Weg von der Personenorientierung, hin zum Systemverständnis.
Vertrauen
Üblicherweise neige ich nicht zu Pauschalaussagen, aber wenn es um den Aspekt der vertrauensvollen Zusammenarbeit geht, herrscht in kranken Organisationen Misstrauen. Da gibt es dann zunächst die Vorabstimmung im kleinen Kreis, um dann im größeren die Zuständigkeiten zu klären, damit dann in einem »statement of work« mit dem Kunden verabredet wird, wie alle Regeln eingehalten werden können und niemand einen Vorteil ziehen kann. Oder die Arbeitszeitkontrolle, die Tankvorschriften, das Excel-Reporting, die vielen Jours fixes und so weiter. Es gibt so viele Rituale, die zeigen, dass Kontrolle Vertrauen längst ersetzt hat. Dabei ist es meist nicht das Vertrauen zwischen den einzelnen Menschen, sondern auch hier ein systemischer Aspekt. Und so gesehen, hat Misstrauen dieselbe Funktion wie Vertrauen in einem sozialen System, Komplexitätsreduktion nämlich. Folge ich dem Vorschlag einer Kollegin ohne Hinterfragen, eigene Recherche oder sonstige Aktivitäten, weil ich ihr vertraue, kann ich die Komplexität des Themas, um das es geht, ausblenden. Umgekehrt sorgt Misstrauen für Kontroll- und Steuerungsmechanismen, die ebenfalls nicht mehr hinterfragt werden. Es ist ja klar, dass man an der Stelle nicht vertrauen kann.
Für die Genesung der Organisation und zur Gesunderhaltung ist Vertrauen essenziell, aber leider nicht per Knopfdruck einzuschalten. Es ist ein sozialer Prozess, Vertrauen wächst oder schrumpft über die Zeit, immer verbunden mit der Erfahrung aus der Vergangenheit und der Hoffnung auf die Zukunft. Vertrauen tun wir in zukünftiges Handeln anderer Menschen. Um Vertrauen aufzubauen, muss also einer oder eine den Anfang machen, sich als vertrauenswürdig erweisen. Dabei beobachten wir Menschen uns ganz genau, denn schließlich ist das Eis dünn, und es besteht jederzeit die Möglichkeit, enttäuscht zu werden. Dessen sind wir uns durchaus bewusst. Im Arbeitskontext kommt noch eine Vertrauensebene hinzu, die der Organisation nämlich. Mitarbeitende vertrauen auch auf die Organisation, auf das Unternehmen. Und hier sind verlässliche Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen die wesentlichen Aspekte. Für ein vertrauensvolles Miteinander sind die folgenden Faktoren wichtig und können als Wegweiser verstanden werden:
Verlässlichkeit, practice what you preach Offenheit in Bezug auf eigene Sichtweisen und Meinungen Aufrichtigkeit im Umgang miteinander Interesse an den Sichtweisen anderer Nicht zu vergessen ist das Vertrauen in die eigene Person und in die eigenen Fähigkeiten. Zudem ist es wichtig, deutlich zu machen, was einen selbst vertrauen lässt und welches Verhalten anderer Menschen zu mehr Misstrauen führt. Der Weg hierzu führt über Selbstreflexion.
Reflexion
Ein Muster, das ich bei Führungskräften sehr oft erlebe, ist mangelnde Übung in der Selbstreflexion. Dabei wäre das, wenn es nach mir ginge, schon Pflichtaufgabe ab den weiterführenden Schulen und in allen Aus- und Weiterbildungen. Unsere Bildungssysteme sind immer noch auf Verfügungswissen ausgerichtet, weniger auf Erkenntnisgewinn, weshalb viele Menschen erst im Erwachsenenalter und meist außerhalb der Unternehmen beginnen, Selbstreflexion zu trainieren.
In einer gesunden Organisation findet jeder Mensch seinen Platz durch die Auseinandersetzung mit den anderen, durch das Aushalten von gruppendynamischen Prozessen, durch Konflikte und deren Bereinigung. Damit das konstruktiv gelingt und die Menschen nicht laufend überfordert werden, ist Selbsterkenntnis notwendige Voraussetzung. Klar ist das am leichtesten mit einer professionellen Begleitung durch Coaching oder Supervision zu lernen, aber beginnen lässt sich auch im Kleinen. Eine erste gute Übung liegt darin, den Tag oder eine Situation Revue passieren zu lassen und darauf zu schauen, was gut und was nicht so gut gelungen ist. Versuchen Sie, die Vorgänge möglichst nur zu beschreiben und nicht sofort zu bewerten. Auf die beschreibende Ebene zu gehen, ermöglicht es Ihnen, die Situation distanziert zu betrachten und somit Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu erkennen. Was war Ihr Anteil an der Situation, wie haben Sie agiert und was hat Sie dazu bewogen? Versuchen Sie, Ihre Motive und Antreiber für Ihr Handeln und Reagieren zu reflektieren. Was brauchen Sie, um vertrauensvoll mit anderen arbeiten zu können?
Gerade als Führungskraft sollten Sie für sich eine klare Vorstellung von Ihrer Rolle haben und auch, warum genau Sie diese gerne füllen. In der Interaktion und Zusammenarbeit mit anderen Menschen gibt es viel über sich selbst zu lernen. Es spielt keine so große Rolle, wie Sie Reflexion beginnen und betreiben; Hauptsache, Sie tun es.
Auf Teamebene ist Reflexion ebenso wichtig und ebenso ungeübt. Ausnahmen finden sich heute in manchen agilen Teams, die über die turnusmäßigen Retrospektiven die Teamreflexion trainieren. Für notwendig halte ich persönlich zwei Arten von Reflexion: die über den Rückblick auf das Erreichte und die über die Art zu reflektieren, also eine Reflexion über die Reflexion.
Retrospektive
Die Arbeitsergebnisse und die Zusammenarbeit im Team stehen im Fokus einer Retrospektive, die regelmäßig durchgeführt wird. Sie ist ein Verbesserungsprozess, und so werden hier immer Entscheidungen getroffen, was zu verändern ist und wie das umgesetzt werden wird. Wer jeweils eingeladen wird und in welchem Rhythmus die Rückschau stattfindet, ist kontextabhängig. In agilen Teams liegt der Takt oft bei zwei bis vier Wochen. Diese Arbeitstreffen sind stringent moderiert...