1.Zusammenbruch
Vom Balkon meines Hotels in den Berchtesgadener Alpen genoss ich an einem strahlenden Augusttag den einzigartigen Blick auf den Hochkönig. Aber ich war nicht als Tourist hier und wollte auch nicht klettern. Ich war hier, um eine wichtige Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung über die Zukunft meines Unternehmens und eine Entscheidung über meine eigene Zukunft.
Eine Entscheidung, die mir vor einem knappen halben Jahr noch völlig undenkbar erschienen war. So viel war seither geschehen! Ich versuchte mich möglichst genau zu erinnern, ganz in die Vergangenheit einzutauchen und begann in meinem Tagebuch, das ich seit dieser Zeit führte, zu blättern.
Vor einem halben Jahr also, es war Freitag, der 3. März 2006, saß ich ebenfalls in einem Hotelzimmer. Ich hatte an jenem 3. März abends eingecheckt, um die folgenden zwei Tage mit einem Unternehmercoach zu verbringen.
Offen gestanden fehlte nicht viel und ich wäre wieder abgereist, noch bevor ich diesen Unternehmercoach überhaupt gesehen hatte. Berater waren in meinen Augen schon immer Zeit- und Geldverschwendung. Und meine Erfahrungen mit den ersten Gründungsberatern bestärkten mich noch in dieser Ansicht. Die meisten von ihnen hatten selbst noch nie ein Unternehmen gegründet, wollten aber anderen Menschen erklären, wie es geht.
Als ich ebenjenem Unternehmercoach, Wolfgang Radies, bei unserem ersten Telefonat meine ablehnende Haltung deutlich machte, lachte er nur und gab mir recht: »Stimmt, bei neunzig Prozent aller Berater ist das so. Genauso, wie neunzig Prozent aller Filme, neunzig Prozent aller Mitarbeiter und neunzig Prozent aller Unternehmen nicht unseren Idealvorstellungen entsprechen. Sie müssen halt lernen, die zehn Prozent zu finden, die etwas taugen.« Damit war ich dann doch neugierig geworden und hatte zugesagt.
Meine Gedanken schweiften noch weiter zurück. Eigentlich hatte alles nochmals vier Jahre zuvor begonnen, Anfang 2002. Ich hatte gerade den Crash der New Economy zu spüren bekommen. Mein damaliger Arbeitgeber ging pleite und ich wurde arbeitslos. Zuerst wollte ich zwei Monate im Himalaja eine Trekkingtour machen, um meinen Kopf für eine neue Perspektive frei zu bekommen. Kurz vor meiner Abfahrt rief jedoch ein ehemaliger Kunde meines Ex-Arbeitgebers an, der ganz dringend eine Erweiterung der Software, die wir ihm programmiert hatten, benötigte. Also verschob ich die Abfahrt und sagte zu. So kam ich zu meinem ersten Auftrag. Oder genauer: So kam mein erster Auftrag zu mir.
Ich erweiterte also die Software seines Internetportals um die gewünschten Funktionen. Noch während ich dabei war, fragte ein weiterer ehemaliger Kunde nach und ich nahm auch diesen Auftrag an. Dann folgte ein Auftragsloch. Eigentlich hätte ich nun meine Trekkingtour machen können, aber ich befürchtete, dass ich danach keine neuen Aufträge bekäme. Also blieb ich zu Hause und akquirierte neue Aufträge. Schließlich gewann ich meine ersten »eigenen« Kunden.
Meine Tätigkeit gewann immer neue Dynamik und ich schuftete nun schon sechzig bis siebzig Stunden pro Woche, um alles abzuarbeiten. Damals, im Jahr 2002, war das viel und zeugte von ersten Erfolgen. Vor einem halben Jahr hingegen, im Februar 2006, wäre mir das wie Faulenzen erschienen. Anfang 2003 musste ich einen ersten Mitarbeiter einstellen, da ich die Aufträge andernfalls nicht mehr bewältigt hätte. So fragte ich Ann, eine befreundete Web-Programmiererin, ob sie bei mir arbeiten wolle. Und um dem Unternehmen auch eine Form zu geben, gründete ich mit den Einnahmen des ersten Jahres eine GmbH, die WWW GmbH. Der Name war aus einer Bierlaune entstanden: Willmanns Wahnsinns-Websites. Thomas Willmann, das bin ich. Aber wir waren damals alle noch von der New Economy berauscht.
Im zweiten und dritten Jahr legten wir aus eigener Kraft ein beachtliches Wachstum hin. Mitten im Niedergang der New Economy zog ich ein dynamisches New-Economy-Unternehmen hoch. Ich fühlte mich unverwundbar. Ich war der König. Der König von vierzehn weiteren Mitarbeitern. Nicht, dass ich das ausgenutzt hätte, aber ich fühlte mich sehr wichtig und bedeutend. Es gab nichts, was ich nicht konnte. Deshalb mischte ich überall mit. Ich programmierte, ich machte die Buchführung, den Vertrieb, den Support. Ich stellte Mitarbeiter ein und entließ andere. Inzwischen arbeitete ich neunzig Stunden und mehr und fühlte mich wohl dabei. Ja, man kann sagen, dass ich damals auf meine Leistungen stolz war.
2005, im vierten Jahr meines Unternehmens, verlangsamte sich alles. Wir blieben insgesamt fünfzehn Mitarbeiter. Die Umsätze stagnierten und wir machten erste leichte Verluste. Trotz Wirtschaftsaufschwung. Zwar hatte ich eine Kontokorrentlinie von 100 000 Euro und dort noch ordentlich Luft, aber dennoch begann ich mir langsam Sorgen zu machen. Allein die Gehälter und Lohnnebenkosten lagen bei knapp 60 000 Euro im Monat.
Oft konnte ich nicht mehr richtig schlafen oder fühlte mich ziemlich schlapp. Anfang Februar 2006 schickte mir meine damalige Partnerin eine E-Mail, in der sie mir das Ende unserer Beziehung mitteilte: »Ich hätte es Dir gerne persönlich gesagt, aber Du hattest in den letzten zwei Wochen keine Zeit für ein Gespräch – übrigens genauso wenig wie in den zwei Jahren zuvor.«
Ziemlich geschockt fand ich am selben Tag die Kündigung von Bernd Schaad, unserem Account-Manager, auf meinem Schreibtisch. Er war erst gar nicht mehr zur Arbeit erschienen, da er noch so viel Resturlaub hatte. Das war das erste Mal seit über vier Jahren, dass ich einfach das Büro verließ und nach Hause fuhr. Ich wollte etwas Zeit für mich haben.
Kaum war ich dort angekommen, klingelte das Handy. Maria, meine Sekretärin, teilte mir mit, dass uns einer unserer Kunden verklagte, weil er mit unseren Leistungen nicht zufrieden war. Laut fluchend warf ich das Handy in die Ecke und stierte es einige Zeit an. Dann nahm ich meinen Autoschlüssel. Wieder keine Zeit zum Nachdenken: Krisenmanagement war angesagt.
In den folgenden Tagen übernahm ich auch die Vertriebsarbeit von Bernd Schaad und hätte wohl erstmals eine 110-Stunden-Woche erreicht, wenn nicht, ja wenn nicht alles anders gekommen wäre. Ann kam zu mir ins Büro und legte ihre Kündigung auf den Tisch. Sie finde alles zu perspektivlos und inhaltsleer. Und sie würde mit zwei Freunden mit dem Fahrrad in achtzig Tagen von Berlin nach Peking fahren. Etwas irre war sie schon immer. Aber so irre? Und ausgerechnet jetzt? Sie entgegnete nur, dass es immer besser sei, von Bord zu gehen, bevor das Schiff ganz untergegangen sei.
Etwas konsterniert schaute ich sie an. Untergehendes Schiff? Und genau in diesem Moment bewegte sich die Tischplatte ganz langsam von links nach rechts durch mein Gesichtsfeld. Dort tauchte dann auf einmal mein Computer auf, der sonst immer unter dem Tisch stand. Das kam mir merkwürdig vor. Dann wurde alles dunkel.
Später wachte ich im Krankenhaus auf. Ich fühlte mich wie durch den Fleischwolf gedreht. Ich, Thomas Willmann, der unverwundbare König, war einfach zusammengeklappt. Wegen einer simplen Kündigung. Die Ärztin verordnete mir drei Wochen Ruhe – ohne Arbeit, ohne E-Mails, ohne Telefon. Zuerst versuchte ich dies zu umgehen, scheiterte dabei aber an Maria. Sie nahm das Verbot der Ärztin offensichtlich ernst, warf mich aus der Leitung und ließ meinen E-Mail-Account von unserem Administrator sperren. Ich war zu schlapp, um dagegen vorzugehen. Aber ich nahm mir vor, nach meiner Rückkehr in meine Firma ein Wörtchen mit ihr zu reden. Das war schließlich meine Firma und nicht ihre!
In den folgenden Tagen wurde ich etwas ruhiger. Schließlich besuchte mich eine Bekannte, ebenfalls Unternehmerin. Ich hatte sie immer bewundert: Sie schaffte es, ihr Unternehmen zu führen, eine erfüllte Partnerschaft zu leben und ihr Kind zu erziehen. Und wirkte dabei sehr ausgeglichen. Als ich ihr dies sagte, erzählte sie mir von diesem Herrn Radies. Sie wäre bis vor drei Jahren auch im Chaos ertrunken, aber dann hätte sich mit seiner Hilfe alles gewendet. Ich solle ihn doch anrufen, vielleicht könne er mir ja ebenfalls helfen. Zuerst lehnte ich ab, ich wäre ja schließlich in zehn Tagen wieder fit und gesund, aber meine Bekannte wählte einfach eine Nummer und drückte mir ihr Handy in die Hand.
Und nun hatten wir Freitagabend, den 3. März 2006. Die folgenden beiden Tage würde ich mit diesem Psychotypen Radies verschwenden und am Montag könnte ich mich wieder in meine eigentliche Arbeit stürzen. Es war mit Sicherheit viel liegen geblieben. Gut, dass ich mich einigermaßen fit fühlte.
2.Fachkraft oder Unternehmer?
(Samstag, 4. März)
2.1Entscheidender Engpass
Am nächsten Morgen kam ich einige Minuten zu spät in das Besprechungszimmer, das Maria im Hotel angemietet hatte. Herr Radies, ein Mittfünfziger, klein gewachsen, schlank, teuer und dezent gekleidet und dennoch etwas kauzig wirkend, wartete schon. Als ich ihn ziemlich zurückhaltend begrüßte, sah er mich leicht schräg von unten an. Immerhin schien er zu merken, dass meine Vorfreude nicht übermäßig groß war.
Er drehte sich um und ging zum Fenster. »Nehmen wir einmal an«, begrüßte er mich, während er durch die breite Fensterfront des Besprechungsraums ins grüne Tal blickte, »Sie könnten sich bei einer guten Fee eine Person wünschen, die Sie in Ihrem Unternehmen unterstützen würde. Was für eine Person wäre das?«
»Jemand, der mir einen großen Teil meiner Arbeit abnimmt!«, entgegnete ich, ohne nachzudenken.
»Dazu stellen Sie einfach jemanden ein. Wozu brauchen Sie da eine gute Fee?«, erwiderte Herr Radies leicht ungeduldig. »Also noch mal: Wenn Sie sich eine Person wünschen könnten, die Sie unterstützen würde, was für eine Person wäre das?«
Etwas nachdenklicher erwiderte ich: »Ich hätte gerne jemanden, der mir hilft, mein Unternehmen wieder auf den Wachstumspfad zu bringen. Jemanden, der Erfahrung hat und selbst Unternehmer ist. Am besten jemanden, der auch schon solche stressigen Situationen durchgemacht hat. Zufrieden?«
Flink wie ein Wiesel bewegte sich Herr Radies zum Flipchart und schrieb:
•Wachstum des Unternehmens
•Erfahrener Unternehmer
•Kennt Stresssituationen
»Noch was?«, fragte er.
»Erst mal nicht«, schüttelte ich den Kopf. Irgendwie hatte ich den Verdacht, dass er mich reingelegt hatte.
»Gut, da Sie offensichtlich Ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben, möchte ich Ihnen ein bisschen von mir erzählen.«
»Welche Hausaufgaben?«, erkundigte ich mich etwas irritiert.
»Nun, Sie hätten sich über mich informieren können. Wie sonst wollen Sie herausfinden, ob ich zu den zehn Prozent der Berater gehöre, die Ihnen in Ihrer Situation helfen können?
Also von vorne: Vor siebenundzwanzig Jahren gründete ich mein erstes Unternehmen. Elektronik-Versandhandel. Nach drei Jahren hatte ich fünfzig Mitarbeiter. Nach vier Jahren war ich pleite. Da mir Deutschland zu jener Zeit etwas zu ungemütlich wurde, ging ich in die USA und gründete dort ein neues Unternehmen. Verkauf von Apple-Computern. Das lief am Anfang wie geschnitten Brot. Bald hatte ich wieder dreißig Mitarbeiter und zahlte meine Schulden in Deutschland zurück.
Dummerweise hatte ich aber aufs falsche Pferd gesetzt. Apple setzte sich im professionellen Bereich nicht gegen den PC und im Consumer-Bereich nicht gegen Commodore und Atari durch. Ich hielt Apple selbst dann noch die Treue, als mein damaliges Idol, Steve Jobs, der Gründer von Apple, aus seiner eigenen Firma herausgeworfen wurde. Mit Arbeitseinsatz versuchte ich dagegenzuhalten, brach aber gesundheitlich zusammen. Einer meiner Mitarbeiter übernahm in dieser Situation meine Firma für einen Appel und ein Ei.
Wochenlang machte ich erst mal gar nichts. Ich fühlte mich körperlich am Ende, depressiv und hatte starke Zweifel bekommen, ob ich als Unternehmer überhaupt etwas taugte. Schließlich begann ich in den USA herumzureisen und machte dabei die Bekanntschaft eines erfahrenen Unternehmers. Von diesem lernte ich drei Jahre lang das Einmaleins der Unternehmensführung, bekam wieder neuen Mut und ging unmittelbar nach der Wende zurück nach Deutschland. Seither habe ich drei Unternehmen gegründet. Eines dümpelt vor sich hin und zwei funktionieren ziemlich gut.«
Mit wachsender Neugier hatte ich zugehört. »Sie sind also gar kein Psychocoach?« Dabei fiel mein Blick auf das Flipchart. Lachend ergänzte ich: »Stattdessen kommen Sie von der guten Fee. Das ist natürlich was ganz anderes!« Nun, vielleicht würde der Tag doch noch spannend werden.
Herr Radies verdrehte leicht die Augen. Kopfschüttelnd entgegnete er: »Wieso wollten Sie einen Psychocoach? Wenn Sie Sportler sind, suchen Sie sich doch auch einen Coach, der schon mal dieselbe Sportart ausgeübt hat. Aber lassen wir das. Sie hatten mir am Telefon erzählt, dass Sie zusammengebrochen sind, und ich habe ein bisschen über Ihr Unternehmen recherchiert. Aber am besten schildern Sie mir noch mal die Entwicklung und die Herausforderungen aus Ihrer Sicht. Einverstanden?«
Ich nickte. Während ich Herrn Radies meine Geschichte erzählte, hörte er aufmerksam zu. Immer wieder schrieb er Stichworte auf gelbe Post-it-Zettel. Zwischendurch stellte er einige Fragen und schrieb auch dazu wieder Stichworte auf. Als ich fertig war, klebte Herr Radies acht beschriebene Zettel untereinander an das Flipchart. »Das sind die Dinge, die in den letzten Wochen schiefgegangen sind oder zumindest nicht so funktioniert haben, wie Sie sich das vorstellten. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass das eine ziemliche Häufung von Problemen ist?«
»Ja, schon«, erwiderte ich, »aber das ist eben manchmal so, dass sich schlechte Ereignisse häufen. In anderen Zeiten häufen sich ja auch gute Ereignisse.«
»Sie sagen also, es sei eben manchmal so, dass sich schlechte Ereignisse häufen. Diese Beobachtung habe ich, wie Sie aus meiner Ges...