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LEADER-WAHL
Woran erkennen Sie einen starken Leader? Ein kleines Gedankenspiel verdeutlicht, wie schnell man sich irren kann, wenn es um Leadership-Qualitäten geht. Stellen Sie sich vor, es wird ein neuer Weltherrscher gewählt, und auch Ihre Stimme ist gefragt. Hier sind die Anwärter auf den begehrten Posten:
•Kandidat A steht unter Korruptionsverdacht. Vor wichtigen Entscheidungen konsultiert er einen Astrologen. Er hat zwei Geliebte. Außerdem ist er Kettenraucher und trinkt acht bis zehn Gläser Martini am Tag.
•Kandidat B ist schon zweimal aus hohen Positionen geflogen. Er schläft gern bis mittags. Schon an der Uni nahm er Drogen, bei der Arbeit hilft er auch chemisch nach, und er säuft wie ein Loch.
•Kandidat C hat beachtliche internationale Erfolge vorzuweisen. Er ist Vegetarier, er raucht nicht, trinkt höchstens ab und zu mal ein Bier und hatte noch nie eine außereheliche Affäre.
Wer wäre Ihr Favorit? Der Korrupte mit den zwei Geliebten? Der Säufer, der immer rausfliegt? Oder der erfolgreiche Vegetarier? Sie ahnen natürlich, dass ich versuche Sie hinters Licht zu führen. Doch wenn das die Fakten wären, die Sie nach allgemeiner Informationslage tatsächlich über die Leadership-Kandidaten bei einer wichtigen Wahl hätten – das Informationszeitalter macht es möglich –, wem würden Sie Ihre Stimme geben?
Die Auflösung: Kandidat A ist Franklin D. Roosevelt. Der war tatsächlich ein berüchtigter Leichtfuß. Der Secret Service musste ihn öfter mal singend ins Bett tragen. Als erste Amtshandlung als Präsident der USA schaffte er die Prohibition ab. Die Amerikaner durften also endlich wieder das Glas heben. Nicht, dass er selbst sich jemals vom Alkoholverbot hätte abhalten lassen. Trotz allem gilt Roosevelt bis heute vielen als der beste Präsident, den die Vereinigten Staaten je hatten. Mit dem „New Deal“ hat er die Finanzwirtschaft auf Vordermann gebracht. So einen könnten wir heute doch auch gut gebrauchen, oder? Mit der Politik der guten Nachbarschaft wurde er zur Speerspitze gegen den Nationalismus in Europa, sozusagen ein Anti-Donald-Trump. Er wurde dreimal als amerikanischer Präsident wiedergewählt. Ein genialer Leader – ohne Frage.
Kandidat B ist kein Geringerer als Winston Churchill. Auch eine großartige Führungskraft. Schon als junger Soldat hat er ganze Regimenter das Fürchten gelehrt. Mit Regeln und Autoritäten hatte er aber so seine Schwierigkeiten. Als General wurde er im Ersten Weltkrieg gefeuert. Man merkte ihm nie an, wie viel er trank. Amphetamine nahm er auch. Vor allem während des Zweiten Weltkriegs. Um wach zu bleiben, wenn er den nächsten Schachzug gegen Hitler plante. Und den hat er Gott sei Dank besiegt, wie wir wissen. Dieser Leader hat Europa gerettet.
Apropos: Falls Sie sich unter den drei Möglichkeiten für Kandidat C entschieden haben, den erfolgreichen Vegetarier, dann haben Sie gerade Adolf Hitler zum Weltherrscher gewählt. Es ist nicht leicht, einen guten Leader zu erkennen. Was eine gute Führungskraft ausmacht, ist eine sehr komplexe Frage, auf die es viele, individuell und situativ sehr unterschiedliche gute Antworten gibt. Ich weiß das, denn ich habe selbst unter sehr verschiedenen Führungskräften gearbeitet. Ich befinde mich selbst mitten auf einem langen Weg als Leader. Wenn Sie versprechen, mich nicht als schizophren abzustempeln: Ich bin wohl selbst schon verschiedene Leader gewesen. Die Verantwortung, die Macht und die Umstände verändern uns auf vielfältige Weise. Meinen Sie nicht? Und schließlich habe ich selbst schon sehr viele Führungskräfte gewählt. Keine Weltherrscher – jedenfalls bisher –, aber doch die Menschen, denen ich die Geschicke meiner eigenen Unternehmen anvertraue. Ich bin vor allem Unternehmer. Nach dieser Prämisse suche ich auch meine Führungskräfte aus.
Gerade aus der Perspektive als Unternehmer heraus komme ich zu dem Schluss: Es ist nicht leicht, einen guten Leader zu erkennen. Nicht mal im Spiegel, wenn er vor Ihnen steht … Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Ich wünsche mir nicht, dass meine Führungskräfte alle korrupte Säufer sind. Ich will Sie auch nicht dazu animieren, nur noch notorische Leichtfüße einzustellen. Und ich will ganz bestimmt nicht behaupten, dass alle Vegetarier schlechte Leader sind. Der Grund, warum ich Sie bei der Wahl eines Weltherrschers hinters Licht geführt habe, ist ein anderer. Ich wollte Ihnen etwas demonstrieren:
Die Qualifikation für exzellente Führung steht nicht im Lebenslauf.
Blöd, ich weiß. Der eine oder andere Personaler mag mich vielleicht jetzt schon nicht mehr. Doch es gibt ihn leider nicht, den diagnostischen Lebenslauf. Es gibt ihn nicht, den umfassenden Leadership-Studiengang. Und selbst wenn es ihn gäbe, würde er angehende Führungskräfte wohl nie qualifizieren können für das, was wir in unseren Unternehmen täglich erleben. Führung ist Leben, und Leben kann man niemandem beibringen.
Oder doch? Kinder lernen durch Vorbilder alles, was sie zum Leben brauchen. Essen, laufen, sogar wie man schlechte Laune zum Ausdruck bringt. Warum Schreien sich lohnen kann und warum man demjenigen schöne Augen machen sollte, der Zugang zum Süßigkeiten-Reservoir hat. Solche Dinge lernen unsere Kinder von uns – und noch ganz andere.
Wenn wir einen guten Leader schon nicht an der Nasenspitze erkennen können – dann vielleicht wenigstens einen schlechten? Wie verhindert man, dass man versehentlich einen Adolf Hitler an die Spitze eines Unternehmens, einer Abteilung oder eines Teams setzt? Und wenn man doch die falsche Person auf den Führungsposten gesetzt hat – merkt man das wenigstens im Nachhinein? Theoretisch ja, praktisch aber oft nein. Die fiktive Präsidentenwahl zum Einstieg hat uns etwas vor Augen geführt, das mich im Unternehmensalltag schon einige Male teuer zu stehen gekommen ist, monetär und emotional: Die gefährlichen unter den Alphatieren sind sehr gut im Verkleiden. Und nicht nur sie. Auch die harmloseren Vertreter, die nicht gleich die Welt anzünden, sondern „nur“ dem Unternehmen schaden. Und auch die, die es einfach nicht besser wissen. Letztere bilden vermutlich die größte Gruppe unter jenen, die wir nicht als gute Leader einstufen können. Das ist aber auch eine gute Nachricht: Die meisten schlechten Leader sind nicht freiwillig schlechte Leader. Sie wissen nur nicht, wie es anders geht – weil es ihnen niemand gezeigt hat. Sie haben gelernt, dass man demjenigen schöne Augen machen sollte, der den Schlüssel zur Schatztruhe hütet, und dem folgen sie dann auf Gedeih und Verderb. Genau hier liegt der Schlüssel. Nicht der zur Schatztruhe, sondern zur Antwort auf die Frage, woran man schlechte Leader erkennt. Alle schlechten Führungskräfte, die gefährlichen und die harmlosen, haben eines gemeinsam: Sie haben es nicht so mit der Freiheit. Sie funktionieren am besten in der Abhängigkeit. Was gute Leader stärkt und Führung erst ihren tieferen Sinn gibt, ist für sie am schwersten zu ertragen.
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GESTATTEN: COMO
Welcome to Monkey Business, wo Freiheit ein Schimpfwort ist. Die Führungskräfte, die ich meine, gibt es in jedem Unternehmen. Auf allen Ebenen sind sie anzutreffen. Von ganz unten in der Hierarchie bis hinauf in den Vorstand. Das sind die Führungskräfte, die sich pudelwohl fühlen im Zwangskorsett der Abhängigkeiten. Sie tragen den richtigen Anzug. Sie hangeln sich mehr oder weniger elegant die Karriereleiter hoch. Sie küssen im Vorbeigehen die richtigen Hintern. Sie scheinen immer den richtigen Riecher zu haben, um es noch einen Schritt weiter nach oben zu bringen. Aber eigentlich ist alles, was sie tun und sagen, irrelevant.
Diese Spezies hat einen Namen. Ich nenne sie Corporate Monkeys. Kurz: COMOs. Und was sie tun, das nennen sie Führung. Sie jagen alle der gleichen Kokosnuss hinterher. Und diese Kokosnuss, die nennen sie dann auch noch Erfolg. Corporate Monkeys machen Führung durchschnittlich. Und, was noch viel wichtiger ist:
Dieser Spezies fehlt das, was Führung erst ihren Sinn gibt: der Wille zur Freiheit. Ich bin mir ganz sicher: Ihnen gehen die Corporate Monkeys genauso auf die Nerven wie mir. Auch Sie wollen anders führen und anders geführt werden, als die COMOs es Ihnen vorleben. Sie wollen auch anders erfolgreich sein – wirklich erfolgreich sein für Mitarbeiter, für Ihre Kunden, für Ihr Unternehmen. Am Ende auch für sich selbst. Davon bin ich überzeugt, denn da geht es mir nicht anders als Ihnen: Auch ich habe oft unter schlechter Führung gelitten, und auch ich habe schlecht geführt.
Ganz recht: Auch ich war mehrfach kurz davor, zum Corporate Monkey zu mutieren. Vielleicht habe ich die Grenze sogar ein paarmal überschritten. Ganz bestimmt habe ich das eine oder andere Mal die falsche Entscheidung getroffen. Und damit nähern wir uns des Pudels Kern, denn das ist das Spielfeld der Führung: Führen heißt entscheiden.
KEINE ENTSCHEIDUNGSFREIHEIT, NIRGENDS
Kennen Sie das Dilemma der Alphatiere? Sie wollen alles entscheiden und müssen dann eben auch jede Entscheidung treffen, die sie an sich gerissen haben. Und kennen Sie das Dilemma der dressierten Alphatiere? Sie wollen alles entscheiden, dürfen aber nicht.
Ich ging 1993 nach Dresden. Als Pre-Opening-Manager und designierter F&B-Direktor sollte ich das historische „Kempinski Hotel Taschenbergpalais“ mit aufbauen. Die erste Adresse in einer Stadt, die gerade mitten im Umbruch ist. Dresden war 1993 noch eine ziemliche Ruine. Kopfsteinpflaster, verfallene Fassaden, viel Grau. Aber gleichzeitig ein Mekka der Kulturwelt: In der Semperoper gab sich alles die Klinke in die Hand, was Rang und Namen hatte. Und drum herum war noch architektonischer Sozialismus. Das war wirklich spannend.
Das Problem war nur: Ich mache mich nicht so gut als dressiertes Alphatier. Wenn ich zu wenig Freiheit habe, bekomme ich einen Lagerkoller. Und der kam in Dresden ziemlich schnell, obwohl ich mich in der Stadt damals sehr wohlfühlte. Was mich bei der Stange gehalten hat, war die Herausforderung. Man bekommt ja nicht jeden Tag die Chance, ein historisches Hotel direkt neben der Semperoper neu zu eröffnen.
Wenn Sie ein Fünf-Sterne-Hotel eröffnen, dann treffen Sie täglich 100 Entscheidungen. Oder vielmehr: Sie müssten täglich 100 Entscheidungen treffen. Wogegen ganz und gar nichts auszusetzen ist, wenn man denn alles selbst entscheiden könnte. Aber als dressiertes Alphatier trifft man diese Entscheidungen eben nicht allein, zumindest nicht verantwortlich. Stattdessen werden sie konsensiert. In den meisten größeren Unternehmen braucht es für jede Entscheidung, die über den Wechsel einer Glühbirne hinausgeht – und selbst da hört es in manchen Unternehmen schon auf – irgendein Gremium.
Schon der Begriff „Gremium“ löst bei den meisten von uns ein weiteres Reizwort aus: Meeting. Das sind die Sitzungen, bei denen die COMOs unterm Tisch verstohlen Taschenbillard spielen, während am Kopfende der langen Tafel irgendein höheres Tier einen ordentlichen Affentanz veranstaltet.
In Dresden beginne ich nicht zum ersten Mal, aber in bis dahin ungeahnter Form unter dieser Kultur zu leiden. Ich bin der Gastronomiedirektor dieses Hotels, aber ich darf nicht mal das Geschirr selbstständig aussuchen. Ich muss jeden verdammten Teller mit einem Gremium klären, das aus der gesamten Führungsmannscha...