Der Unbequeme
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Der Unbequeme

Autobiografische Notizen

  1. 340 Seiten
  2. German
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Der Unbequeme

Autobiografische Notizen

Über dieses Buch

Fr ein Ende der Redeverbote; unter diesem Motto beleuchtet Arnulf Baring Schlüsselszenen seiner Biografie. Auf spannende Weise wird nachvollziehbar, wie seine persönlichen Erlebnisse und seine manchmal provozierenden Thesen miteinander verschränkt sind. Ausfhrlich erzählt er von seiner Kindheit im Dritten Reich, von Paraden und Bombennächten, aber auch von familiären Prägungen und bürgerlicher Normalität. Er schildert das politische Klima der Nachkriegsjahre, seine Erfahrungen als international geschätzter Hochschullehrer und seine Zeit im Bundespräsidialamt, die ihn zum exponierten Chronisten der Ära Brandt/Scheel machte. Zugleich ist das Buch eine meinungsfreudige, höchst aktuelle Bilanz des politischen Essayisten. Zu den Reizthemen gehören Fragen der deutschen Identität im Spannungsfeld von historischer Schuld und gegenwärtiger Krise der europäischen Union sowie Anmerkungen zum politischen und privaten Alltag als Spiegel gesellschaftlicher Verwerfungen. Damit gibt Baring ebenso überraschende wie aufschlussreiche Einblicke in den intellektuellen Kosmos seines Denkens und erweist sich nicht zuletzt als groáßartiger Erzähler. Schon Sebastian Haffner urteilte ber ihn: 'Er ist vielleicht das größte Erzähltalent unter heute schreibenden deutschen Historikern; es ist unmöglich, von Baring nicht gefesselt zu sein.'

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Kapitel 1

DIE DEUTSCHE WUNDE

Was ist deutsch?

Wer sind wir? Was macht uns jenseits zeitgebundener Ideologien zum deutschen Volk? Sind wir eine ethnische Einheit, Rasse, gemeinsam in Blut, Haut und Haar? Nach 1945 und im Zeichen der multikulturellen Gesellschaft wird dies niemand mehr behaupten wollen. Ist Deutschland räumlich und historisch zu fassen als von Deutschen bewohntes Mitteleuropa, als Einheit des geschichtlichen Schicksals? Welche Rolle spielt die Sprache, von der Wilhelm von Humboldt sagte, sie sei Ausdruck der »Geisteseigentümlichkeit« eines Volkes? Oder sind wir Deutschen eine psychologische Gegebenheit – eine Einheit des Fühlens, Empfindens und Erlebens, eine gemeinsame Volksseele?
Diese Fragen beschäftigen mich seit Langem. Im Laufe der jüngeren Geschichte ist die deutsche Identität allerdings häufiger problematisiert als fröhlich bejaht worden. Bis heute tun wir uns schwer mit der Frage, was denn das spezifisch Deutsche ausmache. Man ist vorsichtig geworden. Die Stärken der Deutschen, ihr Organisationstalent, ihr Fleiß, ihre Tüchtigkeit – waren das nicht gerade jene Eigenschaften, die während des Dritten Reichs Gräueltaten im großen Stil ermöglichten? Haben sich sogenannte Sekundärtugenden wie Ordnung, Disziplin und Pünktlichkeit nicht als Symptome einer dressierten, blinden Untertanenmentalität erwiesen?
So jedenfalls sehen es viele, seit die Studentenbewegung mit den vorhergehenden Generationen ins Gericht ging und harte, ja vernichtende Urteile sprach. Zum großen Bruch des deutschen Selbstgefühls und zum generalisierten deutschen Schuldbewusstsein kam es nicht 1945, sondern erst nach 1968. Damals begann die große Abrechnung mit den Älteren. Man muss heute unterscheiden zwischen denen, die meinen, die eigentliche Wende vom Übel zum Positiven habe sich 1945 ereignet, und jenen, die den Bewusstseinswandel auf die Zeit der 68er-Bewegung datieren – was die Unterstellung einschließt, die beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte seien braun gefärbt gewesen. Letztere Interpretation ging davon aus, die älteren Generationen seien von einer verheimlichten Schande unterminiert. Ihr Schweigen wurde als verschwiegene Täterschaft verdächtigt. Selbst bei jenen, die unübersehbar unter der Diktatur, dem Krieg und den Vertreibungen gelitten hatten, argwöhnte man eine gezielte Technik des Vergessens und Verdrängens.
Die Studentenrevolte lief auf eine Bewusstseinsrevolution hinaus, die seither ein erstaunliches Durchsetzungsvermögen bewiesen hat. Damals kündigte die junge Generation den gesellschaftlichen Konsens auf, der nach der Katastrophenerfahrung des Krieges entstanden war. Das friedliche, versöhnliche, bürgerliche Gemeinschaftsgefühl, das die Jahre des Aufbaus und Wirtschaftswunders bestimmt hatte, empfanden die Nachgeborenen als unzeitgemäß, ja völlig verlogen. Es war die große Stunde der Selbstgerechtigkeit. Jetzt tat man so, als ob es in diesem Lande auch unter den neuen Umständen keinen Tag länger auszuhalten sei. Viele sprachen gern von baldiger Auswanderung, die sich dann allerdings meist als allzu beschwerlich erwies. Jahrzehnte bevor Thilo Sarrazins Buch über die Selbstabschaffung Deutschlands erschien, fasste die Bundesrepublik ihr Verschwinden ins Auge, schaffte sich Deutschland mental ab, weil es sich weder mit seiner Geschichte identifizieren lassen wollte noch an seine Zukunft glaubte.
Typisch deutsch zu sein wurde ein Synonym für Duckmäuserei, wenn nicht Schlimmeres. Gleichzeitig stürzte der neue Zeitgeist das bisherige Geschichtsbild und verzerrte es bis zur Unkenntlichkeit. Spätestens seit den Zeiten des Heiligen Römischen Reiches schien alles auf den Naziterror hinausgelaufen zu sein. Jahrhunderte einer im Großen und Ganzen positiven Geschichte wurden ignoriert, weggeblendet, ausgestrichen. Seither ist unsere 1200-jährige Geschichte der völligen Vergessenheit anheimgefallen. Wenn ich einen Vortrag über »Die Lehren der deutschen Geschichte« ankündige, erwarten 80 Prozent der Zuhörer Ausführungen über das Dritte Reich. Doch so unauslöschlich die Naziverbrechen auf uns lasten, so falsch wäre es zu glauben, unsere Geschichte müsse und könne nur im Schatten der Vernichtungslager gesehen werden.
Wir sollten uns dazu ermuntern, nach unseren Wurzeln zu suchen, tiefer in der Vergangenheit zu graben. Sonst würden wir uns – von uns selbst unbemerkt – weiterhin die Menschenfeindlichkeit und den Vernichtungswillen, die Täterenergie Hitlers zerstörerisch wie auch selbstzerstörerisch zu eigen machen. Wir dürfen seinen Nihilismus nicht verinnerlichen, nicht auf unsere gesamte Geschichte anwenden.
Blickt man gelassen auf die langen Jahrhunderte unserer Geschichte, ergibt sich ein helleres Bild. Wer unvoreingenommen ist, wird viel Positives finden. Welch kultureller, geistlicher und geistiger Reichtum ist allein im Raum zwischen Wittenberg und Weimar zu entdecken! Was hat das mitteleuropäische Deutschland allein im 18. und 19. Jahrhundert in Philosophie und Wissenschaft, in Musik, Literatur und bildender Kunst der Welt geschenkt! Ein Ruhmesblatt unserer Historie ist auch die bis heute oft verkannte Ostkolonisation. Abgesehen vom kriegerischen Deutschen Orden war die Besiedlungspolitik überwiegend zivil. Die ungarischen Könige warben im Mittelalter um deutsche Siedler für Siebenbürgen. Maria Theresia besiedelte das Banat, Katharina die Große holte Deutsche ins Wolgagebiet. In diesen Gebieten zog der deutsche Einfluss große zivilisatorische Errungenschaften nach sich. So wurde etwa das Magdeburger Stadtrecht auf viele Städte Osteuropas übertragen. Diese kulturellen Leistungen erwiesen sich als äußerst stabil, anders als die glücklose deutsche Kolonialpolitik des letzten Kaiserreichs.
Im Grunde genommen haben wir Deutschen lediglich drei große Katastrophen erlebt: den Absturz der Staufer, den Dreißigjährigen Krieg und Hitler. Deshalb sollten die Deutschen bei aller Bescheidenheit ein sehr viel größeres, fröhliches Selbstgefühl entwickeln. Typisch deutsch möchte jedoch niemand mehr sein. Das »Nie wieder« spukt noch immer in den Köpfen, die Furcht, deutscher Ungeist könne sich ein weiteres Mal erheben. Man kann so weit gehen zu behaupten, wir seien gar keine richtigen Deutschen mehr, hätten alles traditionell Deutsche abgelegt. Meines Erachtens sind die antikommunistischen Bewohner der früheren DDR die Landsleute mit einem besonders ausgewogenen Urteilsvermögen, weil sie nicht jahrzehntelang durch die Gehirnwäsche der politischen Korrektheit weichgespült worden sind. Seit der Wende zeigt sich, dass das verblichene DDR-Regime in dieser Hinsicht weniger prägend war als vermutet. Daher blieb die Bevölkerung konservativer, konventioneller, manchmal auch spießiger als die Bewohner der alten Bundesrepublik.
Ohne Frage ist das Lebensgefühl in Westdeutschland nach dem Krieg internationaler, weltoffener geworden. Das erste Schlüsselerlebnis unserer jüngeren Mentalitätsgeschichte fand jedoch nicht 1968, sondern unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg statt: mit dem Projekt einer Umerziehung der Deutschen. In unserem geschlagenen, entmachteten, moralisch völlig diskreditierten Land sollte ein neuer Menschentypus geformt werden. Die Amerikaner, unter ihnen viele namhafte deutsche Emigranten, setzten Entnazifizierung mit Erziehung gleich. Sie verfolgten das Ziel, die Obrigkeitshörigkeit der Bevölkerung und den autoritären Charakter der Deutschen, letztlich also ihre Unmündigkeit, zu beenden. Politische Bildung im weitesten Sinne sollte die deutsche Mentalität demokratisch transformieren. Andernfalls sei zu fürchten, dass die Wurzeln des Nationalsozialismus nie gekappt würden.
Der Glaube an die positive Wirkungskraft gesamtgesellschaftlicher Umerziehungsmaßnahmen war ebenso sympathisch wie naiv. Wie konnte man glauben, ein ganzes Volk im Denken und Handeln allein durch Worte, durch Erziehung, tief greifend zu verändern? Und doch wurde die Transformation mit jeder neuen Generation Nachgeborener sichtbarer. Die Veränderungen unseres Nationalcharakters, die man sich von der Umerziehung versprach, haben spätestens seit 1968 stattgefunden – wenn auch ganz anders, als ursprünglich geplant. Die Umerziehung durch die Studentenbewegung war natürlich auch deshalb erfolgreich, weil Faktoren mitwirkten wie die erstaunliche Erfolgsgeschichte der Wirtschaft, die damit verbundenen neuen Konsumgewohnheiten und nicht zuletzt die Entwicklung einer medialen Öffentlichkeit.
Das mentale Erbe der Reeducation war ein anderes: die Annahme, der Deutsche schlechthin müsse durch Erziehung zivilisiert und entbrutalisiert werden. Als seien wir ein Volk, das sich ohne solche Maßnahmen jederzeit zu neuerlichen Exzessen erheben könnte. Nüchtern betrachtet sind wir weder gewaltbereiter noch expansiver als andere Völker auch. Von einer generellen faschistoiden Neigung zu sprechen, die in der kollektiven Volksseele niste, ist eine angstvolle Unterstellung, die schlimme Folgen hat. Dennoch wird sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit als rhetorische Trumpfkarte aus dem Ärmel gezogen. Sobald Deutschland in der Kritik steht, leben alte Feindbilder auf. Erinnert sei in unseren Tagen an die griechischen Demonstranten, die ihrem Unmut über Angela Merkels Finanzpolitik Luft machten, indem sie die Kanzlerin als weiblichen Hitler darstellten. Die Banalität der dahinter stehenden Haltung ist kaum zu überbieten: Eckt Deutschland an, sind wir wieder die Nazis, so simpel, so holzschnittartig.
Auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen, liegt eine eindrucksvolle Entwicklung hinter uns, die wenig Raum für Spekulationen über eine drohende Renaissance faschistoider Tendenzen lässt. Die deutsche Gesellschaft hat einen ungeheuren Modernisierungsprozess durchlaufen mit dem Ergebnis, dass sie vielfach moderner wirkt als die Gesellschaften unserer europäischen Nachbarländer. Regionale Differenzen wurden eingeschmolzen, traditionelle Besitzstände eingeebnet, konfessionelle Unterschiede verwischt. Der Adel hat seine politische und ökonomische Bedeutung eingebüßt. Neue Eliten sind entstanden, Arbeiterschaft und Mittelstand emanzipierten sich. Mit dem Grundgesetz verschwand der Obrigkeitsstaat, der selbst noch während der Weimarer Republik einer Ersatzmonarchie ähnelte. Auch der deutsche Militarismus fand ein Ende, nachdem er in die Katastrophe geführt hatte.
Was allerdings geblieben ist, könnte man als Mythos des unberechenbaren, ja dämonischen Deutschen bezeichnen. Seit dem Holocaust stehen wir unter Generalverdacht. Und werden paradoxerweise umso skeptischer beäugt, je entschlossener wir unsere politische Identität mit derjenigen Europas verschmelzen. Seltsam genug wächst der Druck auf Deutschland angesichts der aktuellen Europadebatte. Immer aufs Neue sollen wir unsere Bereitschaft beweisen, die eigenen Interessen denen Europas unterzuordnen.
In der Europäischen Union achtet man peinlichst darauf, wie sich die deutsche Regierung verhält, wie sie eigene und europäische Interessen gewichtet. Nichts ist vergessen. Wir müssen unser Geschichtsbewusstsein daran messen lassen, in welchem Umfang wir andere Länder Europas finanziell unterstützen – mit nicht enden wollenden Ablasszahlungen vor dem Hintergrund jener zwölf Jahre Naziherrschaft. Entsprechend drastisch fallen die verlangten Demutsgesten aus. Seit die Eurokrise sich verschärft hat, wird das zusehends deutlicher. Nicht nur die Griechen malen Angela Merkel ein Hitlerbärtchen, sobald man vermeintliches deutsches Vormachtstreben wittert.
Die Verquickung von Finanzpolitik und historischer Schuld gehört mittlerweile auch zum Tagesgeschäft der deutschen Debattenkultur. Wenn Altkanzler Helmut Schmidt in der Eurodebatte öffentlich behauptet, der Holocaust verpflichte die Deutschen zu Transferleistungen, halte ich das für vorauseilenden Gehorsam, mit dem er unserem Land schweren Schaden zufügt. Damit liefert er den Schlüssel zu unserer Erpressung. Joschka Fischer geht in dieselbe Richtung mit der absurden Behauptung, wir hätten Europa im letzten Jahrhundert zweimal ruiniert und müssten es jetzt retten, koste es, was es wolle.
Mir stockt der Atem, in welchem Maße die Vertretung unserer eigenen Interessen vernachlässigt wird. Schon um unserer Kinder und Enkel willen wäre es eine absolute Selbstverständlichkeit, deutsche Interessen in den Vordergrund zu rücken. Stattdessen gefährden wir im Namen der europäischen Solidarität unsere Existenzgrundlage, indem wir dringliche Aufgaben im eigenen Land zugunsten Europas nicht wahrnehmen. Kinder und Jugend, Erziehung und Bildung, sprich das Fundament jeder Zukunft, werden in schockierender Weise ignoriert und fehlgelenkt.
Der Gedanke, man müsse um jeden Preis den Euro stützen, zeigt eine völlig verquere Grundannahme der deutschen Politik: Deutschland müsse in Europa aufgehen; die Nationalstaaten hingegen seien von gestern, Europa trete an ihre Stelle, wir seien also postnational. Außer uns glaubt kein Europäer daran. Geraten andere Länder in die Krise, verteidigen sie selbstverständlich vehement ihre eigenen Interessen. Dabei weigern sie sich, die Ursachen ihrer Krisen im eigenen Verhalten zu suchen. Zwischen 1999 und 2009 erhöhten die Griechen im privaten wie öffentlichen Bereich die Gehälter und Löhne um 38 Prozent, die Spanier um 34 Prozent, die Italiener um 32 Prozent – die Deutschen jedoch nur um vier Prozent. Nach wie vor üben wir uns in Fleiß und Sparsamkeit, akzeptieren eine längere Lebensarbeitszeit als anderswo und zahlen – bis auf wenige spektakuläre Ausnahmen – brav unsere Steuern. Wir verhalten uns eben typisch deutsch im besten Sinne. Das erklärt zu einem beträchtlichen Teil, warum wir ökonomisch besser dastehen als andere. Kein Wunder, wenn in unserem Land der Unmut über steigende Transferleistungen wächst. Wie soll man in einer Demokratie plausibel machen, dass diejenigen, die gearbeitet und sich eingeschränkt haben, nun jenen Ländern beistehen müssen, die munter über ihre Verhältnisse lebten? Und das ohne jede Aussicht auf eine Kontrolle der jeweiligen nationalen Budgets?
Diese kurzsichtige Abgehobenheit erinnert mich an den blinden Zweckoptimismus, den ich in meiner Jugend erlebte. Als Zehnjähriger hörte ich immer wieder: »Wir werden siegen, denn wir müssen siegen.« Das ließ mich stutzen. Ich dachte: Irgendetwas stimmt doch nicht an dem Satz. Wieso werden wir siegen, weil wir siegen müssen? Seinerzeit gab es eine ähnliche rhetorische Vernebelung wie heute, obwohl bereits offenkundig war, dass ein Krieg gegen den Rest der Welt nicht zu gewinnen sei. Die Durchhalteparole von damals war genauso irreführend wie die heute behauptete Alternativlosigkeit unserer Eurorettungspolitik. Nichts im Leben ist alternativlos. Die Alternativen mögen unerfreulich sein, das will ich gern einräumen, aber die Behauptung, es gebe sie nicht, ist blanker Unsinn.
Anders als in den vierziger Jahren geht es heute nicht um Panzerschlachten und Brückenköpfe, es geht um unsere wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft. Ein gewisser Wunderglaube scheint sich dennoch erhalten zu haben, ein irrationales Gefühl der Unverwundbarkeit. Was macht uns eigentlich so sicher, dass die da oben es schon richten werden? In Wahrheit ist es verantwortungslos, mit welch trotziger Gebärde unsere Politiker den drohenden Niedergang leugnen. Noch werden wir von anderen Euroländern für unsere Wirtschaftskraft teils beneidet, teils gefürchtet. Können wir sicher sein, dass das in Zeiten der Globalisierung auch so bleibt? Würde man angesichts eines heranrollenden Tsunamis sagen: Kein Grund zur Aufregung, ihr seht doch, das Meer zieht sich zurück?
Ganz sicher hat mich meine Erfahrung als Halbwüchsiger hellhörig für demagogische Untertöne gemacht. Ich wurde 1932 geboren. Die Zeit des Nationalsozialismus erlebte ich als Kind. Kriegsende, Währungsunion, die Blockade Berlins und der Aufstand des 17. Juni fallen in meine Jugend. Der Berufsanfang, die Lehr- und Wanderjahre hatten ihren Hintergrund im westdeutschen Wirtschaftsaufschwung. Meine Generation stand im dreißigsten Lebensjahr und damit an der Schwelle des Mannesalters, wie man früher sagte, als der Bau der Mauer in Berlin die Spaltung Deutschlands auch äußerlich deutlich machte. Von der Pubertät an prägte mich das Bewusstsein, nicht als Deutscher, sondern als junger Bürger der Bundesrepublik aufzuwachsen. Dennoch reichen meine Erinnerungen weiter zurück.
Was mir im Rückblick am meisten auffällt, ist die Atmosphäre einer noch überwiegend bürgerlichen Gesellschaft im Dritten Reich. Das hat man völlig vergessen in der heutigen Wahrnehmung jener Zeit. Und doch wären der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und die enorme Bedeutung der bürgerlichen Parteien nach 1945 überhaupt nicht zu verstehen, wenn die Nazis – so wie die Kommunisten in der DDR – vier Jahrzehnte lang alles weggeräumt hätten, was ihrer Doktrin widersprach. Die Kontinuitäten mögen im Nachhinein nicht offensichtlich sein, doch ich erlebte ein Deutschland, das weit mehr als das Land der Mörder und Henker war.
Meine Kindheit im Nationalsozialismus unterlag lange einem Redeverbot. Kaum jemand möchte wahrhaben, dass der Alltag im Dritten Reich weit bürgerlicher und kultivierter war, als man es heute für möglich hält. Die immer noch verbreitete Vorstellung, damals sei das gesamte deutsche Volk unterschiedslos entmenschlicht und gewaltbereit gewesen, kommt einer unerträglichen Diffamierung gleich. Die Folge ist eine tiefe Wunde im Selbstverständnis der Deutschen bis auf den heutigen Tag. Man hat es sich zur Gewohnheit gemacht, ausschließlich auf die Untaten des Naziregimes zu schauen und jeden Einzelnen, der zu der Zeit lebte, damit zu identifizieren, ohne jemals den Versuch unternommen zu haben, sich in dessen Lage zu versetzen. Unter anderem führte das zum Bruch in vielen Familien.
Der Gedanke, die Generation meiner Eltern sei nichts weiter als eine mordlüsterne Vernichtungsbande gewesen, ist deshalb eine Ungeheuerlichkeit. Dies war die Behauptung der 68er, um ihre Eltern zu diskreditieren und sich selbst auf die moralisch sichere Seite zu stellen. Es ist ein Unding zu meinen, jedes NSDAP-Mitglied sei ein Nazi gewesen, sei es auch nach dem Krieg geblieben. Der überwiegende Teil der Deutschen wachte nach 1945 auf und erkannte ernüchtert das von der Diktatur gewebte Lügengeflecht. Selbst ehemalige Parteimitglieder begriffen, was das Regime angerichtet hatte. Es ließ sich nicht länger verhehlen, dass die Illusion des tausendjährigen Reichs, der brutale Vernichtungskrieg und die Gräueltaten des Holocaust zu den großen Katastrophen unserer Geschichte gehören. Gleichwohl ist es eine inakzeptable Deutung deutscher Identität, sie erschöpfe sich in der Katastrophe des Dritten Reichs. Diese Phase unserer Geschichte legitimiert nicht die fortgesetzte Denunziation der Deutschen, die Unterstellung eines latent aggressiven Nationalcharakters. Noch weniger rechtfertigt sie Selbsthass und Verdrängung eigenen Leids. Jahrzehntelang hat man nicht aussprechen dürfen, wie viele Deutsche durch den Krieg gelitten haben. Ein ganzes Menschenleben lang haben wir nicht gewagt, unsere Toten zu betrauern, die Opfer der Euthanasie, der Vertreibung, die vergewaltigten Frauen, die zerstörten Familien. Wir haben nicht um unsere eigenen Mütter, Schwestern, Kinder getrauert.
Das zu erkennen, wird zunehmend wichtiger. Eines Tages werden wir mit dieser Zeit unseren Frieden machen müssen, auch um innerlich Frieden zu finden. Denn die Traumata wirken nach, Schuld und Scham ebenso wie verschwiegenes Leid. Besonders junge Menschen belastet das Schweigen, die diffusen Schuldgefühle, die kollektive Verurteilung ihrer Vorfahren. Sie leiden, oft ohne zu wissen, woran. Es ist ein spezifisch deutsches Problem. Dahinter wird ein wesentlich größeres Dilemma sichtbar: Nach wie vor hadern wir Deutschen mit unserer Geschichte, hin und her gerissen zwischen vorsichtiger Identifikation und vehementer Ablehnung.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg behauptet wurde, wir Deutschen seien von Luther bis Hitler auf einem Weg des Unheils gewesen, glaubten das wenige. Inzwischen haben sich mehr und mehr Menschen diese These zu eigen gemacht. Sie ist dadurch nicht richtiger geworden. Das Urteil, die Deutschen seien sämtlich, sozusagen genetisch, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu schlimmsten Verbrechen aufgelegt, ist absurd. Dennoch hält sich diese Einschätzung umso hartnäckiger, je größer der zeitliche Abstand wird. Die deutsche Wunde hat sich nie geschlossen. Für viele ist Identität nur als Abgrenzung vom Deutschsein denkbar. Das lähmt uns in destruktiver, selbstzerstörerischer Weise.
Ein lange für mich rätselhafter Satz, den ich vor Jahren hörte, ohne ihn zu verstehen, war die Äußerung eines Katholiken, das deutsche Volk werde erst frei sein, wenn es für Hitler das Totengebet sprechen könne. Dieser Satz hat mich seither oft umgetrieben. Was sollte das heißen: Das Totengebet sprechen? Erst allmählich wurde mir bewusst, dass das christliche Gebot der Aussöhnung nicht nur unser Verhältnis zu ehemaligen Opfern und Kriegsgegnern betrifft, sondern auch das Verhältnis zu uns selbst – die Täter eingeschlossen. Im Totengebet bittet man um göttliche Gnade für die Seele des Verstorbenen. Im Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit darf man sich nicht über andere Sünder erheben, also auch nicht über Hitler.

Familienbande

Was macht mich zum Deutschen? Wie formte sich meine Identität? Die plausibelste Antwort darauf ist eine biografische. Zweifellos sind es die spezifischen Erfahrungen meiner Generation, die mich prägten, und dazu gehört wesentlich meine Kindheit im Dritten Reich. Geboren am 8. Mai 1932, lag ich ein Jahr später, bei der Machtergreifung Hitlers, noch in den Windeln. Mein 13. Geburtstag wird für immer mit dem Tag der deutschen Kapitulation verknüpft sein, merkwürdige Koinzidenz privater und kollektiver Geschichte. Dazwischen erstreckt sich die Zeitspanne meiner Kindheit – zwölf Jahre, die Deutschlands Schicksalsjahre werden ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Der Familie
  5. Vorwort
  6. Zitat
  7. Inhalt
  8. EINLEITUNG: »Verein für stilles Glück«
  9. Kapitel 1: DIE DEUTSCHE WUNDE
  10. Kapitel 2: MANGELJAHRE, GEISTIG ANREGEND
  11. Kapitel 3: KURSWECHSEL UNTER VOLLEN SEGELN
  12. Kapitel 4: POLITIK, AUS DER NÄHE
  13. Kapitel 5: WAS MICH BEWEGT
  14. Kapitel 6: GLAUBE, LIEBE, HOFFNUNG
  15. Dank
  16. Namensregister