Schäbiges Schmuckkästchen
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Schäbiges Schmuckkästchen

Reisen in den Osten Europas. Bukowina – Czernowitz – Galizien – Gödöll? – Lemberg – Siebenbürgen – Vojvodina

  1. 173 Seiten
  2. German
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Schäbiges Schmuckkästchen

Reisen in den Osten Europas. Bukowina – Czernowitz – Galizien – Gödöll? – Lemberg – Siebenbürgen – Vojvodina

Über dieses Buch

?Mit hellwachem Blick reist Noémi Kiss durch Osteuropa, mit feinen Strichen halt sie versehrte Städte, Landschaften und Schicksale fest. Ein Leseabenteuer der besonderen Art, berührend und entdeckungsreich.? Ilma Rakusa, Publizistin?Eine wagemutige Schriftstellerin? NZZSeit zehn Jahren sind sie stete Reiseziele von Noemi Kiss: Galizien und die Bukowina, die ehemaligen Ränder des Habsburger Reiches, aber auch Siebenbürgen in Rumänien und die Vojvodina in Serbien, ehemalige ungarische Gebiete. Meist mit dem Bus über Land und immer mit im Gepäck: der alte Baedeker, die Gedichte Paul Celans und weitere prosaische Begleiter.Ihre Schilderungen vergewissern uns: Es gibt kein Reisen ohne Erinnerung. Passagen in den Osten bedeuten ein Herantasten an Landschaften, Architektur und Menschen, die einen Ort prägen. So findet Noémi Kiss die osteuropäische Weite in den Gesichtern, in den Abgründen und Stimmungen derer, die ihr begegnen, sensibel und atmosphärisch zugleich, in ihrer Widersprüchlichkeit aufregend.Noémi Kiss' Aufmerksamkeit holt den geschichtlichen Glanz hinter der abgenutzten Kulisse hervor und schafft in der gegenwärtigen Unordnung Perspektiven. Ihre Offenheit macht dieses Osteuropaauthentisch und deshalb glauben wir ihr.

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Information

SCHÄBIGES SCHMUCKKÄSTCHEN

Lemberg

»Seine elegante, kostspielige Kleidung war von den exotischen Ländern geprägt, in denen er gewesen war. Sein welkes, trübes Gesicht schien sich von einem Tag auf den anderen zu vergessen, es wurde zu einer weißen, leeren Wand mit einem Netz blasser Adern, in dem sich die erlöschenden Erinnerungen an dieses ungestüme, vergeudete Leben wie die Linien auf einer unscharfen Landkarte verwirrten.«
BRUNO SCHULZ, August

Ausgestorben und kahl

Es beginnt ein wenig gleichförmig. Man könnte sagen, es geht zu glatt, keine krummen Biegungen. Alles ist eher gerade und kalkweiß. Doch dann kommen die Brüche, die Ausrutscher. Der scheiternde Versuch, das Alte wiederherzustellen. Alt ist gleich schäbig, eigentlich ist alles alt. Zerschlissen, zerrissen. Sollte man es neu weben? Wozu. Man kann daran herumzerren. Sich stattdessen etwas anderes ausdenken, etwas Stärkeres, Festeres. Aber selbst dann bleibt nur das Alte. Auch das Neue ist alt, man kann sich nicht davon befreien. Das nennt man Glück. Oder nein, eher Ungestörtheit.
Die Provinz, in die wir uns dieses Mal begeben, glänzt wie ein abgegriffenes Schmuckstück in einem vergessenen Winkel Europas.
Diese Provinz ist gar keine Provinz mehr, sie gehört zu niemandem. Sie ist eigenständig, ihr eigener Herr − allein gelassen und ausgeraubt, unabhängig und revolutionär. Stark. Sie will etwas, das sieht man ihr an. Nur weiß man noch nicht genau, was. Die Menschen taumeln in ihr umher, die Tiere ziehen noch die Karren, die Ochsen pflügen, die Hunde bellen manchmal einfach vor sich hin.
Zur Jahrhundertwende hat man geschrieben, die Provinz sei arm, dabei war sie damals noch reich, jetzt aber besitzt sie kaum mehr etwas, und doch sehnt sich, insgeheim, jeder hierher. Am Ende unserer Reise kommen wir in der am heißesten ersehnten Stadt der Welt an. Uns hat das reiche Nichts interessiert, die Langeweile gelockt. Sie ist wunderschön, doch reglos. Sie existiert, und das ist unglaublich beruhigend. Ungewaschen, ungekämmt. Steinig und holperig, aber nicht krank, nur ein wenig traurig.
An der ungarisch-ukrainischen Grenze müssen wir dieses Mal bei Beregsurány kaum warten. Die Benzin- und Zigarettenschmuggler kommen aus der anderen Richtung, uns entgegen. Man fordert sie auf auszupacken und schickt sie zurück. Die Schlange wird rasch kürzer. Die Grenzbeamten sortieren die Schmuggler schnell aus, die in einem fürchterlichen Ton brüllen. Vergebens sagen sie, ihre Verwandten würden viel rauchen, in Budapest seien Zigaretten teuer! Der Grenzbeamte verzieht keine Miene. Sie sind nicht überzeugend genug. Dabei zeigen sie sich wirklich großzügig, sechsundzwanzig Stangen haben sie zum Verschenken dabei. Sie hätten sie auf dem Markt in Mukatschewo gekauft, alle mit Banderole, bitte sehr! Wir zahlen die Steuern! Werden die Guten an der Grenze etwa bestraft?
Ja. Und die Bösen, die Gaffer, die nichtsnutzigen Reisenden lassen sie einfach durch. Es ist Mai, der Monat ist bei uns schon Brauch geworden. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, zu dieser Zeit muss man fahren, weil die Flüsse noch Wasser führen. Die riesige Ebene, die wir bald darauf erreichen, trocknet im Sommer recht schnell aus. In Podolien ist es dann so warm, dass den Menschen das Wasser ausgeht, und im Winter ist es so fürchterlich kalt, manchmal kälter als minus zwanzig Grad, dass alles friert. Wir machen es uns im Bus bequem und warten darauf, Aufregendes zu sehen. Nur wird das Süßeste, das wir zu sehen bekommen, das Chaos und das stärkste Gefühl der Durst. Unser Reiseziel ist dieses Mal das berühmte, doch kahle, sich auf die Westkarpaten stützende Hochland, das Sibirien-Pendant.
Kommt man aus Richtung der Bukowina nach Galizien, ist es überraschend, wie flach die Welt ist. Kahl wie eine nackte, weiße Wand. Auf der Podolischen Platte befinden wir uns in einer von den Flüssen Dnister, Sjan, Stryj und Bug durchzogenen Landschaft, am nordöstlichen Punkt der einstigen Monarchie. Um ein Haar rutschen wir von der Landkarte. Das bisschen Wasser, das hier im Frühjahr noch zu finden ist, fließt vor unseren Augen weg. Langsam, aber sicher versickert es, alles befindet sich in einem Zustand ständiger Auflösung. Als ob immer jemand zusammen mit dem Wasser verschwinden würde und wir ständig einer weniger wären, ohne besondere Erklärung.
Durch das Tal des Sereth und des Dnister zogen einst auch die Ruthenen in die Berge am Tscheremosch, weil der Weg, den der Fluss genommen hatte, am sichersten war. Die Platte war zum Wandern zu trocken, außerdem waren die Händler, die hier zu Fuß umherzogen, immer wieder Raubüberfällen ausgesetzt. Podolien ist nicht nur trocken, sondern auch kühl, hier ist die Flora fern des von Flüssen zerteilten Gebietes nur spärlich. Die Landschaft ist eher strauchig als waldig. Vereinzelt gibt es Dörfer, die Häuser aber sind zusammengewachsen, wie siamesische Zwillinge. Ich würde sie eher als Hütten bezeichnen, von zurückhaltenden, stillen Menschen bewohnt. In den Gärten wächst Gemüse, Obst kaum, und auch die Felder wirken karg. Dennoch arbeitet immer jemand am weiten Horizont.
Wir nähern uns von der Seite der Ostkarpaten, aus Richtung Berehowe, Mukatschewo und Uschhorod. Unterwegs sehen wir an den südlichen Hügelhängen blühende Obstbäume. Dort scheint die Sonne am stärksten. Es ist Frühling, und wir sind auf der Suche nach einem Schmuckkästchen. Angeblich haben in Galizien auch Polen gelebt, aber es gibt sie nirgendwo mehr. Es gibt schon noch einige, aber nur wenige. Wo sind sie? Wohin hat man sie gebracht? Wer lebt hier an ihrer Stelle?
Auch Juden haben hier gelebt, auch sie gibt es nicht mehr.
Armenier, Österreicher, Schotten und Italiener. Sie fehlen.
Sind woanders, sind fortgegangen.
Unter die Erde?
Teils. Man weiß es nicht.
Ja, dorthin.
An ihrer Stelle gibt es die Podolianer. Ruthenen, Ukrainer, Russen. Natürlich waren auch sie früher schon da. Und es wird noch einen Libanesen geben, in einem Restaurant. Und eine schöne Frau und eine sehr hässliche.

Glitzernd und schäbig

Die Tage sind lang, werden immer länger, bald erstrahlen sie und breiten sich aus, im Vergleich zu ihrem ärmlichen Inhalt vielleicht sogar zu sehr. Bei den im Bus Reisenden wechseln sich Langeweile und Ungeduld ab, so bemerken sie das Sehenswerte nicht immer, dabei gibt es reichlich Neues, man muss nur schauen.
Östlich von Podolien überqueren wir eine weitere Grenze, nur ist diese heute unsichtbar. Wir kommen nach Galizien, eine der größten Provinzen Österreich-Ungarns. Die Zahl der Landarbeiter war hier zur Jahrhundertwende noch genauso groß wie in Dalmatien, das heißt, beinahe jeder bestellte sein eigenes Stück Boden. Heute gibt es nicht mehr genug Boden, auch keine Gerätschaften, mit denen das Gebiet bewirtschaftet werden könnte.
Manche glauben, wir seien Österreicher und würden die Monarchie suchen. Die gibt es nicht mehr, die ist zu Ende, sagen sie, njema. Sie verstehen nicht, was wir wollen. Die Reisegesellschaft aus Miskolc hat einige ausrangierte rote Alpenbusse gekauft, in einem davon haben wir uns auf den Weg gemacht, so kann man uns wirklich glatt mit den Habsburgern verwechseln. Dies hier ist die einstige ukrainisch-polnische Sprachgrenze. Ostgalizien und Westgalizien würden sich dem Anschein nach kaum voneinander unterscheiden, befänden sie sich nicht auf dem Gebiet zweier Länder. Leopolis, das heißt Lwiw – von den in den Karpaten lebenden Ungarn hört man noch: Sie reisen nach Lemberg –, liegt heute in der Ukraine. Der Bruder, der einstige Gefährte in Kampf und Handel, das reiche Krakau, die alte Hauptstadt Westgaliziens, im heutigen Polen. Sie beide standen zur Zeit der Monarchie in enger Beziehung zueinander. Lemberg war Krakau ein würdiger Partner, ein glänzendes und reiches Zentrum. Mehrere Tausend Polen hatte man nach dem Ersten Weltkrieg hier angesiedelt, während des Zweiten Weltkrieges wurden sie dann praktisch alle deportiert. Wer überlebte, den brachte man nach dem Krieg an die neue deutsch-polnische Grenze, an die Oder, nach Schlesien oder Hinterpommern. Lemberg ist daher für die Polen nicht dasselbe wie das siebenbürgische Klausenburg, also Kolozsvár, für die Ungarn, selbst wenn die meisten Baedeker diesen Vergleich mit Vorliebe heranziehen. Der Lytschakiwski-Friedhof ist ein riesiges Denkmal für die Verstorbenen der Stadt; so ähnlich wie der Friedhof Házsongárd in Klausenburg, aber doch vollkommen anders, denn hier ruhen Polen, und zwischen ihnen wurden Ukrainer begraben.
Wenn jemand Lemberg von der Podolischen Platte, vom einstigen Franz-Joseph-Berg aus erblickt, sieht er bequem auf die Stadt hinunter: die gotischen Kirchtürme, die Jugendstil- und Barockgebäude, die hoch emporragende Festung der Kathedrale, sie alle sind zu sehen. Lemberg ist eine flache Stadt. Eigentlich kann man sie bloß von der südlichen Seite des Schlossbergs aus der Vogelperspektive überschauen. Ihre Anordnung ist labyrinthartig, denn der Baustil mehrerer Völker hat seine Spuren hinterlassen, mancherorts ist sie dicht gedrängt und vollkommen ungeordnet. Aus nördlicher Richtung gleicht sie einer großen Ebene, auf der sich zwischen Baumgruppen hervorschauende Dörfer, Gutshöfe mit Feldern und sich in der Ferne verlierende Haine abwechseln. Lemberg hat mindestens zwei Gesichter, oder doch eher tausend. Prunkvoll und grau, smogverhangen und neu, glitzernd und schäbig. Fünfzig Jahre alte Wolgas und die neuesten Mercedes dröhnen durch die Innenstadt, knattern und klagen, die Fahrer aber singen laut und fröhlich. Manche trinken beim Fahren Wodka. Überall dichter Qualm. In der Innenstadt herrscht reges Treiben, in den Bussen kleben die Fahrgäste aneinander. Manche finden nur mit einem Bein Halt, fahren so zur Arbeit. An den Wänden der Häuser vermischen sich das Leid und das Gelächter der Jahre. Sozialistisch und modern. Rot und orange. Lemberg wogt. Einmal oben, dann wieder unten.
Das vergangene Jahrhundert hat zahlreiche Stile und noch mehr Unterdrückung auf der Oberfläche der Stadt hinterlassen. Egal von wo man sich auf den Weg macht, vom Friedhofshügel, von den Stadtteilen Podzamcze oder Holovnij, vom Bahnhof oder von der Wohnsiedlung aus, wo wir untergebracht sind, wir bekommen von jeder Epoche der letzten tausend Jahre etwas mit. Und das ist weit mehr als Langeweile, das sind der Staub und die Ruinen, nach denen wir uns gesehnt haben.
Die Unterkunft haben wir natürlich nicht wegen der Müllhalde unmittelbar nebenan gebucht, sie war einfach nur billig gewesen, und wir gelangen am kommenden Tag von hier leicht in das mittelalterliche Zentrum der Stadt, auf den Rynok, den alten Marktplatz.
Als ich am Morgen aus dem Fenster des Plattenbauhotels schaue, kommen die Menschen in langen Reihen aus Richtung der Wohnsiedlungen. In ihren Händen Spaten und Hacken, sie schieben Schubkarren vor sich her, und als würden sie zur Müllhalde abbiegen, trotten sie weiter. Am späten Abend machen sie sich beinahe zeitgleich auf den Weg nach Hause, packen ihre Sachen in derselben Sekunde zusammen. Müde Ameisen. Zuerst denke ich, sie gehen zur Halde, um nach Sachen zu stöbern, Reste zu sammeln. Doch nur ein Teil biegt dort ab. Hinter der Müllhalde hat man noch in den 1970er-Jahren Schrebergärten parzelliert, dorthin gehen die Menschen aus der Wohnsiedlung, sie bauen Obst und Gemüse an. Davon leben sie, eine Arbeit haben sie nicht. Sie verdienen sich ihren Unterhalt als Landarbeiter, halten Hühner, Enten, Hasen, aber ich sehe unter ihnen auch eine geschminkte Frau in hochhackigen Schuhen mit einer Kuh. Einen in Anzug mit Ziege. Ein spindeldürres Mädchen mit Pferd, es sammelt Eisen.
Im Sommer sind die Hotels voll mit deutschen und polnischen Nostalgie-Reisenden, die friedlich zusammen frühstücken. Sie suchen die Häuser und Gräber ihrer Großeltern auf. Wenn sie fündig werden, lächeln sie, ihre Gesichter strahlen vor Glück, dabei können sie es kaum erwarten, wieder zu Hause zu sein, um davon zu erzählen, dass diese verfallene Welt existiert, diese schäbige, abgenutzte Schönheit. Sie ziehen sich hinter die gepflegten Wände des Hotel George, des Grand Hotel, des Hotel Kiew oder des Hotel Lwiw zurück, waschen sich in gekachelten Badezimmern und machen sich morgens aus der mit Biedermeiermustern verzierten Hotellobby auf den Weg in ihre Erinnerung.

Der lachende Löwe

Den Großteil unserer Zeit verbringen wir auf dem Markt damit, alte ungarische Pengő-Scheine, sowjetische Orden, chinesische Armbänder und Matrjoschkas in Gestalt von Juschtschenko, Janukowytsch und Tymoschenko zu kaufen.
Vor etwa dreihundert Jahren fuhren auf dem Fluss Poltwa noch Segelschiffe. Damals konnten die Karawanen, Gewürze, Stoffe und das Silber also auch mit dem Schiff aus dem Osten hierher gelangen, man brachte sogar Bernstein aus dem Norden. Lemberg verband Vilnius und Odessa miteinander, die Ostsee mit dem Schwarzen Meer. Eine litauische und eine russisch-ukrainische Stadt sowie die beiden wichtigen Meere an der Grenze des Kontinents. In Vilnius verbrachte Adam Mickiewicz seine Jugendjahre, in Odessa war er gefangen, dort lebte er in der Verbannung.
Die Skulptur dieses polnischen Romantikers ist ein bekannter Treffpunkt auf dem Prospekt Swobody, zu seinen Füßen wird mit Drogen gehandelt. Am Wochenende, wenn die Straße abgesperrt wird, zieht eine riesige Menschenmenge an seinem Sockel vorbei. Nicht weit von hier steht eine noch größere Skulptur. Eigentlich gar keine Skulptur mehr, sondern eher eine wuchtige Festung, sie stellt Schewtschenko dar, den Dichter der Ukrainer, und erhebt ihn tatsächlich in wahnwitzige Höhen. Nichts Intellektuelles ist an ihm, es könnte auch die Darstellung eines siegreichen Diktators sein. Die robuste Figur beugt sich düster nach vorn, und diese Geste ist ganz und gar nicht romantisch. Schewtschenko beugt sich eher, als mit geradem Rückgrat zu kämpfen. Seine Augen sind kaum zu sehen, sie sind fast so weit oben wie die Spitzen der Kirchtürme. Die Romantik ist hier groß und furchterregend, eher abstoßend als verlockend, und was am typischsten ist, sie bewegt niemanden dazu, Schewtschenko zu lesen, obwohl das auch gar nicht die Aufgabe der Skulptur ist; dies hier ist nicht die Skulptur der Literatur, sondern der Diktatur. In den Mantel oder besser Umhang Schewtschenkos sind, unabhängig von dessen Leben und Zeit, kleinere Totenschädel eingeritzt, Skelettreliefs. Der Rücken des Schriftstellers ist so ein riesiges Denkmal für die Opfer des Krieges. Eigentlich hat dieser Rücken nichts mit seinem Besitzer zu tun, er markiert die territorialen Rechte des sowjetischen Reiches, es ist der Opferumhang der Kommunisten. Eine sowjetische Fälschung. Armer Schewtschenko, hätte er gewusst, wie viele Tote er auf seinem Rücken tragen würde, vielleicht hätte er sich nie vom Leben verabschiedet.
Es gibt nicht nur keine Schiffe mehr, seit hundert Jahren gibt es nicht einmal mehr Wasser in der Stadt, angeblich wird es über Kanäle aus den Flüssen des Umlandes zugeführt. Lemberg ist so trocken wie die Wüste der Savannen. Nichts ist dem Zufall überlassen, alles haben Schicksal und Natur vorgeschrieben, auch ihren Namen hat die Stadt nach dem Löwen erhalten:
Leo, Leopolis.
Lemberg.
Lwów.
Lwiw.
Lwow.
Ilyvó.
Lwiw war einst ruthenisch, armenisch, polnisch, ungarisch, deutsch, jüdisch, dann sowjetisch; heute ist es einfach nur ukrainisch. Das alte galizische Zentrum ist kulturell die wichtigste Stadt der seit 1991 unabhängigen Ukraine, die Gebäude sind hier besser erhalten als in Kiew, und schon zur Zeit der Monarchie nannte man sie »Klein-Wien«. Es ist eigentlich ein perspektivloser Ort, nur aus der Höhe kann man ihn überblicken. Er zieht sich eher zurück, man muss ihn suchen, ihn finden, entdecken. Wie die Schmuckschatulle in einem Boudoir. Man darf sie nur langsam öffnen, vorsichtig hineinschauen, damit das Geheimnis in ihr bleibt. »Lemberg ist eine Stadt ohne Perspective, nur aus der Vogelschau zu sehen. Nicht wie es einer einst uneinnehmbaren Veste anstehen würde, weit rundum das Land beherrschend, mit ihren Thürmen und Zinnen Freund und Feind von Ferne sichtbar, sondern gleichsam auf die Lauer gelegt oder sich ängstlich vor den wilden Schaaren bergend, die so oft an ihren Mauern abgeprallt sind, liegt die galizische Landeshauptstadt in einem ziemlich tiefen Kessel, ringsherum von Anhöhen umgeben«, schreibt ein österreichischer Reisender Ende des neunzehnten Jahrhunderts, Ladislaus Ritter von Loziński.
Dieser Reisende aus früheren Zeiten konnte sich nur schwer an der Stadt ergötzen. Heute empfängt uns natürlich ein ganz anderes Bild, seine Bemerkungen würde ich sofort streichen, vor allem die Adjektive. An seiner Stelle hätte ich nicht geschrieben, die Landschaft habe einen morosen Charakter. So etwas gibt es nicht, eine morose Landschaft. Zudem wird sie im darauffolgenden Jahrhundert noch sehr viel moroser. Es gibt nur das Gefühl unruhiger Bedrückung. In Lemberg wurde die Bevölkerung innerhalb von hundert Jahren ausgewechselt, die führende Nation wurde ausgetauscht, die Wäldchen am Stadtrand hat man bebaut, das Umland industrialisiert. Man wählte eine Sprache, genauer gesagt Sprachen, manche verschwanden; Regeln wurden abgeschafft, an ihrer Stelle neue eingeführt, die Menschen wurden heimatlos und mittellos gemacht. Ihr Schicksal wandte sich vorerst auch im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht zu einem Besseren.
Wir wohnen neben einer Müllhalde. Aus den Fenstern des dreizehnstöckigen Studentenwohnheims hängen BHs und Schlüpfer, so locken die ukrainischen Mädchen am Abend die jungen polnischen und ungarischen Touristen in ihre Zimmer. Am Morgen, als wir losfahren, haben sie schon alle Schlüpfer reingeholt.
Vergebens suchen wir nach den Schauplätzen aus den Beschreibungen, nach der sentimentalen Stimmung des einstigen Reisenden, nach den Feldern, die hinter der Ebene erblühen, nach dem hellen Glanz, nach den Wäldchen, wir finden sie nicht. Dafür gibt es etwas anderes, das natürlich viel interessanter ist als jedes pathetische Juwel der Monarchie. Etwas, das man den Geist des Ortes nennen könnte und das sich aus dem Vorteil, aber noch eher aus dem Nachteil der Stadt ergeben hat. Und zwar aus dem geschichtlichen Treiben, bei dem sich in Lemberg die verschiedenen Kulturen während der Jahrhunderte ständig abwechselten. Die Neuankömmlinge nahmen immer etwas Bestehendes weg und fügten ihr Eigenes hinzu, die Konturen dieser Tauschvorgänge sind auch heute noch deutlich zu sehen, denn die Neuen hatten nie genügend Zeit (Geld?), vollkommen auszulöschen, was sie bei ihrem Eintreffen vorfanden. Lemberg befand sich daher immer in einem Zustand eifriger Entwick...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Haupttitel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. DURCH DIE BUKOWINA
  6. VOLKSRENOVIERUNG · Das Land der Sachsen
  7. NIGHT GERADE, SONDERN KRUMM UND GELD · Czernowitz
  8. SCHÄBIGES SCHMUCKKÄSTCHEN · Lemberg
  9. DIE ENGLISCHE SCHULE · Erinnerungen an Gödöllő
  10. GEOGRAFISCHER AUSRUTSCHER · Vojvodina: Von Sombor nach Subotica
  11. FICKÓ · Siebenbürgen
  12. TIEFE BISSWUNDEN · Galizien
  13. GLOSSAR
  14. QUELLEN