Nebelkinder
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Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte

  1. 385 Seiten
  2. German
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Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte

Über dieses Buch

SIE SUCHTEN SICH SELBST UND FANDEN IHRE FAMILIEN IM KRIEG Wie hat das Kriegsschicksal der Eltern und Großeltern das eigene Leben beeinflusst? Welche Kräfte der Familienvergangenheit bestimmen bis in die Gegenwart die eigene Biografie? Heute ist unbestritten: Es gibt ein transgenerationales Erbe – Lasten längst vergessen geglaubter Ereignisse, die noch immer das Leben der Kinder- und Enkelgeneration verdunkeln. Namhafte Vertreter der Generation Kriegsenkel zeigen, welche Antworten sie auf die Herausforderungen ihrer Biografie und Familiengeschichte gefunden haben: Es sind Kinder und Enkel von NS-Tätern, Flüchtlingen und Vertriebenen, Frontsoldaten der deutschen Wehrmacht und Überlebenden des Bombenkrieges. Ihre Schilderungen ermutigen uns, über unser Schicksal und das unserer Familien neu nachzudenken. So wird eine Vision von Versöhnung und Heilung lebendig, die in die Zukunft weist. Viele Menschen in Deutschland ahnten einen Großteil ihres Lebens nicht, welche Auswirkungen ein lang zurückliegender Krieg und die Verstrickungen der eigenen Familie auf die persönliche Biografie haben. Doch der Schlüssel zum Verständnis des eigenen Lebens liegt nicht selten im Schicksal der Vorfahren. Welche Aufgaben und Herausforderungen gilt es zu bewältigen? Welche Lasten auch im Interesse einer gemeinsamen europäischen Geschichte und Verantwortung abzutragen? Von ihrer sehr persönlichen Entdeckungsreise erzählen die Autorinnen und Autoren. Ihre Erfahrungen helfen uns bei der Suche nach dem eigenen gelingenden Lebensweg.

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DEUTUNG

Michael Schneider

EINE GENERATION IM DAZWISCHEN: WARUM DIE BABYBOOMER EINE AUFGABE HABEN UND SICH IMMER NOCH UNTERSCHÄTZEN

Ich selbst gehöre zur Generation der Kriegsenkel und deutschen Babyboomer. Mein Geburtsjahrgang ist 1960. Nach langjährigen Tätigkeiten in der Industrie im In- und Ausland bin ich seit einigen Jahren auch in der Erwachsenenbildung tätig. Ich habe bis Ende 2013 unter anderem die Akademie Sandkrughof in der Nähe von Lauenburg geleitet, die bei der Entstehung des Themas »Kriegsenkel« eine wichtige Rolle gespielt hat.
Ich äußere mich zum Thema nicht als Wissenschaftler, der ich nicht bin, sondern aus dem praktischen Erfahrungswissen von jemandem, der von den behandelten Themen selbst betroffen ist, der inzwischen eine Vielzahl anderer Betroffener kennengelernt und sich mit ihnen ausgetauscht hat und der sich inhaltlich engagiert, auch ganz konkret im Vorstand eines Vereins.
Meine Beschäftigung mit Generationenthemen geht zurück auf eine Seminarreihe, die 2007 im Sandkrughof begann. In der Akademie hatte sich ein Schwerpunktthema entwickelt, das sich zunächst der Generation der Kriegskinder, also den 1930–1945 Geborenen widmete und später dann auch den Kriegsenkeln zuwandte, den Kindern der Kriegskinder.
Die Gruppe der Kriegsenkel ist in großen Teilen identisch mit der Bevölkerungsgruppe, die wir in Deutschland die »ge burtenstarken Jahrgänge« nennen oder eben neudeutsch auch die »Babyboomer«. Für das Allgemeinwissen ist es sicher interessant zu erfahren, dass der Begriff Babyboomer nicht etwa einer reißerischen Zeitungsheadline entstammt, sondern ein häufig beobachtetes demografisches Phänomen bezeichnet, und zwar den Geburtenanstieg nach dem Ende kriegerischer Auseinandersetzungen, sowohl bei den Gewinner- als auch bei den Verliererstaaten. In den USA zum Beispiel gab es infolge des Endes des Zweiten Weltkrieges schon ab 1945 einen sprunghaften Anstieg der Geburten und damit auch eine ganz eigene Babyboomer-Generation, denen wir unter anderem die Hippiekultur verdanken. Diesen Anstieg haben wir zehn Jahre nach dem Ende des Krieges von 1955 und bis 1965 auch in Deutschland erlebt. Sowohl in den USA wie auch in Deutschland verlangsamte sich das demografische Wachstum ab Mitte der 1960er-Jahre infolge der Einführung der Antibabypille nachhaltig und mit den bekannten Folgen.
Was erlaubt es uns eigentlich, von einer Generation »Kriegsenkel« oder »Babyboomer« zu sprechen? Im Geschichts- oder Biologieunterricht haben wir gelernt, eine Generation dauere 30 Jahre. Wie kommt man nun zu einer kleinteiligeren Betrachtungsweise, die uns die Differenzierung zwischen einer Kriegskinder- und Kriegsenkel-Generation erlaubt? Darauf eignet sich als Antwort eine etwas subtilere Definition des Generationenbegriffs, die wir dem Soziologen Karl Mannheim verdanken. Er hat sie in den 1920er-Jahren in seiner Schrift über Das Problem der Generationen einleuchtend ausgeführt. Seine Definition sieht eine Generation charakterisiert durch gemeinsame Generationenerlebnisse, also prägende Ereignisse in Kindheit und Jugend, die Einfluss auf ganze Geburtsjahrgänge haben. Bei einem rapiden sozialen Wandel, wie einem Krieg etwa, kann eine Generation demnach innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums die für sie charakteristische Prägung anneh men. Nach Mannheim besteht der Generationenzusammenhang in einer inneren Verbindung, die in der Teilhabe sowohl an den gemeinsamen Schicksalen als auch an den geistigen Strömungen der jeweiligen Zeit besteht.
Für die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge, die mein Thema sind, muss allerdings festgestellt werden: Es ist nicht leicht, für die Generation der deutschen Babyboomer Prägungen im Sinne Mannheims auszumachen. Reinhard Mohr, Schriftsteller und früher auch Journalist bei der Zeit und beim Spiegel, beschreibt die Babyboomer eher als Zaungäste der Geschichte, eingekeilt zwischen 68ern und Generation Golf, Nachhut der Straßenkämpfer und Vorhut der Digital Natives.
Echte Niederlagen aufgrund historischer Ereignisse musste die Generation in ihrer Jugend nicht hinnehmen, ebenso wenig erfuhr sie Zugewinne aus besonderen positiven Entwicklungen. Als die Mauer fiel, waren die Babyboomer aus der Prägephase eigentlich heraus.
Eine Generation im Niemandsland, im Dazwischen also?
Manche Autoren und Psychoanalytiker charakterisieren die deutschen Babyboomer folglich gerne als eigenschaftslos und desillusioniert, geprägt eher von einer Haltung der Indifferenz, ohne Veranlassung, die Gesellschaft zu verändern oder wenigstens ihrerseits zu prägen, weil der Leidensdruck dazu nicht ausreiche beziehungsweise ausgereicht habe.
Der Journalist Stefan Willeke, selbst Jahrgang 1964, meinte einmal, es gebe eigentlich nicht viel über uns zu sagen. Wirklich Erstaunliches könne nicht berichtet werden. Wir hätten ab und zu Geburtstag, das sei eigentlich schon alles. Zu diesen Festen kämen dann allerdings 150 Leute.
Damit charakterisiert er unsere Generation einerseits als eher unauffällig, andererseits spricht er feinsinnig ein markantes Spezifikum der Babyboomer an, das an erster Stelle prägend für ihren Sozialisationstypus wurde, und zwar ihre Anzahl, ihre schiere Masse. Davon kann man sich eine bessere Vorstellung machen, wenn man die Zahlen des Geburtsjahrgangs 1964 in Vergleich zu denen des Jahres 2013 setzt. 1964 war der geburtenstärkste Jahrgang, den es in Deutschland jemals gegeben hat und der sich 2014 zum 50. Mal jährte. Das Jahr 1964 bestätigte in besonderer Weise den Ausspruch Adenauers: »Kinder kriegen die Leute immer!« (Dass dies nicht so geblieben ist, hat er nicht mehr erlebt.)
1,357 Millionen Lebendgeburten 1964 in der damaligen Bundesrepublik mit 60 Millionen Einwohnern stehen 673 500 Geburten in Gesamtdeutschland im Jahr 2013 mit rund 80 Millionen Einwohnern gegenüber, oder zum besseren Vergleich: Auf 1000 Einwohner kamen 1964 noch 22 Geburten, 2013 waren es nur noch acht. 1964 gab es also jeden Monat Bevölkerungszuwächse in Höhe der Einwohnerzahl einer Stadt wie Siegen.
Das vorrangige Grundcharakteristikum dieser Generation, nämlich ihre ungeheure Anzahl, hat ihr den Weg durchaus nicht nur mit Rosen gepflastert. Aus sozialpsychologischer Perspektive wurde schon angenommen, dass wegen der großen Zahl Gleichaltriger im Verhältnis zu anderen Altersgruppen eine Urerfahrung der Masse stattgefunden haben muss, die nicht ohne Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung geblieben sein kann. Begriffe wie Rudel oder Schwemme sind mit dem Phänomen der Anzahl dieser Generation verbunden. Einige Theorien behaupten, dass als Folge dieser Erfahrungen ein übertriebenes Konkurrenzverhalten in die ihr angehörenden Individuen eingewandert ist, was ich persönlich nicht glaube. Eher zutreffend scheint mir die Ansicht des Journalisten Stefan Willeke, dass ein Babyboomer die Gruppe zu schätzen weiß, vor allem, wenn ihre Mitglieder gleichaltrig sind. Man ist in der Lage, sich in der Gruppe zurückfallen zu lassen auf einen hinteren Rang, ohne sich ständig bedroht zu fühlen. Die Babyboomer sind in der Regel eher nette und verträgliche Leute, und das ganz besonders untereinander.
Von diesem Bevölkerungstsunami bedroht und in Konkurrenz zu ihm fühlte sich wohl eher die Generation der Aufbau- und Wirtschaftswundergeneration. Seltsam paradox, denn schließlich handelt es sich dabei oft um die Eltern der Babyboomer. Aber die nach schwerer Zeit mühsam errungenen materiellen und sozialen Besitzstände von den Heuschrecken aus der eigenen Brut aufgefressen zu sehen, war wohl nicht jedermanns Sache.
Nur am Rande: Neben Konkurrenz könnte tief im elterlichen Seelensediment auch Neid eine gewisse Rolle spielen. Der Wohlstand nämlich, den die Eltern mit Wiederaufbau und Wirtschaftswunder erst geschaffen haben und von dem ihre Kinder nun profitieren, stand ihnen selbst nicht zur Verfügung, als sie im gleichen Alter waren.
Deshalb wohl auch aus ihrer Sicht verständlich, dass die Babyboomer von ihren Altvorderen in vielfacher Weise in die mageren Warteschleifen auf dem Weg zu den Fleischtöpfen der Gesellschaft geschickt wurden. Ob das die Unterbringung in schnell errichteten formalinverseuchten Schulbaracken betraf, das Numerus-clausus-System an den Universitäten, die bis in die 1980er-Jahre hinein exorbitanten Wehr- und Zivildienstzeiten, die Einführung eines Praktischen Jahres in der Medizinerausbildung oder andere Zwangspraktika. Für die Mädchen, die man ja zum Wehrdienst nicht heranziehen konnte, wurde ausgerechnet 1964 auch noch das Freiwillige Soziale Jahr erfunden. Selbst die inzwischen notwendig gewordene Eigenfürsorge für die Rente hat hier ihre Ursachen. Alternativ dazu wäre ja auch beizeiten an eine Mäßigung bei der Rentenentwicklung der Vorgängergeneration zu denken gewesen; zugegebenermaßen keine Maßnahme, mit der man sich als Politiker viele Freunde unter den Bald-Rentnern gemacht hätte. An diesem Punkt sind die Babyboomer tatsächlich von ihren Eltern düpiert worden.
Was immerhin wissenschaftlich nachgewiesen wurde, ist, dass die Babyboomer zur ersten Generation mit zum Teil »prekären Berufsbiografien« im Nachkriegsdeutschland wurden, wie der Soziologe Heinz Bude formulierte. Das lebenslange Normalarbeitsverhältnis war zu den Zeiten, als die Babyboomer auf den Arbeitsmarkt drängten, kein Regelfall mehr. Die Ölkrise und die schiere Anzahl der Mitglieder der geburtenstarken Jahrgänge wiesen sie aus dem Paradies der Vollbeschäftigung. Als der erste Schwung der Generation der vielen Mitte der 1970er-Jahre Abitur machte, zu Zeiten des großen Bildungsaufstiegs, hatten Eltern und Lehrer ihnen immer noch Gelassenheit vermittelt: Einen Beruf kriegt ihr immer! Das ließ die Studienwahl oft zur Neigungsentscheidung werden. Nur die Ängstlichen wählten Jura oder BWL, um sich auf jeden Fall einen auskömmlichen Platz in der Arbeitswelt zu sichern. Die anderen machten es wie der junge Michael Diekmann, Jahrgang 1954, und studierten erst einmal Philosophie, getreu dem Motto: Allianz-Chef kannst du hinterher immer noch werden. Dass dann doch nicht alle von ihnen Allianz- oder Telekom-Chef (René Obermann, Jahrgang 1963) geworden sind, liegt vor allem, aber nicht nur, an ihrer großen Zahl. 1973 stieg der Ölpreis von rund drei auf fünf Dollar je Fass, weil die OPEC das infolge des Jom-Kippur-Krieges so verhängte. Die Deutschen verordneten sich ein Sonntagsfahrverbot auf den Autobahnen, und die ganze Welt rutschte in den wirtschaftlichen Stillstand bei gleichzeitig steigender Inflation. Eine ungemütliche Gemengelage. Aufgewachsen im Paradies der Vollbeschäftigung ging die Nachfrage nach arbeitenden Menschen genau in jenem Moment dramatisch zurück, als die Babyboomer, darunter immer mehr Frauen, auf den Arbeitsmarkt drängten. Ich erinnere mich gut an die aufrüttelnden Titelblätter der Magazine in den Auslagen der Bahnhofskioske Mitte der 1970er-Jahre: »Jetzt 700 000 Arbeitslose, 800 000 – bald eine Million Arbeitslose.« Noch nicht einmal Lehrerstellen gab es für die vielen Germanisten und Anglisten, denn durch den Pillenknick von 1965 war auch der Bedarf an Pädagogen geschrumpft. Ein akademisches Proletariat von Taxifahrern wurde zum Schreckgespenst dieser Generation und dem ihrer Eltern, die befürchteten, bis Sankt Nimmerlein für sie aufkommen zu müssen.
Der Gerechtigkeit halber sei erwähnt, dass es die Babyboomer der DDR in dieser Hinsicht zwar später, aber dafür doch ganz besonders hart getroffen hat: Als die Mauer fiel, waren sie schon um die 30 Jahre alt, zu alt, um dem Leben noch einen neuen Dreh zu geben. Ihnen blieb in vielen Fällen nur der Weg über die Kurzarbeit und den zweiten Arbeitsmarkt in die Frühverrentung. Man möchte sie in der Breite tatsächlich eine verlorene Generation nennen.
So viel mag zur Charakterisierung der Generation der geburtenstarken Jahrgänge in Ost und West als einer »Generation der vielen« genügen und damit der Schwenk zu dem anderen Spezifikum, das mir und vielen anderen erst in den letzten Jahren aufgegangen ist. Dafür greife ich den am Anfang schon genannten Gattungsbegriff »Kriegsenkel« wieder auf. Wer diese Bezeichnung eingeführt hat, ist mir leider nicht bekannt. Ich habe ihn das erste Mal im Buch Ich, Rabentochter von Katharina Ohana aus dem Jahr 2006 gelesen. Inzwischen hat er sich über vielerlei Publikationen im öffentlichen Diskurs etabliert. Die bekannteste Veröffentlichung ist das gleichnamige Buch der Kölner Autorin Sabine Bode. Auf der Spiegel-Bestsellerliste 2014 waren dieses Buch und sein Vorgänger über die Kriegskinder viele Wochen hintereinander vertreten. Erstaunlich eigentlich, denn das Buch über die Kriegskinder ist bereits 2004 erschienen und das über die Kriegsenkel 2009. Tatsächlich handelt es sich hier weniger um Best- als um Longseller, die sich über lange Zeit kontinuierlich von den Graswurzeln aus in die Spitzenränge der Verkaufszahlen entwickelt haben. Für mich ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich eine offensichtlich wachsende Käuferschaft von einem gesellschaftlichen Thema angesprochen fühlt, von dem sie bis vor wenigen Jahren noch keine Ahnung hatte.
Als »Kriegskinder« bezeichnet man, wie eingangs bereits erwähnt, die Jahrgänge 1930 bis 1945. In dieser Zeit wurden Menschen geboren, die als Jugendliche, Kinder oder Säuglinge Erfahrungen mit Kriegshandlungen, Bombenkrieg, Flucht, Vertreibung oder dem Tod naher Angehöriger machen mussten. Nach den heutigen Kenntnissen der Traumaforschung muss man davon ausgehen, dass die Angehörigen dieser Gruppe posttraumatische Belastungsstörungen unterschiedlichen Grades davongetragen haben, die mangels Kenntnis und Ressourcen fast vollständig unbearbeitet geblieben sind. Als »Kriegsenkel« werden die Kinder der »Kriegskinder« bezeichnet. Hierbei handelt es sich grob um die Jahrgänge 1960 bis 1975. Sie sind zu großen Teilen deckungsgleich mit den zuvor beschriebenen geburtenstarken Jahrgängen der Babyboomer. Die Forschung hat sich in unterschiedlicher Weise seit etwa zehn Jahren der Fragen um die Kriegskindheiten in deutschen Familien angenommen. Seit etwa sechs Jahren werden auch die Kriegsenkel thematisiert.
Pionier auf dem Gebiet der Erforschung der Folgen von Kriegskindheiten war der frühere Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Kassel, Hartmut Radebold. In seinem empfehlenswerten Buch Die langen Schatten unserer Vergangenheit beschreibt er zum einen die Sozialisation der verschiedenen Kriegskinder-Kohorten und zum anderen, zu welchen existenziellen Verunsicherungen und Charakterprägungen die Erfah rungen des Kriegsgeschehens im weiteren Leben bei ihnen geführt haben. Hartmut Radebold stand auch einer Gruppe von Zeithistorikern und Humanwissenschaftlern vor, die, nach dem Vorbild von Soziologen und Medizinern in Israel, die die Biografien der sogenannten zweiten Generation nach dem Holocaust erforschten, sich mit den Fragen von transgenerationalen Weitergaben an die Nachfahren der deutschen Kriegserlebnisgeneration beschäftigten. Sie fanden Hinweise darauf, dass sich die Belastungen nicht an die Generationengrenzen gehalten hatten und dass die Nachgeborenen auf unterschiedliche Weise am Schicksal der Elterngeneration mittragen.
Ob es auf eindrückliche Art oder subtil, bewusst oder unbewusst zu Weitergaben gekommen ist: Für mich und eine wachsende Zahl anderer Betroffener ist es inzwischen evident, dass sich Belastungen, die eine Generation erfahren hat, auch in der Folgegeneration abbilden können. Oft bedarf es der Bearbeitung und der Unterstützung anderer, um die Zusammenhänge aufzuspüren und zu verstehen. Diese Erfahrung habe ich zahlreich in der Seminararbeit gemacht. Dafür ein paar Beispiele. Da geht es etwa um die Weitergabe von Lebensmustern, die genuin etwas mit Aufträgen zu tun haben, die kriegsgeprägte Eltern ihren Kindern mit auf den Weg geben: etwa der Karriereweg, der immer wieder Brechungen erfährt, weil es die Betroffene nirgendwo lange aushält. In der Genogrammarbeit stellt sich dann das Flüchtlingsschicksal der Mutter heraus, die ihrem Kind den Spruch mit auf den Weg gab: Ankommen ist gefährlich!
Oder die Enkelin, die ihre Freiberuflichkeit den wesentlich besser dotierten Angeboten zur Festanstellung bei großen Organisationen vorzieht, parallel zur Strategie des hoch qualifizierten Großvaters, der sich im Krieg immer wieder subaltern in der Etappe duckte, um so dem Einsatz an der Front zu entgehen. Oder die Mutter aus Schlesien, die ihrem Sohn ein schärfte: Bildung ist das Einzige, was man dir nicht nehmen kann – seit Jahren dreht sich bei ihm das Karussell immer neuer Aus- und Fortbildungen, ohne dass ihm das inzwischen noch Vorsprünge auf seinem Berufsweg bringen würde.
Die langen Schatten der Vergangenheit fielen und fallen aber auch ganz unspektakulär in der Art einer eingetrübten Grundstimmung auf das Verhältnis vieler Kriegsenkel zu ihren Eltern. Sie sind oft einfach nicht gut, die Beziehungen zueinander, auch ohne dass das gleich in den offenen Kampf münden würde, wie das bei den 68ern der Fall war. Eher könnte man sie als von einer sprachlosen Entfremdung geprägt beschreiben. Sabine Bode berichtet in ihrem Kriegsenkel-Buch mehrfach davon, dass sich viele der von ihr befragten Generationenvertreter noch nie Gedanken über die möglichen Ursachen gemacht hätten, die zu den von ihnen kritisierten unbegreiflichen oder seltsam scheinenden Eigenarten beziehungsweise Verhaltensweisen ihrer Eltern geführt haben könnten: nämlich deren Erfahrungen im Krieg und den schlimmen Jahren danach. Obwohl doch gerade die Auseinandersetzung mit solchen Erfahrungen eine Brücke zum Verständnis der eigenen Lebensgeschichte schlagen könnte.
Es strapaziert das Weltbild von uns aufgeklärten Menschen, wenn wir uns in die Vorstellung hineindenken, eine Generation habe auf oft unklare Weise am Erbe ihrer Vorgänger zu tragen, und zwar in einem anderen als moralischen Sinn. Ich möchte trotzdem dafür eintreten, sich mit diesem Gedanken anzufreunden. Wenn man die Belastung imaginiert, die sich da von den Kriegskindern auf den Weg zu den Kriegsenkeln gemacht haben könnte, findet man vielleicht auch einen Zugang, wie sich die Entlastung von solcher Bürde anfühlen muss. Mit dieser Entlastung kommen Kriegsenkel schon dort spürend in Kontakt, wenn sie erkennen, dass nicht alles, woran sie tragen, aus der eigenen Biografie herrührt. In den sozialen Netzwerken im Internet lese ich von diesem Effekt fast täglich. Genauso sieht es in Seminaren und auf Tagungen aus, die der Kriegsenkel-Verein organisiert, in dem ich mich engagiere. Positive Nebenwirkung ist dabei übrigens oft, dass das Verständnis für die Elterngeneration wächst.
Sabine Bode schreibt in ihrem Vorwort zum Buch Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation: »Hatte man sich bis dahin als Generation ohne Eigenschaften gesehen, verblüffte und erleichterte die Kinder der Kriegskinder der Gedanke, offenbar doch generationsspezifische Probleme zu haben. Sie zogen daraus den Schluss, es könne s...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Haupttitel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Einführung von Sabine Bode
  7. ERFAHRUNG
  8. DEUTUNG
  9. HEILUNG
  10. Biografien
  11. Dank
  12. Literatur