Kapitel 1: Klingelterror
Sonntag, der 3. November 2013 war der Tag, an dem Cornelius Gurlitt aus seiner Anonymität gerissen wurde. Um acht Uhr morgens erschien die Digitalausgabe des Magazins Focus;1 auf der Titelseite stand in fetten Lettern: »DER NAZI-SCHATZ«. Auf Seite 64 folgte dann die Geschichte der 1.500 Kunstwerke, die angeblich zur »Beute Hitlers« gehört hatten und von der Staatsanwaltschaft im Jahr zuvor in Gurlitts Wohnung beschlagnahmt worden waren. Und schon in der zehnten Zeile, neben einem doppelseitigen Foto von Adolf Hitler, sein vollständiger Name »Rolf Nikolaus Cornelius Gurlitt« und sein Geburtsdatum.2 Bei Erscheinen des Focus war Gurlitt 80 Jahre alt. Außerdem erfolgte in dem Artikel der Hinweis, dass er in München-Schwabing lebe, dazu gab es ein Foto seines Apartmenthauses, eines vom Eingangsbereich und eines von seinem Klingelschild.3
Die Geschichte vom sensationellen Kunstfund verbreitete sich in rasender Geschwindigkeit buchstäblich über die ganze Welt. Auch wenn Gurlitt nicht im Münchner Telefonbuch stand, war es jetzt ein Leichtes, ihn mithilfe der Informationen aus dem Focus aufzuspüren.
In Gurlitts Nachlass haben sich seine Notizkalender erhalten: Dutzende kleiner Bücher, meist in Plastik gebundenes Quartformat, zwei Tage pro Seite und am Ende Hinweise auf Schulferien und andere hilfreiche Angaben.4 Im laufenden Kalender finden
Hitlers langer Schatten. Focus-Cover, 4. November 2013
sich keine Angaben, die Seiten sind leer. Stattdessen nutzte Gurlitt die Monatsaufstellungen am Anfang für seine Einträge. Mit der für ihn typischen winzigen, etwas abgehackten Schrift hielt er meist mit Bleistift fest, was sich in seinem Leben ereignete. Oft nur ein Wort oder eine Abkürzung pro Spalte. 30 oder 31 Spalten pro Monat, sechs Doppelseiten für ein Jahr.
»Krank A.K.P.«, so beginnt der erste Tag des Jahres 2013; A.K.P. als Abkürzung für die Adresse seiner Wohnung am Artur-Kutscher-Platz 1. »Krank A.K.P.« steht in den Spalten bis zum Samstag, den 5. Januar. Dann setzen die üblichen Einträge ein. Ein- bis zweimal in der Woche verließ Gurlitt mit seinem schwarzen Einkaufstrolley die Wohnung; meist nahm er sich dann ein Taxi am gegenüberliegenden Taxistand, auch wenn es sich nur um kurze Wege handelte; etwa zum nahe gelegenen Karstadt, um Lebensmittel oder Kleidung zu kaufen; zur Apotheke an der Münchner Freiheit, manchmal zur Bank, und alle zwei Monate zum »Friseur [am] Goetheplatz«. Eine kleine Schere zeichnete er jedes Mal symbolisch vor den Eintrag für das Schneiden seiner stets ordentlich gescheitelten weißen Haare.
Dazu, selten, kleinste Abweichungen vom gewohnten Tagesablauf: Freitag, 24. Mai 2013, »Wegen Regen kein Einkauf«, Dienstag, 6. August, »Außen: + 33 °C. Innen: + 30 °C«, Donnerstag, 19. September, »Kein Warmwasser«. Schließlich notierte Gurlitt noch, wenn er von Zeit zu Zeit einen Brief verfasste. Drei Tage dauerte das durchschnittlich; am ersten Tag wurde das Anschreiben »erarbeitet«, am zweiten »geschrieben« und am dritten schließlich »eingeworfen«. Keine Geburtstage, keine Einladungen, keine Theaterbesuche – nicht ein Spurenelement aus dem Kanon sozialer Bindungen findet sich in den Notizbüchern. Im Halbdunkel seiner Wohnung, deren Rollläden schon seit dem Tod der Mutter 1968 heruntergelassen und verschraubt waren, lebte Gurlitt zurückgezogen wie ein Eremit – bis zum 3. November 2013.
Sechs Doppelseiten für ein Jahr. Cornelius Gurlitt, Notizkalender, letzte Einträge, November 2013
»Klingel-Tumulte«, notierte Gurlitt an diesem Tag. Die ersten Journalisten hatten nach der Veröffentlichung im Focus Witterung aufgenommen und versuchten nun, den Einsiedler aus seiner Wohnung zu klingeln. Am Tag darauf: »Wüste Klingel-Tumulte.« Binnen 24 Stunden nach der Veröffentlichung des Focus befand sich das Apartmenthaus am Artur-Kutscher-Platz im Belagerungszustand. Reporter aus aller Welt lauerten in ihren Autos, klumpten in kleinen Gruppen auf dem Bürgersteig oder warteten in der Novemberkälte hinter ihren Stativen und Kameras. Ein Schild am Eingang des Grundstücks, das in weißer Schrift auf grünem Grund darum bat, »Hunde von der Rasenfläche fernzuhalten«, wurde zum beliebten Hintergrund für die Aufsager der Fernsehjournalisten. Und einzelne Nachbarn, die Gurlitt in ihrem Leben vielleicht einmal im Treppenhaus begegnet waren, gaben jetzt Kronzeugen für den geheimnisvollen alten Herrn. Während jedoch einige Reporter vor dem Haus sogar darüber nachdachten, der Wohnung im fünften Stock mit einer Kamera-Drohne zu Leibe zu rücken,5 erschloss sich Gurlitt das Ausmaß des öffentlichen Interesses zunächst nur rudimentär. Zeitungen las er unregelmäßig, einen Fernseher oder Internetanschluss hatte er nicht. Manchmal hörte er Radio. Aus den Nachrichten des Bayerischen Rundfunks erfuhr er schließlich, dass über ihn und seinen Vater berichtet wurde.
Seine Reaktion zeigt, dass sich ihm das ganze Ausmaß der Aufregung nicht wirklich erschloss. Gurlitt entwarf einen Brief an den Spiegel, den er nach mehreren Anläufen schließlich auf seiner mechanischen Reiseschreibmaschine tippte. Eine Verwechslung! Offensichtlich kannte Gurlitt den Focus, der erst seit 1993 erschien, nicht und wandte sich deshalb an den ihm vertrauten Spiegel. Ohne Rücksicht auf seine Privatsphäre druckten die Redakteure des Nachrichtenmagazins aus Hamburg in ihrer folgenden Ausgabe den Brief vom 4. November als Faksimile mit voller Adresse ab:
»Sehr geehrte Damen und Herren!
In einer Sendung des Bayerischen Rundfunks habe ich gehört, daß in Ihrer Zeitschrift, die in Deutschland wegen ihres besonders geistreichen und edel gesinnten Charakters allgemein hoch geschätzt ist, ein Artikel erschienen sein soll, in welchem der Name Gurlitt in Druckschrift erscheint.
Darf ich Sie bitten, diesen Namen in Zukunft freundlicherweise nicht mehr in Ihrem in Deutschland hoch geschätzten Blatt erscheinen zu lassen.
Es könnte sonst leicht der Eindruck entstehen, Dr. H[ildebrand] Gurlitt, der nach den Nürnberger Gesetzen ein Mischling zweiten Grades war, habe einstmals Zeitungsartikel verfasst, die in weithin bekannten Zeitungen wie »Das Reich« oder »Völkischer Beobachter« veröffentlicht worden sind.
Mit bestem Dank im Voraus und freundlichen Grüßen
Cornelius Gurlitt«6
Am Dienstag, den 5. November verließ Cornelius Gurlitt zum letzten Mal ungestört seine Wohnung;7 dabei mag ihm zugutegekommen sein, dass bis dahin noch niemand ein Foto von ihm gesehen hatte. Außerdem waren die meisten Journalisten und Reporter an diesem Tag nach Augsburg gepilgert, wo die Staatsanwaltschaft ab neun Uhr morgens zu einer eilig anberaumten Pressekonferenz geladen hatte. Die Weltöffentlichkeit sollte über den Stand ihrer Ermittlungen zum Fall Gurlitt informiert werden. Bei der Frage nach dem Aufenthaltsort des Beschuldigten blieb der Chef der Behörde, Oberstaatsanwalt Reinhard Nemetz, allerdings einsilbig: »Wir wissen es selbst nicht.« Bestehe derzeit Kontakt zu ihm? »Nein.« Scherzhaft fragte einer der anwesenden Journalisten: »Lebt der überhaupt noch?« Nemetz wusste es nicht.8
Gurlitt lebte, und sein Weg führte ihn an diesem Tag zu zwei nahe gelegenen Banken, zu Karstadt, einer Apotheke und einer Drogerie.9 Am Mittwoch dann wieder »Klingel-Lärm«.10 Donnerstags telefonierte Gurlitt mit seinem Arzt, einem Internisten aus Kornwestheim bei Stuttgart, und bestätigte einen für die kommende Woche vereinbarten Termin.11 Die Jagd nach einem Foto von Cornelius Gurlitt nahm mittlerweile groteske Züge an; der Stern plante sogar, mithilfe einer ehemaligen Hausmeisterin ein Phantombild anfertigen zu lassen.12 Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Am Freitag, den 8. November verließ Gurlitt erneut das Haus. Diesmal wurde er erkannt.
Denis Trierweiler vom Paris Match war um 11.45 Uhr am Münchner Flughafen gelandet;13 der französische Journalist sprach fließend Deutsch und sollte seinen Kollegen David Le Bailly unterstützen, der ohne Sprachkenntnisse bei seinen Recherchen zu Gurlitt nicht weiterkam. Immerhin hatte Le Bailly das Apartmenthaus von Gurlitt ausfindig gemacht. Gegen 13.00 Uhr traf er mit Trierweiler am Artur-Kutscher-Platz ein. Die meisten Reporter, die das Haus seit dem 3. November belagert hatten, waren weitergezogen. Ungehindert gelangten die beiden französischen Journalisten in das weitläufige glasgedeckte Atrium; das gediegene Interieur stand in auffälligem Gegensatz zur schmucklosen Fassade des 60er-Jahre-Baus. Die Böden und Treppenstufen der sieben Stockwerke waren aus poliertem Travertin, die Treppenläufe und Türen in dunklem Tropenholz ausgeführt, umrankt von üppigen Grünpflanzen. Relikte des Luxus aus einer Zeit, in der das Leben in einem Hochhaus noch als modern und elegant galt.
Trierweiler und Le Bailly fuhren mit dem Aufzug in den fünften Stock, wo Gurlitts Wohnung lag. In dem Moment, als sich die Aufzugtür öffnete, sahen sie einen alten Mann, der auf der gegenüberliegenden Seite in Richtung eines zweiten Aufzugs ging; Trierweiler eilte zu dem zweiten Aufzug und fragte: »Sind Sie Herr Gurlitt?« Gurlitt starrte Trierweiler ein paar Sekunden lang regungslos an, antwortete dann entschieden »Nein« und schloss die Tür seines Fahrstuhls. Die Journalisten hasteten ihm nach und holten Gurlitt vor dem Haus wieder ein. Der alte Mann hatte nach ein paar Schritten angehalten und stützte sich nun auf seinen Einkaufstrolley, um wieder zu Kräften zu kommen. Dann ging er wieder ein paar Meter, um erneut zu rasten. Nach gut zehn Minuten hatte Gurlitt schließlich den Taxistand auf der anderen Straßenseite erreicht. Le Bailly und Trierweiler nahmen mit einem zweiten Taxi die Verfolgung auf.
Die Fahrt endete nach wenigen Minuten vor dem Karstadt an der Münchner Freiheit. Auf der Suche nach Batterien fuhr Gurlitt in die Elektronikabteilung im vierten Stock. Trierweiler, der begonnen hatte, den alten Mann unauffällig mit seiner Handykamera zu fotografieren, schickte Le Bailly jetzt los, um eine bessere Kamera zu kaufen. Ohne Erfolg. Im ganzen Kaufhaus war kein Fotoapparat aufzutreiben. Über die Redaktion in Paris wurde ein Agenturfotograf angefordert. Dabei kam den beiden französischen Journalisten zugute, dass Gurlitt sehr bedächtig vorging und die Waren ausführlich studierte, bevor er sich zum Kauf entschied. Als Goran Gajanin, ein erfahrener Münchner Pressefotograf, nach über einer Stunde eintraf, befand sich Gurlitt immer noch in dem Kaufhaus an der Kasse der Lebensmittelabteilung im Untergeschoss.14 Mit einem Teleobjektiv machte sich Gajanin sofort an die Arbeit. Dutzende Bilder zeigen Cornelius Gurlitt, wie er seinen Einkaufskorb Stück für Stück leert und seine Einkäufe auf das Transportband legt. Nach dem Bezahlen wandte sich Gurlitt zum Ausgang und ging dabei ein paar Schritte direkt auf Gajanin zu, ohne ihn freilich zu bemerken.
50 Jahre alles dafür getan, unsichtbar zu sein. Cornelius Gurlitt, München, 8. November 2013
Diese heimlich aufgenommenen Fotos von Gurlitt, im anthrazitfarbenen Mantel mit sorgfältig übereinandergelegtem Karoschal, leicht gebeugt und sichtlich angestrengt von dem zurückliegenden Einkauf, sollten am Tag darauf um die Welt gehen. Momentan fehlte allerdings noch die Gewissheit, dass der alte Mann wirklich Cornelius Gurlitt war. Trierweiler versuchte es mit einem Trick. Am Ausgang rief er ihm hinterher: »Herr Gurlitt?« Und Gurlitt blieb tatsächlich stehen. Trierweiler eilte zu ihm und sprach ihn noch einmal an: »Herr Gurlitt, wir sind französische Journalisten. Würden Sie uns ein paar Fragen beantworten?« Mit einer Mischung aus Angst und Hass, so Trierweiler später, habe dieser seine Verfolger angestarrt und geantwortet: »Beifall von der falschen Seite ist das Schlimmste, was es gibt.«15
Trierweiler entschloss sich, den alten Mann nicht weiter zu bedrängen; auch, wie er später erklärte, weil Gurlitt offensichtlich krank war und Trierweiler Sorge hatte, er würde unter dem Druck zusammenbrechen. Unauffällig folgte er ihm erneut bis zum Artur-Kutscher-Platz; als Trierweiler sah, dass Gurlitt im fünften Stock tatsächlich in seine Wohnung ging, hatte er endgültig Gewissheit.
Der Paris Match erscheint regelmäßig am Donnerstag; die Befürchtung lag nahe, dass es anderen Reportern bis dahin gelingen würde, Cornelius Gurlitt »abzuschießen«. Um dem zuvorzukommen, wurden die Fotos bereits am Samstag auf der Internetseite des Magazins online gestellt,16 binnen kürzester Zeit weltweit verbreitet und millionenfach gesehen; »das Phantom« hatte endlich ein Gesicht bekommen. Zähneknirschend zollte die Branche dem Scoop Respekt; Andreas Petzold, Herausgeber des Stern, brachte das allgemeine Gefühl noch am selben Abend via Twitter auf den Punkt: »Da haben uns die Franzosen aber gezeigt, wie’s geht.«17
Dabei entsprach Trierweiler nicht wirklich dem typischen Bild eines Paparazzo. Der 60 Jahre alte Journalist hatte in Straßburg Philosophie studiert und beschäftigte sich neben seiner Tätigkeit beim Paris Match unter anderem mit der Übersetzung philosophischer...