Vom Menschen als utopischem Wesen
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Vom Menschen als utopischem Wesen

Vier Essays

  1. 214 Seiten
  2. German
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Vom Menschen als utopischem Wesen

Vier Essays

Über dieses Buch

Ernst Robert Curtius sagte über José Ortega y Gasset: "Er ist vielleicht der einzige Mensch in Europa, dem es gegeben und gemäß ist, mit der gleichen Intensität des Interesses, der gleichen Sicherheit des Urteils, dem gleichen Glanz der Formulierung über Kant wie über Proust, über Debussy wie über Scheler zu sprechen. Zwischen vorgeschichtlichen Kulturen und kubistischer Malerei scheint es nichts zu geben, was diesen Kritiker nicht interessierte." Das Buch "Vom Menschen als utopischen Wesen", das im Europa Verlag erstmals im Jahre 1951 erschien, versammelt vier Essays, die Curtius' Urteil begründen: Ideen und Glaubensgewißheiten, Insichselbst-Versenkung und Selbstentfremdung, Glanz und Elend der Übersetzung und Ideen für eine Geschichte der Philosophie. Ob Ortega von den Phänomenen des Denkens und Glaubens, der Selbstversenkung und -entfremdung ausgeht oder von der Geschichte der Philosophie: nach wenigen Sätzen ist er in den Tiefen der Problematik und - wie er meint - des wesentlich utopischen Charakters des menschlichen Tuns. Er öffnet dem Leser die Augen für Einsichten und Zusammenhänge, die ihm bis dahin, wenn nicht fremd, so doch nicht klar bewußt waren. " Das Schicksal - das Privileg und die Ehre - des Menschen ist es, niemals ganz zu erreichen, was er sich vornimmt und bloßer Anspruch, lebende Utopie zu sein. Immer schreitet er der Niederlage entgegen, und schon ehe er in den Kampf eintritt, trägt er die Wunde an der Schläfe." (Ortega y Gassett)

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Information

IDEEN FÜR EINE GESCHICHTE
DER PHILOSOPHIE
Das Denken ist ein Fortschritt
zu sich selbst.
(Aristoteles: über die Seele)
Das spanische Original erschien zuerst in Buenos Aires
als Vorwort zu einer Geschichte der Philosophie
von Emile Bréhier und 1944 unter dem Titel
PROLOGO A UNA HISTORIA DE LA FILOSOFIA
im Verlag der Revista de Occidente, Madrid
Die Übersetzung besorgte Dr. G. Lepiorz
Die glanzlosen Epochen
Es gibt Epochen in der Geschichte der Philosophie, über die im Grunde heute noch wenig Klarheit herrscht. Die einen nennt man Epochen des Übergangs, andere wieder Epochen der Dekadenz. Damit will man andeuten, daß es sich um Zeiten einer weniger schätzenswerten philosophischen Produktion handelt. Aber beide Bezeichnungen, „Übergang“ und „Dekadenz“, sind unzutreffend. Alles in der Geschichte ist Übergang, und das in einem Maße, daß man die Geschichte geradezu als die Wissenschaft des Übergangs definieren könnte. Dekadenz ist eine nur einseitige Diagnose für ein Zeitalter, wenn nicht gar eine Herabsetzung. In den Zeiten sogenannter Dekadenz geht zwar einiges in die Brüche, aber andere Dinge keimen auf. Man müßte daher beide Bezeichnungen mit mehr Vorsicht anwenden, denn beide haben sie den Nachteil, daß sie die Zeit, der sie zugeschrieben werden, nicht nach ihrer wirklichen Eigenart bezeichnen und nach den tatsächlichen Wesenszügen des Lebens, das damals gelebt wurde, sondern daß es bloß unsere eigenen Werturteile sind, die mit der Wirklichkeit, die sie meinen, nichts zu tun haben.
Zweifellos haben zu gewissen Zeiten die Menschen in dem Bewußtsein gelebt, daß sie sich zwischen einer großen, in der Auflösung begriffenen Vergangenheit befinden und einer großen Zukunft, die sich noch nicht gestaltet hat. Vielleicht nannten sie selbst ihre bedauernswerte; ungeklärte Lage „Übergang". Aber auch in diesem äußersten Fall handelt es sich nur um eine Vorstellung, die diese Menschen von sich selbst hatten. Der Geschichtsschreiber wird sie in Betracht ziehen müssen, weil diese Vorstellung, auch wenn sie falsch sein sollte (und manchmal ist sie es gewesen), der Wirklichkeit angehört, die er darstellen will. Er muß sie also in Betracht ziehen, darf sie aber nicht als Bezeichnung oder Definition einer historischen Epoche wählen. Um zu beweisen, wie ungeeignet eine solche Benennung ist, genügt es sich klarzumachen, daß es ein allgemeiner Ausdruck ist, der sich auf viele Zeiten anwenden läßt, die recht verschieden voneinander sein können. Kurz, wenn wir von Übergang und Dekadenz sprechen, müssen wir uns darüber Rechenschaft geben, wie wenig wir damit sagen; statt mit diesen Begriffen wie mit Mechanismen zu manipulieren, die uns durch ihr eigenes automatisches Wirken ein Stück der Vergangenheit aufzuklären vorgeben, sollten wir darin eine Aufforderung sehen, die seltsame und konkrete Gestalt zu erforschen, die das menschliche Leben unter den abstrakten Bezeichnungen „Übergang" und „Dekadenz" annimmt.
Das Negative an diesen Begriffen darf uns nicht vergessen lassen, daß jede Epoche positiv ist, daß alles Leben die Bejahung seiner selbst in sich trägt, daß es keinen Augenblick gibt, an dem die Menschheit sich selbst aufgegeben hätte. Und die wichtigste Aufgabe des Geschichtsschreibers ist es, auch in den schrecklichsten Zeiten die Gründe zu entdecken, die es den Zeitgenossen ermöglichten, weiterzuleben. Wer in einer Übergangszeit lebt, lebt nicht im Übergang zu einer andern Zeit, sondern ist fest in seiner Zeit verhaftet, nicht mehr und nicht weniger als die Menschen einer vollkommen stabilisierten Epoche. Umgekehrt hat es auch noch nie eine Zeit gegeben, in der es an Dissidenten gefehlt hätte, an Menschen oder Gruppen, die einem andern zukünftigen oder vergangenen Zeitalter den Vorzug gegeben hätten oder geben zu sollen g l a u b t e n. Man verwechsle die Frage nicht mit der Tatsache, daß der Mensch sich zu gewissen Zeiten für anormal unglücklich gehalten hat.
Die Geschichte der Philosophie ist als Wissenschaft eine der jüngsten Disziplinen: sie ist wahrhaftig noch keine hundert Jahre alt Während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mußte sie sich mit dem Nächstliegenden befassen: in einer ersten Annäherung das Denken der großen Gestalten der Philosophie rekonstruieren. Dann kam das erste formale Studium von Platon und Aristoteles, von Descartes, von Leibniz, von Kant Noch vor wenigen Jahrzehnten kannte man Fichte, Schelling und Hegel noch nicht. Es waren noch drei Geheimnisse. Heute erst fängt man an, Spinoza zu studieren.
Auch wenn man das alles zusammennimmt, so hat man noch keine Geschichte der Philosophie, wie auch die Orographie nicht nur die Wissenschaft von den Höhen ist. Das Gebirge setzt das Tal voraus.
Aber das Bild der philosophischen Vergangenheit, das wir noch vor uns haben, ist eine Gebirgslandschaft im Nebel. Wir sehen hoch oben die Gipfel der höchsten Berge; ohne Zusammenhang schweben sie leicht und unwirklich über dem weichen Chaos des Nebels, durch den wir vielleicht unklar geisterhafte Umrisse zu erkennen glauben, ohne aber zu sehen, wie die stolzen Berge aus dem kontinentalen Niveau emporragen, und welches die Linie ist, die sie miteinander verbindet Kurz, es fehlt uns die Hauptsache: die Geotechnik des großen philosophischen Gebirges.
Meines Erachtens kann die Geschichte der Philosophie nicht vorwärtskommen und wirklich das werden, was ihr Titel verspricht, wenn nicht diese Kenntnislücken gefüllt werden, die sich abgrundgleich zwischen den großen und berühmten Etappen des Denkens auftun. Es ist dringend notwendig, daß das Studium der glanzlosen Epochen in Angriff genommen wird.
Die Unkenntnis, unter der wir in dieser Hinsicht leiden, hat in jedem Fall eigene Wesenszüge und verschiedene Ausmaße, die, wenn auch nur an einigen flüchtigen Beispielen, aufgezeichnet werden sollen.
Schon nach Aristoteles beginnt die Finsternis. Es handelt sich um die drei großen Philosophen der „Dekadenz" der Antike: Stoa, Epikureismus und Skeptizismus. Man kann nicht sagen, es sei noch nicht darüber gearbeitet worden, besonders über die Stoa. Aber weder in der Menge noch in der Arbeitsweise hat man etwas getan, was auch nur ungefähr dem intensiven Kult gleichen würde, der Platon und Aristoteles zuteil wurde. Tatsache ist, daß wir nur eine unklare Idee von diesen drei Bewegungen des klassischen Geistes haben, die als Systeme gedanklicher Technik zweifellos nicht so wertvoll sind wie die ältere Akademie und die Peripatetiker, die aber dafür in der Geschichte den größten Einfluß gehabt haben. Noch nie hat eine Philosophie ein Weltreich so wirksam gestützt, wie die Stoa die gewaltige Regierung der Adoptivkaiser.[1]
Aber im Schoße dieser Philosophien stirbt die antike Welt, während gleichzeitig die neuen Völker des Westens erwachen. Denn das aufkommende Christentum war bis ins Innerste seiner noch ungeformten, weichen und keimenden Masse von der Theologie und Ethik der Stoiker durchdrungen worden. Noch mehr: in der Renaissance sind es nach einem oberflächlichen Aufblühen des neuplatonischen Einflusses diese drei Philosophien, die in Wahrheit den antiken Geist den neuen Männern übermitteln, die die Tore des modernen Zeitalters öffnen. Die drei Philosophien umstehen wie drei Feen die Wiege des Cartesianismus, also des ganzen klassischen europäischen Rationalismus.
So stehen wir also nun vor folgender gewaltiger Tatsache: kaum tauchen diese drei Philosophien der „Dekadenz" auf, da verdrängen sie schon den Platonismus und den Aristotelismus aus der beherrschenden Stellung gegenüber den geistigen Gruppen Griechenlands, obwohl es sich, unserer Ansicht nach, um weniger vollendete Philosophien handelt. Es ist an sich schon recht verwunderlich, daß die Geschichtsschreiber der Philosophie einem Ereignis von solcher Tragweite nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt haben. Nun hat dieses Ereignis aber zwei Seiten. Nicht nur ist der schnelle Sieg eines so unbeholfenen Gedankenguts, wie es die Stoa darstellt, über ein Wunder an Präzision und Geistesschärfe, wie es der platonisch-aristotelische Idealismus ist, überraschend, sondern wir müssen uns überhaupt die Frage stellen, was mit dem Werke des Aristoteles geschah, nachdem dieser gestorben war. Da stellen wir nämlich wieder eine höchst erstaunliche Tatsache fest: die unmittelbare Verflüchtigung der aristotelischen Philosophie. Der Fall ist unglaublich, aber nicht zu bezweifeln. Fünfzig Jahre nach Aristoteles' Tode versteht niemand mehr seine pragmatischen Bücher, die deshalb auch stets nur sehr wenig abgeschrieben wurden und uns nur durch einen Zufall erhalten geblieben sind. Man las noch seine Dialoge, also sein „volkstümliches" und literarisches („exoterisches") Werk. Erst zu Beginn des 1. Jahrhunderts v. Chr. kam man seinen eigentlichen Fachwerken wieder auf die Spur und studierte sie auch wieder wohl oder übel [2]aber erst im hohen Mittelalter wurden sie wieder Gemeinbesitz der gebildeten Welt.
Im Jahre 320 v. Chr., also zwei Jahre nach dem Tode des Aristoteles, wird der Stoiker Zenon geboren. In seinem Denken werden noch einige Bruchstücke des peripatetischen Systems verwendet – wieviele, welche, und wie ist noch nicht untersucht worden. Aber das allgemeine Bild der Stoa wird davon nicht berührt, und es läßt sich danach auch nicht bewerten; denn diese stellt nicht nur eine a n d e r e Lehre dar, sondern auch ein plötzliches Absinken des Niveaus in der geistigen Tätigkeit, die man bis dahin „Philosophie" genannt hatte. Auch das hat bis jetzt die Geschichtsschreiber der Philosophie kaum beeindruckt. Mit der größten Selbstverständlichkeit gehen sie von der Erklärung des subtilen Idealismus platonischer oder aristotelistischer Prägung zur Darstellung des stoischen „Materialismus" über. Schon die Bezeichnung „Materialismus" ist hier ein Irrtum, sagen wir lieber „Korporalismus". Aber gerade das verstehen wir nicht. Was für eine erstaunliche Wandlung ist in dem griechische Menschenvorgegangen, daß er von der reinen aristotelischen „Form" so unvermittelt in das „Pneuma" und den „Logos spermatikos" verfällt, die gleichzeitig Idee und Körper sind? Wir wissen es nicht. Obwohl man in den letzten Jahrzehnten damit begonnen hat, diese rätselhafte Wirrnis zu erforschen [3], wissen wir immer noch nicht Bescheid darüber. Es gibt noch kein Werk, das sich bemühte, diese Frage zu erhellen, nach deren Klärung es erst möglich sein wird, die stoischen Hieroglyphen zu entziffern: daß sich nämlich nach Aristoteles, aus einer Reihe von Gründen, der Sinn und der Stil des Philosophierens radikal ändert, so daß sich die Stoa vom Aristotelismus nicht nur wie eine Lehre von der andern unterscheidet, sondern daß man unter „Philosophie" eine geistige Tätigkeit versteht, die nach Zweck, Voraussetzungen, Methoden und Ausdrucksform ganz verschieden ist. Und nun kommt noch ein weiteres unberührtes Thema: es wäre festzustellen, was eigentlich diese neue Beschäftigung des griechischen Geistes war, die zwar mit demselben Wort – Philosophie – bezeichnet wurde, die aber doch von derjenigen so verschieden war, der sich Platon oder Aristoteles gewidmet hatten. Es wäre nicht unmöglich, daß diese Aufklärung sich in der Rückschau auf unsere Kenntnis von Platon und Aristoteles auswirkte. Denn wenn man das Philosophieren der Stoa allgemein verständlich machte und gerade dadurch, daß man es allgemein verständlich machte, würden vielleicht gewisse Wesenszüge der gesamten griechischen Philosophie offenbar, die bei Platon und Aristoteles durch andere Vorzüge verdunkelt werden. Und dann würden -wir vielleicht entdecken, daß unser gegenwärtiges Bild von diesen zwei Systemen nur eine Abstraktion der vollen Wirklichkeit ist, die ihr Philosophieren war, eine Abstraktion, die nur diejenigen Züge enthält, die unserem gegenwärtigen Denken am ähnlichsten sind. Es wird zum Beispiel schon mehr als deutlich, daß wir viel zu sehr vernachlässigt haben, was in beiden Philosophien an religiösen Werten weiterlebte. Es soll nicht bestritten werden, daß die Philosophie etwas a n d e r e s war als die traditionelle Religion; aber wir haben doch übertrieben, wenn wir glaubten, man hätte deshalb bei Platon oder Aristoteles nicht mehr ernstlich mit dem Fortwirken religiöser Elemente zu rechnen. Ich glaube nicht, daß in irgendeiner „Geschichte der Philosophie" eine Idee, die bei Platon ganz ernsthaft ist, wie die, daß das Philosophieren eine όμοίωσις τοϋ ϑεοϋ eine „Nachahmung Gottes" ist, in demselben Sinne, wie Thomas a Kempis von einer „Nachfolge Christi" spricht, ernst genommen wird. Und trotzdem wird dies im 10. Buch der Nikomachischen Ethik und im 12. Buch der Metaphysik in einer feierlichen These erklärt, in der die ganze Architektur des Aristotelismus gipfelt.
Es sollte demnach als unabdingbar erscheinen, daß wir uns über geschichtliche Erscheinungen von so gewaltiger Tragweite im klaren sein müßten. Aber dies ist nicht der Fall, weil man sich mit diesen Lehren nicht so intensiv beschäftigt hat, wie dies ihre lange Geschichte verlangen kann; auch qualitativ war diese Bemühung nicht ausreichend. Auch darf man zur Entschuldigung nicht die Tatsache anführen, daß uns von keinem der großen Meister dieser Schule ein Buch überkommen ist. Die Zahl der erhaltenen Fragmente ist so beträchtlich, daß eine fruchtbare Arbeit rekonstruktiver Kombination möglich ist. [4]
Hier haben wir ein Beispiel für den unheilvollen Einfluß, den ein konventioneller historischer Begriff wie „Übergangs- oder Dekadenzepoche" ausübt. In der Tat bringen sich diejenigen, die sich mit Platon oder Aristoteles befassen, fast um in ihrer Bemühung, sie uns verständlich zu machen, das heißt, uns alle die Gründe aufzuzeigen, die sie hatten, als sie dachten, wie sie dachten. Häufig gehen diese Bemühungen allzu weit und machen aus den beiden griechischen Meistern zwei Zeitgenossen von uns. [5]
Diese allzu große Annäherung an den Menschen der Gegenwart, mit der man ihnen schmeicheln wollte, geht auf zwei Motive zurück. Das eine ist die hartnäckige Verhimmelung der Klassik, die noch nicht völlig aus der griechischen und lateinischen Philologie auszurotten war. Die Verhimmelung ist weder Verehrung noch Begeisterung, sondern ihre indiskrete Form. Sie erhebt den „Klassiker" über das Niveau der Geschichte, und anstatt ihn geradenwegs verstehen zu wollen als das, was er ist – ein Mensch unter Menschen, das heißt ein „armer Mensch" –, ist sie in ihrer Beschäftigung mit ihm von vornherein entschlossen zu bewundern und nimmt in seinem Werk eingebildete Vollkommenheiten an, denen die Texte, ob sie wollen oder nicht, angepaßt werden. Auf diese Weise wird dem altertümlichsten Werk für alle Zeiten Gültigkeit zugeschrieben. Daraus erklärt sich auch, daß noch die elementarsten Züge des platonischen und aristotelischen Werks der Klärung bedürfen. Weil man sie als Vorbild betrachtete, hat man nicht geglaubt, daß sie eine Erklärung brauchten. So ergibt sich die unglaubliche Tatsache, daß wir noch nicht wissen, was der Dialog Platons und die Pragmateia Aristoteles' als genus dicendi, als Ausdrucksform, sind.
Der andere Grund, der dazu führt, die Übereinstimmung jener großen Denker mit uns zu übertreiben, ist vernünftiger, wenn er es auch nicht ganz ist. Er liegt darin, daß die philosophischen Probleme einen a b s t r a k t e n Kern haben, der sich von Heraklit und Parmenides bis auf unsere Tage wenig verändert hat.[6] Wenn der zeitgenössische Philosoph über die wesentlichen Fragen der Philosophie nachdenkt und dabei zu Einsichten kommt, die vorher nicht erreicht worden waren, dann vergleicht er seine Ermittlungen mit dem Denken der Alten und sieht jenen verhältnismäßig beständigen Kern der Probleme in einem neuen Licht. Das meint Kant, wenn er sagt, es sei möglich, Platon besser zu verstehen, als dieser sich selbst verstanden habe. Aber daraus ergibt sich, daß das Interesse und der Gesichtspunkt des systematischen Philosophen nicht identisch ist mit dem des Philosophiegeschichtlers. Dieser muß es ablehnen, Platon besser zu verstehen, als er sich selbst verstand. Es ist schon sehr viel, wenn er es fertig bringt, ihn so zu verstehen, wie jener sich selbst verstand. Das einzige, was er hinzufügen muß, ist, daß er die Grundvoraussetzungen beleuchtet, in deren Kreis Platon befangen lebte, die in ihm wirkten und die er nicht sah, da er selbst das Licht war, in das alles getaucht war.
Der Götzendienst, den man mit diesen beiden Fürsten der Philosophie treibt, blendet die Augen, so daß man sie nicht in ihrer lebendigen und einmaligen geschichtlichen Wirklichkeit sieht Heute wäre die wichtigste Aufgabe, sie uns zu „entfremden", sie von uns zu distanzieren, hervorzuheben, was unzeitgemäß an ihnen ist, und uns unter dem Eindruck ihrer menschlichen Ferne, ihres Exotismus, von neuem überraschen zu lassen. Erst so wird es möglich sein, grundlegende Fragen ihres Werkes zu klären, die sich bisher allem Scharfsinn entzogen haben.
Dagegen fehlt es an entsprechenden Bemühungen, uns die Stoiker, Skeptiker und Epikuräer, sowie andere weniger bedeutende Epochen der philosophischen Überlieferung nahezubringen. Sie stehen uns immer noch fern und sind ohne lebendige, wirksame Verbindung zu uns. Dieses im Verein mit dem umgekehrten Irrtum, auf den schon vorher hingewiesen wurde, verleiht der Geschichte der Philosophie einen Dualismus in der Perspektive, der beim einfachsten Gemälde nicht geduldet würde.[7]
Es ist die Aufgabe der Geschichte, uns die andern Menschen glaubhaft und verständlich zu machen. Denn so seltsam es scheint, sie sind es nicht. Der Mitmensch ist immer eine Absonderlichkeit, etwas, das jenseits des Verständlichen liegt. Unser eigenes Leben ist das einzige durchsichtige Element, über das wir verfügen. Diese Durchsichtigkeit oder E v i d e n z unseres persönlichen Lebens bedeutet nicht, daß es ohne unlösbare Probleme, Rätsel und Geheimnisse wäre. Aber diese sind uns als solche durchsichtig und nicht fragwürdig. Dazu sind es eben Probleme, Rätsel und Geheimnisse. Es gibt eine Evidenz der Probleme, wie es eine Evidenz der Lösungen gibt, und diese gründet sich auf jene. Wir sind an die Materie, die unser Leben darstellt, gebunden, um die andern Leben zu verstehen. Unser Leben allein hat für sich einen „Sinn" und ist infolgedessen verständlich.[8] In dieser Situation scheint ein Widerspruch zu liegen, und gewissermaßen ist dies auch der Fall. Wir müssen an Hand unseres Lebens die fremden Leben verstehen, und zwar gerade das, worin diese andersartig und von unserem verschieden sind. Unser Leben ist der allgemeine Dolmetsch. Und die Geschichte als geistige Disziplin ist die methodische Bemühung, aus jedem andern menschlichen Wesen ein a l t e r e g o zu machen, wobei beide Begriffe – das e g o und das a l t e r– in voller Bedeutung des Wortes zu nehmen sind. Darin liegt der Widerspruch, und deshalb stellt es auch ein Problem für die Vernunft dar.
Der gesamte Vorgang des Weges, den unser Denken nimmt, um von unserm Leben zu dem der andern zu kommen, läßt sich in vier große Schritte zusammenfassen:
1. Nur mein eigenes Leben ist mir gegenwärtig und offenbar, aber ich erkenne zunächst nicht, daß die Wirklichkeit, die es darstellt, ausschließlich meine eigene ist. Die übrigen menschlichen Lebe...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Zur Einführung
  5. Ideen und Glaubensgewissheiten
  6. Insichselbst-Versenkung und Selbstentfremdung
  7. Glanz und Elend der Übersetzung
  8. Ideen für eine Geschichte der Pilosophie
  9. Inhalt