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Memoiren eines Kindes
1810 Ibenshof – 1817 Husum
1810 Ibenshof
Harro und seine Brüder
Zwischen Wollgras und Lichtnelken liegend, einen Arm weit von sich gestreckt, flogen seine Gedanken mit dem Wind, der die Wolken am wassergrauen Himmel vor sich hertrieb, über den Deich hinaus aufs Meer zum Großvater, dem Seemann, der irgendwo gen Sonnenschein segelte, auch wenn in der dunklen Stube geraunt wurde, dass Kosaken ihn erdrosselt hätten. Ganz nah wollte der Junge der Ewigkeit sein, einen Herzschlag nah. Er spürte das Feuchte, das langsam aus der Erde hoch in seine Kleider kroch. Dunkel und dürr, nicht Felsen und nicht Erde schien ihm diese Schwere zu sein, nicht Wasser, nicht Luft. Der ganze Himmel drückte auf seine kleine Brust.
Den Blick ins Grau gerichtet, tastete er mit seinen Fingern nach der Butterblume, die sich nach der Sonne streckte. Er befühlte die Blätter der Pflanze so zärtlich, so behutsam, als wären es die Finger seines Bruders Sievert, die aus dem Grab ans Licht drängten. Der kleine Sievert lag knapp einen halben Meter neben ihm unter der Erde. Im letzten Frühjahr war er gestorben – am Brustübel.
Von rechts kamen jetzt Hühner stolziert. Der Junge suchte nach kleinen Steinchen und warf sie kraftlos nach den Störern. Aber die dummen Dinger hielten die Kiesel für Leckerbissen und pickten aufgeregt danach. Harros Bruder Hans Christian hätte diese gefiederten Truppen beim Namen nennen können, hätte gewusst, wer mit wem verwandt ist und ob Mutter Huhn weiß oder braun gewesen war, wer Eier legte und wen der Hahn besonders gerne trat. Er, Harro, hingegen konnte nicht einmal die Arten oder, wie Hans Christian es nannte, die »Banden« auseinanderhalten. Auch Hans Christian, der Hüter der Tiere, lag neben Sievert in der feuchten Erde, tot wie zwei weitere Brüder und neben ihnen der Jüngste, der nur drei Sommer bei ihnen gewesen war. Jedes Jahr im Frühjahr holte Gott einen Sohn des Harro Wilhelm Martens und seiner Frau Margarete Dorothea Sievers zu sich.4
Keiner von ihnen war so alt wie Harro geworden, der, entgegen allen düsteren Erwartungen, bereits den achten Winter überstanden hatte. Alle waren sie mit geweihtem Wasser aus der großen silbernen Terrine getauft worden. Ein Erbstück der Mutter, aus der der Vater bei jedem Fest und jeder Beerdigung den Punsch ausschenkte und meist nicht nur den ersten Schluck »Auf das Wohl meiner Söhne«, sondern auch die Neige trank, um dann irgendwann im Rausch ins Dunkel hinauszustürzen, zum Deich, wo er sich, Gott und die Welt verfluchte. Zum Entsetzen der Knechte hatte er einst in seinem heillosen Zorn eine Pechtonne angezündet, die hoch auf einem Mast am Deich vor den Engländern warnen sollte. Denn die hatten im Jahr 1806, als Napoleon die Quadriga aus Berlin entführte, Dänemark und die Insel Helgoland genommen. Die Welt stand in Flammen, und Harro Wilhelm Martens, der Deichgraf, wollte mit Feuer löschen.
Der Vater
Zerrissen von nagenden Leiden / Verzehrt von vergeblicher Gluth, / Musst’ er die Hallen meiden / Und eilt zur Meeresfluth. / Hier saß er auf feuchtem Sande, / Zur Nacht im Sturm allein, / am lebenleeren Strande / In Nebel und Mondenschein. / Er griff in die gold’nen Saiten, / Die Möwen umflogen sein Haupt, / Er sank in die öden Weiten / Erbittert – der Liebe beraubt. / Die Möwen nur hörten ihn klagen, / Zum rauschenden Saitenklang; / Wenn er von verlor’nen Tagen: / Von Leben ohn’ Liebe sang.5
Da niemand ihn hörte, in Husum nicht, in Schleswig nicht und in Kopenhagen auch nicht, wütete der Vater im Haus, ließ die Mutter und die ihm gebliebenen Söhne seinen Hass auf die Welt spüren. Harro wäre so gern mit dem Vater gegen die böse Welt gezogen, aber der sah nur die toten Brüder und in Harro den Lahmen, den Letzten seines Geschlechts.
Eine Möwe schrie am Himmel, und wenn der Junge die Augen schloss, hörte er sie frei – frei – frei krächzen. Alles wurde lichtlos um ihn herum, die Zeit blieb stehen, und die Welt hörte auf zu sein. Er spürte, wie die Wärme der Herbstsonne, die eben noch seine Nase gekitzelt hatte, schwächer und das Dunkel schwärzer wurde. Er glaubte, über einem Abgrund des Nichts zu schweben, unsterblich und zugleich rettungslos verloren. Tot – tot – tot schrie der Vogel am Himmel. Der Junge blinzelte in Erwartung der ewigen Finsternis und hustete vor Schreck, als er erkannte, dass es der Vater war, der sich wie eine Gewitterfront vor das Himmelsbild geschoben hatte. Mit der Stiefelspitze stieß er an des Jungen Bein und brummte: »Sag Martin, er soll den Gaul anspannen.« Und ohne seinen Jüngsten noch weiter anzusehen, stapfte er davon.
»Kind, Harro, was machst du?« Die Mutter kam mit fliegender Schürze aus dem Haus gestürzt und riss ihren Sohn von den Gräbern hoch, stellte ihn auf den gesunden Fuß und klopfte mit kräftigen Schlägen die Erde von seinem Anzug. »Die kalte Erde, oh Gott! Und der schöne Anzug! Wir müssen los, es ist Hochzeit! Wenn du bloß nicht krank wirst, verrückter Kerl! Hörst wieder das Gras wachsen?« Halb schrie und schlug sie ihn, halb schlang sie die Arme um seinen dünnen Körper, als wollte sie ihn zu Tode drücken. Der Tod, dachte der Kleine, ist ein Freund. Er nickte den Brüdern zu und ließ sich von der Mutter ins Haus tragen, eine heiße Milch einflößen und in eine Decke hüllen, während sie immer wieder klagte: »Nicht du! Nicht auch noch du! Versprich mir, dass du bleibst«, schluchzte sie und schlug den dummen Jungen, bis er langsam aufhörte zu husten und ihr weinend versicherte, sie nie zu verlassen.
Der Vater war schon vorgeritten, er hasste es, auf die Familie warten zu müssen. Außerdem hatte er unterwegs noch »Sachen« zu erledigen, von denen niemand im Haus wusste und wonach auch niemand zu fragen wagte.
Martin, Harros älterer Bruder, hatte die Kutsche vorgefahren. Martin lernte Latein, Griechisch, Hebräisch beim Pastor Clausen in Hattstedt und konnte reiten – die beste Voraussetzung, um später ebenfalls Pastor zu werden, in einem Land, wo die Gläubigen so störrisch waren, dass ein Seelsorger seine Schäfchen von weit auseinanderliegenden Höfen einzeln in die Kirche treiben musste, wollte er nicht vor leeren Bänken predigen. Der Vater verabscheute die Pfaffen und verbot es, in seinem Haus vom Teufel und dem Ende aller Zeiten zu reden. Die Mutter packte ihren Jüngsten und setzte ihn mit dem Korb, der den Reiseproviant enthielt, zwischen sich und den Ältesten. Der Wagen rollte in den ausgefahrenen Spuren des Wegs schaukelnd dahin, und kaum hatte das Gefährt die schützenden Mauern des Hofes verlassen, blies ein stetiger Wind der kleinen Gesellschaft so heftig entgegen, als wolle er sie zurück auf den Ibenshof treiben. So weit man blicken konnte, sah man grüne Wiesen, durchzogen von Gräben, die schnurgerade auf die Linie des Horizonts zuliefen. Hinter ihnen das in der grünen Öde liegende Nest, der Ibenshof, mit den Linden vor dem Wohnhaus, den Pappeln auf der Pferdekoppel und den mächtigen Strohgiebeln, deren größter sich mit einem breiten Rücken gegen den von der See kommenden Wind stellte. Harro vermisste sein Heim bereits, kaum dass sie den Hof verlassen hatten. Ein Bild würde er malen, dachte er, als er jetzt zurückschaute, genau von diesem Punkt aus. Malen konnte er auch mit der linken Hand, wenn die rechte nicht wollte.
Die Hochzeit war ein Ereignis für die ganze Gegend. Kutschen und Pferde wurden auf der Koppel neben der Scheune der Brauteltern abgestellt, auf der Diele war eine große Tafel aufgebaut, und auf langen Tischen dampfte bald die Hochzeitssuppe. Harro Wilhelm Martens saß, zusammen mit dem Pastor, ganz vorn in der Nähe des Brautpaares und bekam als einer der Ersten aufgefüllt.
Während die Kinder der Nachbarn durch den Garten tobten, saß der kleine Harro, den der Husten und eine Lähmung plagten, auf einer Truhe in der Diele, durch die die Mägde mit Platten, Töpfen und überschäumenden Krügen voller Bier hasteten. Als wenig später die Tische beiseitegeräumt wurden und die Musiker aufspielten, die von weit her, wohl aus Husum, kamen, spürte Harro, wie die Töne in seinen Ohren schmerzten. Je mehr Röcke flogen, desto heftiger wünschte er sich, nein, nicht zum Tanz und auch nicht in den Garten zu den Kindern, sondern zu seinen Brüdern unter die Erde.
»Hüte dich vor Nekkepenn«
Zu Hause vor der Tür der Stube mit seinem Malbrett sitzend, hörte der Junge die Geschichten der Besucher, die von englischen Kreuzern und der Blockade von Tönning flüsterten, über Kanonen staunten und vom drohenden Krieg gegen England erzählten; Namen wie Bonaparte und Bernadotte, Nelson und Robespierre schwirrten durch die Stube. Und dass man in Husum die riesige Kirche von Alt St. Katrin abgerissen und die ganzen Bänke und geschnitzten Tafeln verkauft hätte. Meistbietend. Der Krieg machte in diesen Zeiten den Geschäften den Garaus.
Der Vater saß schweigend daneben, er hatte mit den Pfaffen und ihren Kathedralen ohnehin nichts am Hut, sollten sie den Tand doch verschachern. Er hatte als Deichgraf den Deich zu schützen, und der musste erhöht werden, denn Husum versandete langsam. Da konnte man nicht auch noch eine viel zu große Kirche retten, auch wenn das einigen in Husum nicht gefallen mochte.
Harro malte die großen Drucke aus England nach, die sein Bruder ihm in einem Buch vom Straßenleben in London zeigte, Bilder von Soldaten und Gewehrfeuer, von Explosionen und Schlachtengetümmel. Der Vater hatte keinen Blick dafür, er fand es schade um das schöne Papier, das der Junge da mit seinen eigenen Vorstellungen vom Krieg schwärzte. Er musste die Miliz organisieren, und als im Sommer 1808 das von Franzosen und Holländern gefangen genommene spanische Regiment Asturia am Hof vorbei nach Hamburg eskortiert wurde, standen die Bauern hinter ihrem Anführer Harro Wilhelm Martens mit ihren Sensen und Vorderladern an den Wegen und beobachteten, wie der Tross auf Heuwagen und Lastkarren sich langsam durch den tiefen Sand der schleswigschen Geest quälte.
Manchmal schlich Harro sich auch unter die Bank am Ofen, der so mollig warm war und die Feuchtigkeit aus dem Pullover trieb, um den Männern und Frauen am Tisch zu lauschen. Nicht immer kreisten ihre Gespräche um den Krieg. Wenn das Gebell der Seehunde von der anderen Seite des Deichs zu hören war, dann fing irgendeiner an, vom Meermann zu erzählen, der die Gestalt eines Wichts im Seehundmantel hatte.
»Hüte dich vor Nekkepenn«, hörte er die warnende Stimme des Vaters, und die anderen murmelten beifällig oder nickten stumm. »Der hat mal bei Sturm die Frau eines Kapitäns geholt, damit sie bei der Geburt seines Kindes hilft. Alles ging gut, und er beschenkte sie mit Gold und Silber.«
»Sind deshalb die Kapitäne auf Föhr und Sylt so reich?«, wollte ein vorwitziger Knecht wissen.
Der Vater nickte. »Aber Reichtum ist Fluch«, erzählte er weiter, um den Neid des Knechts nicht zu schüren, »denn Nekkepenn erinnerte sich Jahre später, als seine Alte faltig geworden war, an die schöne Seemannsfrau und wollte sie nehmen. Er sah das Schiff des Sylter Schiffers und befahl seiner Frau, Salz anzurühren, damit ein Sturm das Schiff untergehen lasse. Nekkepenn machte sich währenddessen auf den Weg zur Witwe, schlüpfte in die Gestalt eines stattlichen Fahrensmannes und ging an den Strand, wo die Frau nach ihrem Mann Ausschau hielt.«
»So ein Hund!«, hörte man den Knecht schimpfen, und die Hände der Mägde flogen vor Aufregung nur so dahin, während sie die kaputten Sachen stopften. Als der Vater dann auch noch erklärte, dass Nekkepenn die Tochter der Witwe mit Ringen und Ketten behängte und verkündete: »Inge ist meine Braut«, da schluchzten die Frauen auf der Bank, und der Knecht schüttelte den Kopf und murmelte: »Wat fürn Düwel!«
»Wer bist du?«, habe die Tochter den Fremden gefragt. »Und was willst du?« »Ich bin dein Freier und morgen dein Mann.« »Lass mich, ich lieb dich nicht«, rief ihm die junge Frau zu, und Nekkepenn bellte wie ein Seehund. »Wenn du mir morgen meinen Namen sagst, bist du frei, sonst hole ich dich bei der nächsten Flut«, so habe er sich dann von der Tochter der Witwe verabschiedet.
Der Vater nahm einen langen Schluck aus dem Krug und wischte sich bedächtig den Schaum vom Mund, um die Spannung im Raum zu steigern. Er genoss es, dass sich in der Stube wohliger Schrecken verbreitete und alle wissen wollten, wie die Geschichte ausgegangen sein mochte. »Nekkepenn, der sich seiner Sache sicher war, tanzte in der Nacht am Strand und sang:
Delling skel ik Bruu; / Miaren skel i baak / Aurmiaren wel ik Bröllep maak. / Ik jit Ekke Nekkepenn, / Min Bri’d es Inge fan Raantem, / En dit weet nemmen üs ik aliining. (Heute soll ich brauen, / Morgen soll ich backen; / Übermorgen will ich Hochzeit machen, / Ich heiß Ekke Nekkepenn, / Meine Braut ist Inge von Rantum, / Und das weiß niemand als ich allein.)6
Inge aber war ihm heimlich in die Dünen gefolgt und hatte alles gehört. Und als Nekkepenn sie am nächsten Tag holen wollte, schleuderte sie ihm schon von Weitem entgegen: »Du heißt Ekke Nekkepenn und ich bleib Inge von Rantum.« Der Meermann erschrak, raste wie wild ins Meer zurück, ein tosender Sturm brach los. »Und immer wenn es stürmt, wissen wir jetzt, dass Ekke Nekkepenn wieder einmal grollt, weil Inge ihn abgewiesen hat«, beendete der Vater seine Erzählung.
Hannes, der Knecht, hatte längst sein Bier ausgetrunken und meinte: »Das stimmt, immer wenn Janne nicht will, kommt Sturm auf«, sagte er und bekam im nächstens Moment von seiner heimlichen Geliebten eins hinter die Ohren.
»Was macht der Junge noch da?« Erst jetzt hatte der Vater, der sich ärgerte, dass der Knecht die anderen zum Lachen brachte, Harro entdeckt. »Ab mit ihm in die Koje!« Die Mutter zog Harro unter der Bank hervor und trug ihn ins Bett.
Harro wusste, dass die Flut alles holen kann. Wenn der Sturm und die dunklen Wolken kamen und nachts an den Fenstern und dem Dach rüttelten, schien der Meermann seinen Tribut einzufordern. Er hatte selbst gesehen, wie Nekkepenn im letzten Frühjahr gewütet hatte. Ja, was der Vater da erzählte, das war die böse Wahrheit. Tapfere Inge! Ob das Meer wohl Ruhe geben würde, wenn sie damals mit Nekkepenn gegangen wäre? Und dann träumte der kleine Harro von Rantum, der untergegangenen Insel. Nekkepenn würde sich irgendwann das Land holen, auch wenn er es niemandem verriet. Und der Junge hatte Angst um seine Mutter.
Der Deichgraf stirbt
Harro fand sich mit seiner Lähmung ab. Alle Ärzte, die auf den Hof kamen oder in Husum um Rat gefragt wurden, erklärten die Krankheit für »incurabel«, unheilbar. In die Schule konnte er nicht gehen, für den weiten Weg wäre er zu schwach gewesen. So blieb Harro, malend und lesend, auf dem Hof; ein Lehrer kam zu ihm und brachte ihm Lesen, Schreiben, Rechnen und die wichtigsten Texte der Bibel bei.
Der Vater litt an der Welt, an seinen toten Söhnen, an den Schulden, die er wegen der unruhigen Zeiten machte. Staatsanleihen wurden ihm nicht zurückgezahlt, die Ernte verregnete, und um die republikanische Sache stand es schlecht. Der lahme Sohn sah ihn meist nur morgens zu Pferde, mit gewaltigen silbernen Sporen an den schwarzen Stiefeln wie einst Wallenstein, in einen engen, bis an den Hals zugeknöpften Rock gekleidet, von oben herabblickend, um seinem Sohn, der ihn so bewunderte, doch nur verächtlich den Pferdearsch zu zeigen und vom Hof zu reiten. Wenn er abends heimkam, in die Stube stürzte und die Mutter herumkommandierte, verkroch sich Harro unter der Bank und sah, wie der Vater von Tag zu Tag verfiel. Das Brustübel seiner Söhne hatte ihn eingeholt, er lag mit Fieber im Alkoven, redete wirr, hustete Blut, und Koliken quälten ihn. Der Tyrann stürzte langsam zu Boden wie ein Denkmal, das man auf zu weichem Grund errichtet hatte. An einem Tag kurz vor Pfingsten 1810 rief er nach Martin, er solle sein Pferd satteln. Dann stand er auf, setzte sich auf einen Stuhl, zog seine Weste an und sah hinaus.
Kennst du mein Land – an Tal und Hügel leer / Am Inselstrand siehst du die Dünen glänzen / Die bieten Trotz der Brandung, stolz und hehr / Ob auch mit Schaum sich Wasserberge kränzen / Stürzt, kaum geboren, doch die Well’ herab, / sich selbst vernichtend, in ihr eigen Grab.
Harro sah ihm zu, zupfte ihn am Ärmel seines Hemdes, aber der Vater, den Tod vor Augen, gönnte seinem Sohn keinen Blick mehr und starb auf dem Stuhl. Die Mutter hielt den Kleinen umschlungen, so als wolle sie ihn nie mehr loslassen. Selbst im Tod erschien ihm der Vater unberührbar. In Harro stieg eine zitternde Wut auf, dass der Vater sich von ihm nicht verabschiedet oder ihn auf seine letzte Reise mitgenommen hatte. Die Mutter glaubte, der Sohn würde frieren, und wickelte den Jungen in ihren weiten Rock.
Die Kindheit wird begraben
Für Trauer blieb keine Zeit – der Ruf, dass der Herr vom Ibenshof sich den Wolkenmantel übergeworfen habe und der Ebbe gefolgt sei, verbreitete sich so schnell, wie die Möwen landeinwärts flogen. Und noch bevor die Flut einsetzte, kamen sie aus Hattstedt und Husum, um den Deichgrafen zu beerdigen und dem jungen Harro stumm über den Kopf zu streichen.
Es hätte kein schönerer Tag sein können, um sich begraben zu lassen. Die Linden vor der Tür standen im üppigsten Grün, die wilden Heckenrosen blühten, hier und da reckte eine hohe Sonnenblume ihren Kopf nach dem Licht. Unter großem Gefolge wurde der Sarg zum Friedhof getragen, und als er dort hinabgelassen wurde, standen die Männer an, um Harro Wilhelm Martens Erde hinterherzuwerfen. Die klitschnasse Krume klatschte auf den Sarg, als würde ...