Das Notwendige
und das Mögliche
Im Zweifelsfall eine Operation
Eine rüstige 82-jährige Patientin sucht im Internet mit Hilfe ihres Sohnes einen Orthopäden, da ihr Hausarzt die Hüftschmerzen, die sie seit Wochen verspürt, lediglich mit Schmerzmitteln behandelt. Es ärgert sie, vom Hausarzt stets mit einem dezenten Hinweis auf ihr Alter vertröstet zu werden. Sie hat das Gefühl, dass der Arzt einer möglichen Operation von vornherein ablehnend gegenübersteht – ob wegen ihres Alters oder aus Kostengründen, diese Frage kann sie nicht beantworten. Nicht einmal ein Röntgenbild hat er anfertigen lassen.
Über eine Ärzteseite findet sich bald ein orthopädischer Facharzt in der Nähe. Er ist zwar Privatarzt, dafür aber zugleich leitender Oberarzt in einem bekannten orthopädischen Spital. Diese Tatsache, verbunden mit dem Ausblick auf eine eventuell bevorstehende Operation, ist der Frau die Zusatzkosten auf jeden Fall wert. Ein Termin ist rasch vereinbart, das unvermeidliche Röntgen wird sofort veranlasst. Eine Untersuchung im klassischen Sinn scheint sich in Anbetracht der Klarheit des Falles zu erübrigen. Weder erwartet die Patientin eine solche, noch sieht der Orthopäde nach einer gründlichen Anamnese eine Notwendigkeit zur körperlichen Examination. Beim Erstkontakt wird ein opiathältiges Schmerzmittel verschrieben, ein Kontrolltermin mit Röntgen und MRT der rechten Hüfte in zehn Tagen vereinbart.
Bei dieser neuerlichen Konsultation liegen dann die Fakten klar am Tisch. Die Hüfte der Patientin ist stark abgenützt. In Anbetracht der Tatsache, dass die Schmerzmittel bis jetzt nicht viel genützt haben, bietet der Oberarzt die baldige Operation in einem Privatkrankenhaus an. Die Patientin ist gerne bereit, die Kosten von 7.500 Euro für eine künstliche Hüfte zu tragen, um sich eine weitere Leidens- und Wartezeit zu ersparen.
Schon eine Woche später wird operiert. Trotz des relativ hohen Alters verträgt die Patientin sowohl die Narkose als auch den Eingriff an sich ausgezeichnet. Schon bei der ersten Visite des Operateurs am Abend des Operationstages berichtet sie voller Freude, dass die Schmerzen schon jetzt weit weniger wären als vor der OP. Patientin und Chirurg sind glücklich.
Aber nach und nach, mit zunehmender Mobilisation, kehren die Schmerzen zurück. Ebenso die Verzweiflung der 82-Jährigen. War alles umsonst? Die Prothese sitzt, wie das Kontrollröntgen zeigt, fest und zeigt weder Entzündungs- noch Lockerungszeichen. Der Orthopäde ist ratlos. Physikalische Maßnahmen können ebensowenig helfen wie Antibiotika und entzündungshemmende Medikamente. Nach 14 Tagen muss die Patientin, erneut mit starken Schmerzmedikamenten versorgt, entlassen werden.
In ihrer Not sucht sie einen anderen Orthopäden auf, den ihr eine Freundin empfiehlt – diesmal ist es ein Kassenarzt. Nach zwei Stunden Wartezeit schildert sie ihm weinend ihr Elend. Dieser Arzt bittet seine Patientin, sich komplett zu entkleiden, da er eine gründliche Untersuchung durchführen will. Die Dame fragt ihn skeptisch, was er sich von einer Untersuchung verspreche, wo doch alle Untersuchungen schon im Spital gemacht worden seien – „inklusive der Röhre“. Doch als der Arzt darauf besteht, entkleidet sich die verzweifelte Frau und legt sich auf die Untersuchungsliege. Sie ist erstaunt, mit welcher Gründlichkeit der Arzt untersucht. („So hat mich bis jetzt noch niemand untersucht.“) Es stellt sich heraus, dass der bohrende Dauerschmerz in der Hüfte durch seitlichen Druck auf das Schambein verstärkt werden kann.
Der Orthopäde bittet die Patientin um die Erlaubnis, die schmerzhafte Stelle mit Kortison infiltrieren zu dürfen. Verwundert willigt sie ein. Sie kann nicht glauben, dass eine solche Spritze helfen soll. Aber schon bei der zweiten Infiltration zwei Tage später verspürt die Patientin eine deutliche Erleichterung.
„Wissen Sie“, sagt der Orthopäde, „ich denke, Sie haben lediglich eine besonders schmerzhafte Leistenzerrung und -entzündung erlitten. Aber Hauptsache, es geht Ihnen jetzt besser.“
Nach fünf Infiltrationen auf Kassenkosten ist die Patientin geheilt.
In Österreich werden pro Jahr ungefähr 16.000 künstliche Hüftgelenke eingesetzt. Damit zählt diese Operation zu den am häufigsten durchgeführten Eingriffen überhaupt. Ein Mitgrund für den Boom dieser Operation ist, dass beim künstlichen Hüftersatz zunehmend die minimal-invasive Chirurgie zur Anwendung kommt, bei der die Operation durch winzige Schnitte in der Haut hindurch durchgeführt wird.
Durch die steigende Lebenserwartung einerseits und ständig weiterentwickelte Operationsmethoden andererseits wird der Eingriff heute weit öfter und in früheren Erkrankungsstadien vorgenommen als früher. Es ist nicht mehr selten, dass auch Patienten im hohen Alter, das heißt auch mit über 90 Jahren, mit künstlichen Hüftgelenken versorgt werden. Aus der Sicht des Patienten genügt es, mit dem Symptom Hüftschmerz ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Nur noch selten werden Patienten von Ärzten selbst untersucht. Röntgengeräte und MR-Tomografen übernehmen diese Aufgabe. Die aus den Bildern gelesenen Befunde sind häufig die einzige Grundlage für die Entscheidung über eine Operation. Und nachdem sich bei jedem zweiten Patienten über 60 Jahre im Röntgen ohnehin deutliche Zeichen von Abnützungen in den Hüftgelenken (ebenso wie in den Kniegelenken) finden lassen, fällt diese Entscheidung immer öfter positiv aus. Junge Ärzte wollen ihre Operationsstatistik verbessern, Spitäler wollen ausgelastet sein, Herstellerfirmen wollen ihre Medizinprodukte verkaufen, und die Patienten wollen auch. Also wird der Schmerz sofort durch ein künstliches Gelenk ersetzt.
Dabei wird übersehen, dass chronische Schleimbeutelentzündungen, Über- und Fehlbelastungen und Erkrankungen des Leistenbandes ebenso Beschwerden hervorrufen können, die dem Hüftschmerz ähneln. Entzündungshemmende Medikamente, Gelenksinfiltrationen, physikalische Therapien, Kuraufenthalte und andere Maßnahmen könnten in unzähligen Fällen helfen, vorausgesetzt, man hätte Zeit dafür. Dem Faktor Zeit kommt aber nur noch bei der Wartezeit auf die OP Bedeutung zu. Alternative Behandlungsversuche werden entweder vom Patienten abgelehnt oder vom Arzt erst gar nicht angeboten. Dabei käme gerade diesen Behandlungsmethoden bei älteren und ältesten Patienten ein wichtiger Stellenwert zu. Durch Muskelaufbau, gezieltes Training und physikalische Maßnahmen könnten vielen Patienten die OP und die nicht selten auftretenden postoperativen Beschwerden erspart werden. Bei sehr alten, multimorbiden (an vielen Krankheiten leidenden) Patienten ließen sich die Schmerzen sehr gut mit Opiaten und Morphinen behandeln. Morphium belastet Magen und Darm nicht, die psychischen Nebenwirkungen werden oftmals durchaus als angenehm empfunden, und der wichtigsten Nebenwirkung, der Darmträgheit, kann durch entsprechende Diät und reichliche Flüssigkeitszufuhr rechtzeitig entgegengewirkt werden. Aber viele Patienten lehnen Opiate und Morphine mit dem Hinweis auf eine mögliche Suchtentwicklung von vornherein ab. Dabei wäre es, nüchtern betrachtet, völlig unerheblich, ob ein 87-jähriger Patient auf Morphium süchtig wird oder nicht, denn eine solche Sucht spielt in Anbetracht der durchnittlichen Lebenserwartung zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr. Ganz abgesehen davon, dass die finanzielle Belastung des Gesundheitssystems durch solche Schmerztherapien verschwindend gering wäre.
Aber jeder Sozialversicherte, so der Tenor, hat ein Anrecht auf eine sofort implantierte, schmerzfreie Kunsthüfte und volle Beweglichkeit, auch im hohen Alter. Und vielen Ärzten erscheinen in Anbetracht zunehmender rechtlicher Unsicherheit die möglichen Nebenwirkungen von schmerz- und entzündungshemmenden Medikamenten zu riskant. Lieber eine kalkulierbare Operation als ein mögliches Magengeschwür mit nachfolgender Klage. Dabei gilt es oft lediglich eine Lösung für wenige Lebensmonate oder -jahre zu finden. Denn in dieser Größenordnung bewegt sich die Lebenserwartung von 90-Jährigen.
Nicht außer Acht gelassen werden dürfen auch mögliche Komplikationen der Operation. Angefangen von postoperativen Schmerzen und Muskel- oder Nervenverletzungen bis hin zu Gefäßverletzungen, Entzündungen und dem Verlust der Extremität reicht der Bogen drohender Nebenwirkungen einer OP. Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Patienten kommt mit dem Gefühl, einen Fremdkörper in sich zu tragen, psychisch nicht zurecht. Die Angst vor dem Hüftschmerz weicht der Angst um die Funktionsfähigkeit und Integrität des Implantats. Die Realität zeigt, dass bei einer großen Zahl von hüftoperierten Patienten schwierig zu behandelnde physische und psychische Nebenwirkungen auftreten.
Und vor allem bei Hochrisikopatienten besteht große Gefahr für Komplikationen während und nach der Operation – Anästhesisten und Internisten, die mit den Operationsvorbereitungen und -freigaben befasst sind, wissen ein Lied davon zu singen. Patienten, die sich aufgrund ihres Alters kaum noch bewegen könnnen, deren Herzen gerade noch genug Pumpleistung besitzen, um ein Überleben von Tag zu Tag zu ermöglichen, deren Lungenfunktion hochgradig eingeschränkt ist, Demenzkranke, Verwirrte und massiv Übergewichtige, ihnen allen wird noch eine künstliche Hüfte angeboten und eingesetzt.
Die Frage, welche Kosten durch die jährlich 16.000 Hüftoperationen verursacht werden, wird als unethisch abgetan. Aus der Sicht des Steuerzahlers wäre eine Reduktion der Operationsfrequenz auf das Niveau von vor zehn Jahren bereits ein bedeutender Erfolg. Dabei müsste keinem einzigen Patienten effektive Hilfe vorenthalten werden.
Zuerst einmal nicht schaden?
Ein ärztlicher Leitsatz, der aus der Antike stammt, lautet: „primum non nocere“, zu Deutsch: „zuerst einmal nicht schaden“. Auf den ersten Blick selbstverständlich, auf den zweiten schon nicht mehr so ganz eindeutig. Denn Wirkung und Nebenwirkung sind ein unzertrennbares Begriffspaar, das jede ärztliche Arbeit und Verschreibung begleitet. Und es ist nicht immer vorhersehbar, ob die Wirkung stärker sein wird als die zu befürchtende Nebenwirkung. Und das gilt nicht nur für ein einzelnes Medikament, sondern auch für die ganze ärztliche Behandlung.
Bei Herrn N. wird im Alter von 85 Jahren im Rahmen einer Operationsvorbereitung zu einer Augenoperation ein bösartiger Tumor in der Lunge festgestellt. Herr N. hatte sich anfangs vehement gegen die Augenoperation zur Wehr gesetzt – „Ich sehe noch genug für die paar Jahre, die ich noch zu leben habe.“ Aber seine nächsten Angehörigen hatten für seine schattenhafte Sicht der Dinge genausowenig Verständnis wie sein Augenarzt – „Wenn wir das Auge nicht sofort operieren, könnten Sie sogar erblinden!“
Ohne die Augen-OP hätte allerdings kein Lungenröntgen stattgefunden, und ohne Lungenröntgen hätte es keinen Lungenkrebs gegeben, denn Beschwerden hatte Herr N. bis dahin keine, zumindest keine, die vom Lungentumor herrührten.
Von jetzt an aber ist Herr N. nur noch Passagier in einem ferngesteuerten Boot. Blutabnahmen, Punktion, Histologie, erste Chemotherapie, Bestrahlung sind die ersten Stationen auf dem Weg zur angesteuerten Heilung. Da das Blutbild unter der Chemotherapie immer schlechter wird, bekommt Herr N. teure Injektionen zur Verbesserung der Blutbildung, unter deren Wirkung er nach eigenen Angaben allerdings besonders leidet. Die behandelnden Ärzte beruhigen ihn, klopfen ihm auf die hängenden Schultern und sagen, dass alles wieder gut würde, und dass die Spritzen in der Regel sehr gut vertragen würden, er sei da eben eine Ausnahme.
Von Woche zu Woche wird Herr N. dünner und verzagter. Das Essen schmeckt ihm nicht mehr, seine Gattin muss ihn zum Trinken zwingen. Die Haut wird brüchig, die Schleimhäute brennen, er sagt, dass er so die Freude am Leben verliere. Wieder beruhigen ihn alle.
Und irgendwann hat er tatsächlich die vorgesehenen Prozeduren erledigt und überlebt. Herr N. atmet auf, erholt sich in winzig kleinen Schritten, freut sich, lächelt sogar wieder.
Dann, nach einem Monat, ist eine Kontrolluntersuchung vorgesehen. So steht es im Fahrplan. Das Ergebnis ist wenig erfreulich: Der Tumor hat an Größe zugenommen. Diese Tatsache wird dem angegriffenen Herrn N. allerdings nicht mitgeteilt. Er erfährt lediglich, dass er noch einen Monat lang Tabletten einnehmen muss, dann sollte es ihm endgültig besser gehen. Die Ärztin am Lungenzentrum ist freundlich und jung. Vorsichtig fragt er sie: „Muss das alles noch sein, weil mir geht es erst seit der Behandlung schlecht, davor hatte ich keine Beschwerden, und das Auge hätte mich auch nicht gestört.“
„Sie wollen doch noch leben, oder?“, fragt die junge Ärztin. Herr N. lächelt gequält: „Ja, wenn es noch geht.“
„Na, eben, dazu müssen Sie die Tabletten nehmen, gut?“
Gut.
Die Tabletten enthalten wieder eine Chemotherapie. Die Kosten für den geplanten Behandlungszeitraum von einem Monat betragen 3.100 Euro. Beides wird Herrn N. verschwiegen.
Nach der ersten Einnahme wird ihm wieder übel, der eben wiedergewonnene Appetit verschwindet blitzartig. Er bekommt Fieber. Besorgt erkundigt sich seine Gattin telefonisch am Lungenzentrum über die weitere Vorgangsweise im Falle ihres Gatten. Man teilt ihr mit, Herr N. solle die Tabletten weiternehmen, das Fieber müsse nichts Schlimmes bedeuten, könnte eine Folge der Tabletten sein.
Herr N. nimmt die Tabletten weiter. Seine Gattin bittet ihn darum.
Nach der dritten Tablette kann er das Bett nicht mehr verlassen. „Sollen wir dir nicht einen Arzt rufen?“, fragen die besorgten Angehörigen. „Nein, ich will keinen Arzt“, ist die klare Antwort. Von den Ärzten hat Herr N. zu diesem Zeitpunkt genug.
„Nur noch 27 Tage, dann hast du es geschafft“, sagt irgendjemand. Herr N. schläft jetzt fast den ganzen Tag, isst nichts mehr. Hie und da nimmt er noch einen Schluck Tee aus einer Schnabeltasse zu sich.
In der Nacht nach der achten Tablette, noch vor dem Morgen des Tages der neunten Tablette, verstirbt Herr N. in seinem Bett. In der Medikamentenpackung auf seinem Nachtkästchen befinden sich jetzt noch ca. 2.200 Euro weiß gepresstes Pulver. Von dem hätte er gesund werden soll...