Wer träumt nicht manchmal vom Fliegen?
Mein Name ist Moses Mandelbaum. Versicherungsmakler für alles und jeden. In erster Linie. Aber ich habe noch andere Berufe. Das ist jetzt modern, aber schafft Probleme mit einem einheitlichen Berufsbild. Ich kann mich nicht an herkömmlichen Berufsvorstellungen orientieren.
Abends reinige ich zweimal die Woche die Büroräume eines Verlags und hin und wieder koche ich in einem Restaurant nebenan, wenn der Chefkoch gerade seinen freien Tag hat oder unpässlich ist. Anruf genügt.
Manche mit fünf Jobs sagen, ich sei wohl nicht flexibel genug.
Ich lese morgens, auf dem Weg in mein Büro, im Café Eden, noch schnell eine der schon um diese Zeit zerfledderten Zeitungen. Mich interessieren die Sterbeanzeigen. Hinterbliebenen könnte, angesichts dieses gravierenden Ereignisses, der Funke eines Gedankens zum Thema Lebensversicherung über den Stirnenhimmel geistern.
Ich spüre das Zeitungspapier, rieche die Druckfarbe und höre plötzlich wieder das Rauschen, von dem ich nicht weiß, wo es herkommt. Schon seit ein paar Tagen.
An der Theke sitzt ein Typ, dem man ansieht, dass er hier nur kurzfristig gelandet ist, dass er sich hier nicht beheimatet fühlt, und dem man auch keine Versicherung andrehen möchte. Das spürt man. Diese Leute verbreiten eine Art Anti-Polizzen-Geruch. Aber von dem man weiß, dass man eventuell in ein interessantes Gespräch verwickelt werden könnte.
Dann allerdings ist der Vormittag im Eimer. Ich habe keine einzige Polizze an die Frau oder an den Mann gebracht. Wer zahlt meine Miete? Wer die Raten für meine Karre, das Schulgeld für meine Nachkommen? Wer die Blumen für meine Frau, wenn sich wieder unaussprechlich Zwischenmenschliches auftürmt?
Im Raum ist ein feines Rauschen zu hören. Ich kann es nicht zuordnen. Vielleicht sollte ich zum Arzt gehen. Aber ich gehe nicht. Das heißt, ich bin im Zweifel, ob das nicht mein eigenes Gehör ist. Ich frage kurz entschlossen den Fremden, ob er nichts hört. Das ist ein klassischer Versuch, in ein Gespräch zu kommen.
Was, gibt er zurück, und rührt in seinem Kaffee herum.
Na das Geräusch.
Welches? Er hält kurz inne und rührt weiter in seinem Kaffee herum.
Er hat ein schönes Gesicht. Das darf man doch sagen. Von Mann zu Mann. Ich bin eindeutig gepolt. Es ist sinnlos, sich als etwas auszugeben, was man nie und nimmer ist. Mir würde man das ohnehin nicht abnehmen.
Abgesehen davon, berühren mich diese Berührungen unangenehm.
Er blickt auf, führt den Löffel an die Lippen, verharrt einige Sekunden und nickt. In dieser Bewegung liegt etwas Ewiges.
Er hört es auch. Ich bin erleichtert. Es sind nicht meine Gehörgänge. Es ist nicht die Leere meines Gehirns, die sich an den Trommelfellen reibt.
Wie es mir mit den Polizzen geht, will er wissen.
Ich schlucke. Mein kleiner Morgenkaffee erstarrt im Augenblick. Woher weiß er? Ich kenne ihn doch gar nicht. Normalerweise stellt mir niemand diese Frage. Zu intim. Und um diese Zeit schon gar nicht.
Gut, sage ich gedehnt. Es geht.
Als wäre mein Job der einfachste der Welt. Vielleicht bin ich jetzt seit langem wieder einmal rot geworden im Gesicht.
Und – weil wir gerade beim Geschäft sind: Sind Sie versichert?, frage ich ihn kühn. Eine Chance witternd.
Ich will nicht indiskret sein, haben Sie eine Ab- oder Erlebensversicherung?
Haben Sie sich schon einmal Gedanken gemacht, über eine Sterbe-Vorsorge? Die Angehörigen stürzt der plötzliche Todesfall eines Verwandten meist in finanzielle Verlegenheit. Um nicht zu sagen in ein Desaster.
Er weiß. Sagt er.
Aber Verwandte? Damit kann er nicht dienen. Und mit Todesfall auch nicht.
Er ist nicht verheiratet?
Nicht verheiratet.
Keine Eltern?
Keine Eltern.
Da ist das Geräusch wieder. Als ob ein Flugzeug einen endlosen Landeversuch unternehmen würde. Nicht unangenehm, aber seltsam anhaltend.
Ist er ein freischaffender Unternehmer?
Ich sollte längst im Büro sein, ich blättere kurz aber gekonnt im Planer und sehe einen Termin. Noch bin ich nicht verspätet. Aber ich kann mich nicht losreißen.
Er verbirgt etwas vor mir.
Ich muss es wissen. Es könnte der springende Punkt sein.
Dann sagt er, der Kaffee in Brasilien sei geschmacklich einfach besser.
Ich denke, ein Weltreisender. Einer, der hier bloß angespült wurde. Ins Café Eden. In dem Esther, die Kellnerin, eine Studentin, ihr Studium damit finanziert, dass sie sich optisch – rein optisch – von oben bis unten begrapschen lassen muss, während sie Kaffee serviert.
Seine Kleidung ist zeitgemäß, aber nicht übertrieben. Der Anzug von der Stange. Esther kann ihre Augen nicht von ihm lassen. Er tut so, als merke er es nicht. Das ist sehr vornehm. Und braucht mich nicht rasend zu machen. Ich bin verheiratet, aber manchmal würde mir ein fremder Blick auch gut tun. Einfach so.
Vielleicht merkt er es wirklich nicht.
So nervös habe ich sie noch nie gesehen.
Die Angestellten der umliegenden Ämter, Banken und Arztpraxen stehen am Tresen und bestellen ihren kleinen Mokka, der nicht kommt, grüßen sich, bereden dieses und jenes und urgieren lautstark ihre Bestellung.
Aber Esther hat ihren Kopf verloren.
Sie werden Ihren Job verlieren, wenn Sie so gedankenlos sind, sagt der Typ leicht zur Seite gewendet. Sie erschrickt. Aus ihrem Gesicht blutet die Farbe. Und bestürzt eilt sie hinter die Espressomaschine.
So übertrieben bräuchte sie nun auch wieder nicht zu reagieren, denke ich.
Sie ist noch jung, sagt er verständnisvoll. Er weiß offenbar um alle diese Dinge Bescheid.
Mit einem „Darf ich Sie in mein Büro einladen?“ reiße ich die Lethargie auf.
Er winkt ab. Er habe einen Termin. Morgen eventuell.
Hören Sie das Rauschen noch?, fragt er.
Ich höre hin. Auf etwas, das sich wie ein Rauschen anhören sollte. Ich bin nicht sicher, ob ich vorhin etwas gehört habe. Es ist da. Es ist, als ob Tauben beim Abflug ihre Flügel an die Körper schlagen würden. So habe ich es noch nie gehört.
Es ist das Meer, sagt er.
Das Meer?, sage ich, und schaue ihm vermutlich absolut fassungslos ins Gesicht.
Es hat sich in meinen Flügeln verfangen.
Ich blicke verstohlen über seinen Rücken. Als ob ich Verbotenes sehen wollte. Nichts. Keine Erhebungen. Keine Krümmung. Keine Feder am Boden.
Er lügt mich an. Aber ich glaube ihm aufs Wort. Das ist sonst nicht meine Art.
Sie nehmen manchmal Geräusche, aber auch Gerüche jenes Ortes an, von dem ich gerade komme oder gerade darüber fliege.
Das ist durchaus plausibel. Warum sollen Flügel nicht den Geruch annehmen von Dingen, die während des Fliegens gerade darunter zu liegen kommen?
Aber er lügt gekonnt. So grandios, dass sich die Balken biegen.
Nur im Café Eden gibt es keine Balken. Nur Beton. Die Geschmacklosigkeit der Innenarchitektur ist infernalisch.
Man müsste den Architekten manchmal für alle Ewigkeit die Bleistifte abbrechen, kommentiert er meinen Gedanken. Oder sie ein Jahr lang in jenen Häusern wohnen lassen, die sie gebaut haben. Vieles an Unfug würde sich schlagartig ändern.
Diese unerträgliche Melange aus Spots und faserrauer Betonhaut. Der manifest gewordene Mangel an Einfühlungsvermögen für die Funktion eines Raumes. Sechs Wände können auch ein Sarg sein.
Sind Sie nicht müde? Ich erschrecke über meine unpassende Frage.
Er schüttelt unmerklich den Kopf, als hätte ich gefragt, wie viele Flugstunden er schon absolviert hat.
Fliegen. Diese abstrusen Phantasien vom Fliegen, von der Existenz der Flügel. Jeder im Raum könnte bestätigen, dass er keine Flügel hat.
Aber, würde ich lauthals fragen, Leute, hört doch mal alle her, hat der Mann hier am Tresen Flügel, oder nicht?
Sie würden mich wahrscheinlich – scheel beobachtend – hinhalten mit der Gegenfrage, wie ich das meine. Um mich dann meuchlings der Psychiatrie auszuliefern.
Er behauptet, er hätte Flügel. Hat er welche?
Sie würden sich in seine Richtung beugen und raten, ob er sie vielleicht in der Tasche versteckt halte.
Er würde sich nicht an der Wahrheitsfindung beteiligen. Trotz Aufforderung, die Flügel zu zeigen.
Vielleicht, die drei Grazien vom Finanzamt würden es bestätigen.
Um mir eins auszuwischen.
Ich habe sie mit einem Superangebot geködert. Auf zehn Jahre die Versicherung nicht kündbar.
Der Fremde verlangt die Rechnung. Greift in die Hosentasche, holt fremdländische Münzen hervor und spielt gedankenlos mit ihnen. Esther sagt halb im Scherz, halb mit Ernst, dass dies wohl Spielgeld sei.
Er entschuldigt sich für den Irrtum. Lächelt unschuldig und erklärt ihr, dass dieses Geld durchaus noch in Gebrauch sei. Ich erkenne das Bildnis, aber mir fällt der Name nicht ein, und gehe die derzeitigen Regierungschefs durch. Aber mein Suchprogramm wir...