Das Buch der sieben Gerechten
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Das Buch der sieben Gerechten

Roman

  1. 320 Seiten
  2. German
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Das Buch der sieben Gerechten

Roman

Über dieses Buch

An einem Oktobertag des Jahres 1995 taucht in München ein seltsamer Fremder auf, der sich als "Erster Sekretär Sämtlicher Jahweischer Dienste" ausgibt. Mister Fulizer, wie er sich unter anderem nennt, soll die Stadt vor dem von allerhöchster Stelle angeordneten Strafgericht bewahren. Voraussetzung dafür: es lassen sich "sieben Gerechte" finden, die in dieser Stadt gelebt oder sich aufgehalten haben. Um diese schicksalhafte Frage zu klären, versichert sich Fulizer der Mitarbeit des verkrachten Schriftstellers Hermann Kreutner. Dieser kennt die Geschichte und die Geschichten der Stadt wie kaum ein anderer (jedenfalls behauptet er das). War zum Beispiel Franz Kafka einer dieser "sieben Gerechten"? Er war im November 1916 auf Lesereise in München, traf dort durch Zufall Adolf Hitler im Cafè Heck am Hofgarten und hätte ihn beinahe auf ein anderes Gleis gebracht. Oder gehörte der jüdische Kommerzienrat Jakob Lehmann dazu? Er wurde im März 1933 von einem jungen Nazi auf offener Straße verhaftet und in dessen Wohnung verschleppt, wo sich dann Seltsames abspielte.

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Information

Jahr
2014
ISBN drucken
9783852182865
eBook-ISBN:
9783709977125
ENDSPIEL IN WIEN
»Er sah gegen die gelbliche Wolkenwand, die von der Theatinerstraße heraufgezogen war und in der es leise donnerte, ein breites Feuerschwert stehen, das sich im Schwefellicht über die frohe Stadt hinreckte…«
THOMAS MANN

1.

Fulizer und Kreutner bestiegen den Zug und fuhren zu jener Konferenz, von deren Ausgang es abhing, ob das Feuerschwert, das über München drohend hing, herniederfahren würde oder nicht. Sie fanden Platz in einem Abteil, in dem vom Ausgangsbahnhof Stuttgart her schon ein spätzlegemästeter Schwöb saß. Jovial wandte der sich auch gleich nach Abfahrt aus dem Münchner Kopfbahnhof an Fulizer, schleimte ihn an aus seiner breiten Maultasche von wegen »fahret mir au nach Salzburg«, am liebsten hätte Fulizer zurückgegeben, er wisse zwar nicht, wohin der Herr fahre, sie jedenfalls gedächten nicht in Salzburg auszusteigen und wünschten im übrigen, in Ruhe gelassen zu werden. Doch er ließ es mit eisiger Nichtbeachtung bewenden.
Ab Salzburg waren sie dann allein im Abteil und ungestört.
»Ich habe Ducee mit einer Recherche beauftragt. Muß zugeben: saubere Arbeit.«
»Wie? Was?« Kreutner konnte der plötzlich einsetzenden Konversation Fulizers nicht ganz folgen.
»Sie werden ihn kennenlernen … Ducee! Aufgeweckter Knabe, manchmal etwas vorlaut, aber wir haben ja alle einmal jung angefangen, was erzähle ich Ihnen da, nicht wahr Kreutner? Die Welt beruht auf dem Atem der lernenden Schulkinder, ist es nicht so?«
Auf was zielte nun diese Anspielung wieder ab? War Kreutner zu anstrengend, darüber nachzudenken. Er kämpfte schon seit einer halben Stunde gegen obsessive Vorstellungen von einem schönen, kühl in der Hand liegenden Glas »full of Bourbon«.
»Stellt sich nicht dumm an, Ducee«, fuhr Fulizer weiter in seinem Gleis, »hat unsere Jungs in den Staaten ganz schön auf Trab gebracht. Nun gut, ich will Sie mit Einzelheiten nicht langweilen. Aktsbekannt jedenfalls ist folgendes«, Fulizer raschelte mit seinen diversen Faxpapieren, überflog flüchtig die Seiten, »Lehmann ist die Flucht mit seiner Frau in die USA tatsächlich gelungen. Zuerst fuhren sie nach Amsterdam…, soweit war ja auch der Stand Ihrer Informationen, wenn ich mich recht erinnere?«
Die Lehmanns waren nach Amsterdam abgefahren … Wirklich? Hatte er sie begleitet, war er dabeigewesen, als sie eingestiegen waren in den Zug? – Kreutner war sich nicht mehr sicher. Erzählte er hier oder wurde ihm erzählt.
»Es war allerdings eine ziemliche Odyssee, bis sie schließlich in New York anlangten. In Amsterdam nämlich saßen sie erst einmal in der Sackgasse. Absolut kein Weiterkommen. Die Plätze für eine Schiffspassage waren rar, Vermögenswerte hatten sie keine mehr. Durch ganz Frankreich schlugen sich die Lehmanns bis zu den Pyrenäen durch. Sie kennen ja sicher auch solche Geschichten: Mit einem Scout dann durch die Berge … Von Lissabon aus gelang ihnen die Überfahrt.«
»Die Tochter? Was ist aus der Töchter geworden?« In Kreutners nebelverhangener Erinnerung leuchtete schwach ein rotes Licht auf, ehe es flatternd nach und nach verschwand.
»Auch hier trifft zu, was Sie mir gestern abend noch am Telefon erzählt haben. Lea und Hans Stern waren tatsächlich bei einem der Milbertshofener Transporte dabei. Wir konnten allerdings nicht eruieren, wohin ihr Weg führte.«
Fulizer hob den Aktenkoffer von seinen Knien, stellte ihn auf den Boden. »… aber es läßt sich ja denken.«
»Wann haben es die Eltern erfahren?«
»Definitiv und zweifelsfrei, meinen Sie? Ich nehme an, erst nach dem Krieg. Übrigens scheinen sie davon ausgegangen zu sein, daß auch ihr Enkelkind bei jenem Transport dabei war. Es deutet nichts darauf hin, daß sie Albert Stern noch einmal gesehen haben nach dem Krieg und ihrer Rückkehr nach München. Warum sie überhaupt zurückgekommen sind, fragen Sie mich nicht!« Fulizer sah aus dem Fenster, murmelte: »Ich versteh’ sie nicht. Die Lehmanns nicht, und alle anderen manchmal auch nicht.«
Er wandte sich wieder an Kreutner: »Wenn Sie mich fragen, ich hätt’ es nicht getan. Die konnten doch nicht ernsthaft annehmen, sie würden wieder etwas zurückbekommen? Zugegeben: In New York faßten sie nie richtig Fuß, er, der Kommerzienrat, war Ausfahrer in einer Wäscherei. Er hatte vor allem Hotels zu beliefern, mit der frisch gemangelten Bettwäsche, er versuchte, wo er nur konnte, mit Hotelgästen ins Gespräch zu kommen, er lechzte nach Informationen aus Europa, und vor allem auch nach ein paar Worten Deutsch, wenn’s sein mußte auch Schwyzerdütsch.«
Kann man Heimweh nach dem Land seiner Mörder haben? fragte sich Kreutner, dem die wenigen Informationen, die ihm Fulizer mitteilte, vollauf genügten, um langsam wieder auf Touren zu kommen mit seiner Spekuliermaschine. Lehmann in New York, sich das vorzustellen fiel Kreutner in der Tat schwer. Lehmann auf dem Rückflug nach München hingegen…
»Ist das nicht komisch, Kreutner? Solange sich Lehmann in den Staaten aufhielt, hatten wir ihn deutlich im Sucher. Ich meine, er ist uns nie ganz aus dem Blickfeld gerutscht. Aber kaum macht er sich auf, zurückzukehren in die alte Heimat, plötzlich ist er verschwunden von der Bildfläche. Verstehen Sie das? Unsere Informanten, das hat mir jedenfalls Ducee mitgeteilt …«, Fulizer wedelte mit den Faxpapieren, »haben kein Lebenszeichen, keine Spur, keine Quelle, keinen Meldebogen, nichts mehr auftreiben können, seit Lehmann zusammen mit seiner Frau amerikanischen Boden wieder verlassen hat. Dabei wollten sie vorerst nur besuchshalber nach Deutschland, 1953. Schauen, was noch übriggeblieben war. Ob sie jemals angekommen sind, wissen wir nicht. Zurückgekehrt von ihrer ersten Europareise nach dem Krieg sind sie jedenfalls nicht mehr. Es verlieren sich sämtliche Spuren. Seltsam, nicht?«
Fulizer nahm wieder den Aktenkoffer auf seine Knie, begann einzupacken.
»Umgekehrt wär’s ja zu verstehen gewesen. Ich meine, wenn wir sie bei ihrer Flucht aus den Augen verloren hätten. Aber so! Kehren dorthin zurück, von wo sie vertrieben wurden, und tauchen unter. Für uns wäre es, verstehen Sie, Kreutner, es wäre wichtig für uns zu erfahren, ob sie jemals hier angekommen sind. Ich meine in München. Ob Sie uns da nicht noch einmal weiterhelfen können, Kreutner. Es wäre wichtig…, ich meine für die Sitzung, für unsern Beschluß. Sie verstehen: Lehmann in München oder nicht in München, das ist … Sie sagten doch, Sie hätten da einen Bekannten im Stadtarchiv. Könnte der nicht vielleicht …?«
Rohrbacher! Natürlich! Er würde von Wien aus bei ihm anfragen, ihn um eine kleine Gefälligkeit bitten. Für ihn, Rohrbacher, wär’s eine kleine Gefälligkeit, mehr nicht. Für Kreutner hingegen … Er sah Fulizer, wie er sein Haifischgrinsen grinste. Und aus dem Fenster deutete.
»Schaün Sie nur, Kreutner, da hinten, da muß doch schon das Tullner Feld sein. Gab’s da nicht mal eine Entscheidungsschlacht oder etwas dergleichen?«
Der Intercity donnerte Wien entgegen. Wirbelte dabei Papierfetzen entlang des Bahngleises auf. Sie flatterten wie schmutzige Standarten, wußten nur nicht, in welche Richtung es ging, und taumelten, wieder losgelassen vom Fahrtwind, sanft herab auf den in der Farbe von Malzbonbons karamelisierten Bahnschotter.

2.

Sie bezogen eine kleine Pension in der Langen Gasse, Ecke Florianigasse, nahe dem Josefstädter Theater. Der Oktoberwind nuschelte hier ganz hansmosermäßig um die Häuser, entschuldigte sich förmlich, daß er einen anfuhr, unangenehm kalt im Vergleich zu München, die Nebenhöhlen mit Eisnadeln akupunktierend. Die übrigen Mitglieder der Jahweischen Kongregation waren im vierten Bezirk untergebracht, nahe dem Belvedere, waren ja auch schon seit zwei, drei Tagen in Wien. Für Fulizer und Kreutner hatte es dort im Hotel in der Theresianumgasse leider kein Zimmer mehr gegeben, genauer gesagt: für Kreutner hätte es keins mehr gegeben. Man stritt sich eh schon, ob es nötig sei, einem vor die Jahweische Kongregation Zitierten die Reisespesen zu ersetzen: Habe man etwa Hiob das Hotelzimmer gezahlt, höhnte Louisbad. Man mußte ihn also anderswo unterbringen, und ganz aus den Augen lassen wollte man ihn dabei auch nicht. Fulizer mußte mit.
Kreutner war das alles wurscht. Er hörte den Erklärungen Fulizers gar nicht zu, die der ihm während der U-Bahn-Fahrt vom Westbahnhof bis zur Josefstädter Straße unter Auslassung einiger Details gab (daß er beschattet wurde, brauchte man ihm ja nicht unbedingt unter die Nase zu reiben). Hauptsache, er würde sein Zimmer bekommen, ein kleines Tischchen sollte es haben zum Schreiben, mehr bräuchte Kreutner nicht. Bekam er schließlich auch alles, ein nettes, kleines Zimmer mit Blick auf den Schönbornpark. Telefon am Bett. Klemmte sich auch gleich dahinter, nachdem er den Koffer auf dem dafür bereitstehenden Gestell abgelegt hatte. Rief Rohrbacher an. Im Büro. Fackelte nicht lange.
»Ich hab’ dir doch von Lehmann erzählt.«
»He, Hermann, wo steckst du überhaupt?«
»In Wien. Weißt du doch. Also paß auf: Du kommst doch relativ problemlos an die alten Meldebögen heran.«
»Na ja…«
»Kannst du nachschauen, ob der Lehmann ab 1953 wieder in München gemeldet ist? Vielleicht sogar in seiner alten Wohnung. In der Steinsdorfstraße.«
»Ja schon …«
»Okay! Also, ich warte.«
»Was ist los?!«
»Du sollst nachschauen. Ich bleib’ solange dran.«
»Sag mal: Spinnst du! Weißt du, wieviel Kilometer Akten das sind?«
Wenn Rohrbacher nicht schon auf Grund der letzten Tage, in denen er als Rechtsanwalt Radelspeck Kreutner zum Narren gehalten hatte, mehr und mehr der Meinung zuneigte, sein alter Freund, der Silbenstecher, fange an, sich dem geschlossenen Dichterheim des Professors Navratil entgegenzuspinnen, so hatte er hier den endgültigen Beweis: Der Mann schnappte über. Jetzt war er sogar schon in Wien angelangt. Gugging war nicht mehr weit!
»O.k., dann ruf mich eben zurück.«
Rohrbacher entschied, nicht zu widersprechen. Hatte da vielmehr eine Idee, wie man den armen Kerl vielleicht ruhigstellen könnte. Zumindest beschäftigen. Still beschäftigen. Damit er nicht noch mehr Leute nervte mit seinen dringenden Erklärungen. Man mußte ihm einen Knochen hinwerfen, an dem er eine Zeitlang zu nagen hatte.
»Ich bleib’ im Hotelzimmer«, sagte Kreutner noch, »ruf mich sofort zurück, wenn du’s hast. Ich warte.« Er gab die Telefonnummer durch, dann ein Knacken in der Leitung.
Rohrbacher blieb an seinem Schreibtisch sitzen, machte dort weiter, wo er eben unterbrochen worden war (wenn auch mit den Gedanken ganz woanders). Nach zirka einer halben Stunde sah er auf die Uhr, nahm das Telefon und wählte die Nummer, die er eben schnell auf einen Zettel gekritzelt hatte.
»Ging ja doch schnell«, meldete sich Kreutner.
»Man muß halt wissen, wo nachschauen.«
»Und?«
»Was gibst du deinem alten Freund, der für dich jedesmal die sensationellsten Dinger aus den Tiefen des Archivs hervorkramt?« Rohrbacher wollte testen, ob Kreutner die Ironie bemerkte. Doch nichts davon! Unwirsch verlangte er:
»Nun sag schon: Was hast du rausgefunden?«
Mensch, dem kann man ja jeden Bären aufbinden, dachte Rohrbacher. Und tat demzufolge auch so.

3.

Kreutner hatte grußlos aufgelegt, nachdem ihm Rohrbacher das Ergebnis seiner angeblichen Recherche mitgeteilt hatte. Eigentlich überraschte ihn nicht mehr, was er da eben gehört hatte. So etwas ähnliches hatte er sich schon gedacht. Genaugenommen hatte er schon während der Fahrt hierher nach Wien genau diese Möglichkeit durchgespielt, da war es noch eine unter anderen gewesen, doch jetzt, nach Rohrbachers Auskunft, bestand kein Zweifel mehr: Wenn schon das Stellwerk des über jeden Zweifel erhabenen Archivs die Weichen in diese Richtung stellte, wie sollte dann die Geschichte einen anderen Weg nehmen als genau diesen. Wer konnte sich noch dagegen wehren? Ein machtloser Geschichtenerzähler, der jetzt nur noch zu Ende führen mußte, was ihm eingeflüstert wurde?
Kreutner setzte sich an den Tisch, packte seinen Laptop aus und bootete ein in sein Gier-Zuarbeitungsprogramm. Er würde zwei, drei Stunden Zeit haben, ehe sein lästiger Begleiter, der seinen Beobachtungsposten schräg gegenüber im Zimmer direkt neben dem Fahrstuhl bezogen hatte, an die Tür klopfen würde.
»Ich schau dann wieder nach Ihnen«, hatte Fulizer gesagt, während er die Zimmertür zuzog. »Ruhen Sie sich noch etwas aus, Kreutner, Sie sehen überanstrengt aus, und denken Sie nach, über Lehmann. Es fehlt das Ende! Kann mir vorstellen, die Herren von der Kongregation wollen das Ende erfahren. Der Chef liebt keine offenen Geschichten. Muß alles an sein Ende. Sie wissen schon: Von wegen der Vorsehung!«
Kreutner hätte noch gerne hinterhergerufen, daß doch jede Geschichte eigentlich und irgendwie offen bleibe, er meine…
Doch da war die Tür zu Fulizers Zimmer schon zu.

4.

Lehmann war alleine in die Steinsdorfstraße gegangen. Seine Frau hatte Angst. Angst, vor einem Schuttberg zu stehen, Angst aber auch, daß alles war, wie immer, das Treppenhaus, die Wohnungstür, der Klingelknopf. Sie bat ihren Mann, erst einmal vorauszugehen, sie würde sich in der Zwischenzeit in der Stadt umsehen, in jener Stadt, die sie vor 14 Jahren verlassen hatten. Oder war es eine andere Stadt gewesen?
Am Hauptbahnhof hatten sie sich als erstes eine Zeitung gekauft. Noch im Stehen, die Koffer zwischen die Beine geklemmt, hatten sie die Seiten auseinandergefaltet und zu lesen begonnen, sie hatten sich in die eng bedruckten Spalten hineingestürzt, als würden sie dort alles erfahren, was die letzten 14 Jahre vorgefallen war … Aber es war doch nur eine Zeitung! Daß den Türmen der Frauenkirche just an diesem Tag die beiden Kuppeln, die sie irgendwann während der Bombennächte ’44/45 verloren hatten, wieder aufgesetzt werden würden, erfuhren sie und daß in drei Tagen wieder ein Zug mit Sibirienheimkehrern einträfe.
»Schau dir das an«, sagte Lehmann zu seiner Frau und meinte die Kuppelkrönung der Frauenkirche, »dem Ganzen wird wieder die Krone aufgesetzt, hast du ’s gelesen, sie werden dem Ganzen wieder die Krone aufsetzen, in den Kugeln ganz an der Spitze, siehst du, haben sie eine Urkunde eingeschlossen, da steht alles drauf!«
»Wie ›alles drauf‹?«
»Na, von der Zerstörung und dann der Aufbau wieder. – Geh du nur zur Frauenkirche, ich mach’ das schon.«
In der Neuhauser Straße fuhr schon wiede...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorspiel in Prag
  6. Erstes Kapitel
  7. Zweites Kapitel
  8. Drittes Kapitel
  9. Viertes Kapitel
  10. Fünftes Kapitel
  11. Sechstes Kapitel
  12. Siebtes Kapitel
  13. Zwischenspiel in Krakau
  14. Achtes Kapitel
  15. Neuntes Kapitel
  16. Zehntes Kapitel
  17. Elftes Kapitel
  18. Zwölftes Kapitel
  19. Dreizehntes Kapitel
  20. Endspiel in Wien
  21. Epilog