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Zeitgenössische Kunst verstehen und deuten

  1. 368 Seiten
  2. German
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Zeitgenössische Kunst verstehen und deuten

Über dieses Buch

Kunst beginnt dort, wo der Geschmack aufhörtWarum ist moderne Kunst oft so schwer zu verstehen, und warum stehen viele Menschen ratlos bis empört vor zeitgenössischen Kunstwerken? Jean-Christophe Ammann, ein ausgewiesener und international anerkannter Kenner der zeitgenössischen Kunstszene, lädt mit seinem Buch ein, die Welt der modernen Kunst zu betreten und zu entdecken.Moderne Kunst boomt - doch jenseits von Sammlerhype und Ausstellungsmarketing bleiben viele Fragen offen. Was überhaupt ist moderne Kunst, warum gibt es keine Avantgarden mehr, was ist an ihre Stelle getreten? Ammann diagnostiziert, beobachtet, stellt Fragen, analysiert - und vermag es so immer wieder, einen erhellenden und neuen Zugang zu zeitgenössischen Kunstwerken zu erschließen. Der Erfolgstitel jetzt mit neuen Texten in einer überarbeiteten Ausgabe.

Häufig gestellte Fragen

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Information

Verlag
Westend
Jahr
2012
ISBN drucken
9783938060438
eBook-ISBN:
9783864895012
Auflage
3
Thema
Kunst
TEIL II
Kapitel 4
Raum und Zeit
Der Zeitpunkt: das Datum – On Kawara
On Kawara wurde 1933 in Japan geboren. 1950 begann er ein umfangreiches zeichnerisches Œuvre, das er 1955 abschloss. Er begann dieses Œuvre ein Jahr, nachdem die USA die medizinischen Informationen über die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki freigaben. Die Zeichnungen verarbeiten geradezu obsessiv das Trauma dieser Katastrophen. 1955 verließ On Kawara Japan, reiste um die Welt, ließ sich 1965 in New York nieder und malte am 4. Januar 1966 sein erstes Datumsbild.
Als ich zum ersten Mal – das war in den frühen Siebzigerjahren – ein solches Datumsbild sah, wusste ich überhaupt nichts damit anzufangen. Das änderte sich mit den Jahren.
Halten wir fest:
  • Das Datum auf dem Bild entspricht dem Tag, an dem es gemalt wurde. Gibt es irgendeinen Grund, dass das Bild am besagten Tag nicht zu Ende gemalt werden kann, wird es zerstört.
  • Außer einem Lineal verwendet der Künstler keine technischen Hilfsmittel wie zum Beispiel Schablonen. Das Datum wird auf der grundierten Leinwand mit Bleistift vorgezeichnet und dann mit weißer Farbe ausgemalt. Es sind an die zwölf bis fünfzehn Farbschichten, die übereinander gelegt sind. Die Farbe ist Acryl
  • Das Datumsbild, genannt »Today painting«, ist ein Tageswerk.
  • On Kawara hat sich für die lateinische Schrift entschieden.
  • Er reist durch alle Kontinente, um die Datumsbilder zu malen. Wo immer er sich aufhält, verwendet er die Sprache des Landes. Malt er beispielsweise ein Bild in Casablanca, verwendet er Esperanto. (Das erklärt die vielen kleinen Formate, weil sie leicht im Gepäck als leere, nur grundierte Leinwand transportiert werden können.)
  • Daraus folgt, die Zeit ist ein Zeitpfeil. Der Raum jedoch besitzt keine Richtung. On Kawara reist anarchisch, richtungslos, um der Zeit die Kontinuität ihrer Richtung zu verleihen. (Es gab eine Ausstellung von Bildern, die alle die von ihm bereisten Hafenstädte vereinte.)
  • Das Datum auf dem Bild, das Hier und Jetzt, ist ein Tag im Universum.
  • Das Datum auf dem Bild bezieht sich nicht auf ein bestimmtes Ereignis.
  • On Kawara legt jedem Datumsbild Teile einer Zeitung des Ortes bei, an dem er das Bild gemalt hat. Er umkreist manchmal mit Kugelschreiber beliebig eine Nachricht in dieser Zeitung.
  • Er malt keineswegs jeden Tag ein Bild.
  • Die eher seltenen Farben wie Blau, Rot oder Grün haben keine symbolische Bedeutung. Sie entsprechen der Tageslaune.
  • Der Farbauftrag erfolgt anonym. Man erkennt keinen Pinselduktus. Jegliche Form von Individualität wird dem kollektiven Bewusstsein von Kreativität untergeordnet.
image
On Kawara, »9 Ago. 68«, 1968, 20,4 × 25,2 × 4,4 cm
Versuchen wir jetzt, den Hintergrund zu erforschen. Es gibt einen anthropologischen Unterschied zwischen dem asiatischen und dem abendländischen Denken. Das jüdisch-christliche Denken (Altes Testament) ist monotheistisch begründet. Ein Schöpfergott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Das ist insofern ungeheuerlich, als Gott den Schöpfungsakt in den Menschen verlagert hat. Dadurch hat Gott dem Menschen ein individuelles Bewusstsein von Individualität und Kreativität verliehen. Es gibt einen Anfang, die creatio ex nihilo, und es gibt ein Ende, die Apokalypse.
Im japanischen Denken gibt es weder einen Anfang noch ein Ende. Der Anfang ist zwar mythologisiert, aber keineswegs in einem zentralen Moment fokussiert. Gibt es keinen Anfang und kein Ende, zählt nur die Gegenwart. Die Vergangenheit hat für Japaner – und Asiaten im allgemeinen – nur als Tradition, als vergegenwärtigte Vergangenheit Bedeutung. Entsprechend sind Tradition und Gegenwart die Parameter des japanischen Denkens. Da es keinen Schöpfergott gibt, ist das japanische Denken durch ein kollektives Bewusstsein von Individualität und Kreativität geprägt.
Das japanische Denken ist stärker als die vier Religionen, die es vereinigt: Buddhismus, Schintoismus, Konfuzianismus, Christentum. Der Buddhist sagt: »Jeder Tag ist ein guter Tag.«
Das Datum im Werk von On Kawara ist unmittelbare Gegenwart. Gegenwart besteht in der unmittelbaren Konfrontation von Ordnung und Unordnung. Die älteste Devise des Regierens in Japan heißt, die Dinge zur Ruhe zu bringen.
Das Datum im Werk von On Kawara ist eine Formel für Harmonie: die produktive Harmonisierung von Gegensätzen. Es ist eine säkularisierte Ikone. Etwa so, wie wenn der Ritter Georg jeden Tag den Drachen zu bändigen hat.
Das Datum im Werk von On Kawara gleicht einem ruhenden Horizont, still wie das Wasser auf den Reisfeldern.
Ein weiteres entscheidendes Kriterium ist, was wir als stilgeschichtliche Entwicklung bezeichnen. Das Werk von On Kawara schreitet unerbittlich in der Zeit voran – kein Datum wiederholt sich –, und dennoch bleibt es in der Form unverändert. Die Kunst, wie wir sie heute verstehen, in ihrer globalen Ausweitung, ist eine westliche Erfindung. Keine andere Kultur als die abendländische hat nach circa 600 n. Chr. eine derartig atemberaubende Vielfalt an Formen und Stilen auf diesem Planeten erreicht. Im Unterschied zu anderen herausragenden, hermetischen Hochkulturen war und ist die abendländische durch und durch opportunistisch und permissiv.
On Kawara frönt keinem individualistischen Prinzip von Kreativität. Er verkörpert das Kollektive mit der Kontinuität eines Zen-Meisters, der jahraus, jahrein mit Tusche den Bambus malt. Die Unterschiede in den einzelnen Pinselzeichnungen werden wir kaum erkennen – so wenig wie das Drama der Tage im Werk von On Kawara. Besäße ich ein Werk von On Kawara, würde ich es an eine freie Wand hängen, mich jeden Abend für eine kurze Zeit davor setzen, über Gott und die Welt und einen Tag im Universum nachdenken. Vor allem aber würde ich nie ein Bild erwerben wollen, das mich an ein bestimmtes Datum erinnern könnte.
Zu den »Weltkarten« (»Mappa«) von Alighiero Boetti und einigen Werken in deren Umfeld1
»M’illumino d’immenso«
(Ich erleuchte mich durch Unermessliches)
Giuseppe Ungaretti2
Es geht hier im Besonderen um die »Mappa«. Aber die »Mappa« sind Teil eines Ganzen. Das Ganze heißt: Ordnung/Unordnung/ Expansion. Expansion beinhaltet Entropie. »Ordnung und Unordnung« sind von Alighiero Boetti real eingesetzte Begriffe, die er aber auch als übergeordnete Begriffe versteht, denen die Entropie immanent eingeschrieben ist.
Wie kein anderer hat Alighiero Boetti Systeme erforscht, die stark mit der Entropie gekoppelt sind. Wir werden auf einige solcher Systeme eingehen. Entropie hat mit dem Ersten und Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zu tun. Diese ist höchst komplex, aber weil es für unsere Belange der Molekularbiologe und Nobelpreisträger Jacques Monod so einfach und verständlich formuliert hat, möchte ich es hier wiedergeben:
»In seiner ersten, rein thermodynamischen Form, wie er 1850 in Verallgemeinerung des Theorems von Carnot durch Clausius ausgesprochen wurde, schreibt der Zweite Hauptsatz vor, dass in einem energetisch geschlossenen Raum alle Temperaturunterschiede danach streben müssen, sich spontan aufzuheben. Der Zweite Hauptsatz schreibt weiterhin vor – was auf das Gleiche hinausläuft –, dass innerhalb eines solchen geschlossenen Raumes, in dem eine gleichmäßige Temperatur herrscht, Unterschiede des thermischen Potentials zwischen verschiedenen Bereichen des Systems unmöglich auftreten können. Deshalb ist es zum Beispiel nötig, Energie aufzuwenden, um einen Kühlschrank kühl zu halten.
Nun kann in einem Raum mit gleichmäßiger Temperatur, in dem kein Potentialunterschied mehr besteht, kein Ereignis (makroskopischer Größenordnung) mehr stattfinden. Das System ist träge. Es ist in diesem Sinne zu verstehen, wenn man sagt, dass der Zweite Hauptsatz den unvermeidlichen Verfall der Energie innerhalb eines geschlossenen Systems voraussagt, wie es das Universum ist. Die ›Entropie‹ ist das thermodynamische Maß für den Energieverfall eines Systems. […]
Durch die Entwicklung der kinetischen Theorie der Materie (oder der statistischen Mechanik) sollte der Zweite Hauptsatz seine tiefste und allgemeinste Bedeutung enthüllen. Der › Energieverfall ‹ – oder die Zunahme der Entropie – ist eine statistisch vorhersehbare Konsequenz der Bewegungen und zufälligen Zusammenstöße der Moleküle. Nehmen wir als Beispiel zwei Räume mit unterschiedlicher Temperatur, die miteinander verbunden werden. Die ›warmen‹, d. h. schnellen, und die ›kalten‹, d. h. langsamen, Moleküle werden zufällig auf ihrem Weg von einem Raum in den anderen hinüberwandern, wodurch der Temperaturunterschied zwischen den beiden Räumen unvermeidlich aufgehoben wird. Man sieht an diesem Beispiel, dass die Entropiezunahme in einem solchen System mit einer Zunahme an Unordnung verbunden ist: Die zunächst getrennten langsamen und schnellen Moleküle sind jetzt vermischt, und die Gesamtenergie des Systems verteilt sich infolge ihrer Kollisionen statistisch auf alle; darüber hinaus werden die beiden zu Anfang durch ihre Temperatur unterscheidbaren Räume äquivalent. Vor der Vermischung konnte das System Arbeit leisten, da es einen Potentialunterschied zwischen den beiden Räumen enthielt. Ist das statistische Gleichgewicht einmal erreicht, dann kann sich innerhalb des Systems nichts mehr ereignen.
Misst die Entropiezunahme den Zuwachs an Unordnung in einem System, so entspricht eine Zunahme an Ordnung einer Abnahme der Entropie oder – wie man es manchmal zu nennen vorzieht – einer Zufuhr negativer Entropie (oder ›Negentropie‹). Der Ordnungsgrad eines Systems lässt sich jedoch in einer anderen Sprache, der Sprache der Informationswissenschaft definieren. Die Ordnung eines Systems ist – in dieser Sprache ausgedrückt – gleich der Informationsmenge, die zur Beschreibung dieses Systems erforderlich ist. Daher die Vorstellung einer gewissen ›Äquivalenz‹ zwischen ›Information‹ und ›Negentropie‹, die wir Szilard und Léon Brillouin verdanken.«3
Wenden wir uns jetzt kurz Rudolf Arnheim zu, der in dem Kapitel »Information und Ordnung« den Gedanken ausführt:
»Information übermitteln heißt Ordnung schaffen. Das klingt vernünftig. Weil nun aber die Entropie mit dem Wahrscheinlichkeitsgrad der gegebenen Situation wächst, tut die Information das Gegenteil: Sie wächst mit dem Grad der Unwahrscheinlichkeit. Je unwahrscheinlicher ein Geschehen, umso mehr Information vermittelt es. Auch dies klingt vernünftig.«4
Es ist das große Verdienst von Rudolf Arnheim aufzuzeigen, dass Aussagen über die Kunst in der abstrakten informationstheoretischen Form nicht zutreffen. Er schreibt in dem erwähnten Kapitel:
»Wenn es, wie ja überall in der Kunst, um Strukturen geht, ist Regelmäßigkeit der Form keine Redundanz. Keineswegs vermindert sie die Information und dementsprechend die Ordnung. Im Gegenteil, für Struktur ist Regelmäßigkeit eine Hauptstütze der Ordnung, und diese Form der Ordnung ist eine Grundvoraussetzung für alle zweckdienliche Information über strukturierte Ganzheiten. Im wörtlichen Sinn bedeutet ›Information‹ Formgebung; und Form braucht Struktur. Aus diesem Grunde hat sich die verlockende Aussicht, Informationstheorie auf die Künste anzuwenden und dadurch ästhetische Form auf quantitative Messungen zu reduzieren, als so fruchtlos erwiesen. […]
Hier nun muss ein wichtiger Unterschied zwischen der Informationstheorie und dem Entropieprinzip aufgezeigt werden. Dem Informationstheoretiker geht es immer um eine Einzelabfolge oder um eine auf eine solche Einzelabfolge reduzierte Anordnung von Elementen. Er berechnet die Wahrscheinlichkeit für ihr Auftreten, indem er feststellt, wie viele solcher Abfolgen möglich sind, wobei die vorliegende eine von ihnen ist. […]
In der Thermodynamik hingegen bezieht sich der Entropiebegriffnicht auf die Wahrscheinlichkeit für die zeitliche Aufeinanderfolge von Elementen in einer Serie, sondern auf die Wahrscheinlichkeit für die Verteilung der Elemente in einem gegebenen Zustand. Je weiter entfernt ein solcher Zustand von einer Zufallsverteilung ist, um so geringer ist die Entropie und um so höher das Niveau der ›Ordnung‹. Es besteht also der folgende Unterschied zwischen den beiden Methoden: Von einer stark zufallshaften Abfolge wird ausgesagt werden, dass sie viel Information vermittelt, weil Information es mit der Wahrscheinlichkeit des Eintretens einer bestimmten Abfolge zu tun hat; eine ähnlich zufallshafte Verteilung besitzt vom Standpunkt der Thermodynamik aus eine hohe Wahrscheinlichkeit, weil unzählige Verteilungen dieser selben Art möglich sind.«5
Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Monods Zufall und Notwendigkeit – Philosophische Fragen der modernen Biologie (1971) schreibt der Physiker und Chemiker Manfred Eigen einen wichtigen Zusatz: »Eines der Hauptmerkmale lebender Systeme ist nämlich, dass sie ständig Energie in einer zur Arbeitsleistung geeigneten Form aufnehmen und sich dadurch dem Abfall in den Gleichgewichtszustand, dem Zustand maximaler Unordnung, entziehen.«6
Das genau tut Alighiero Boetti, indem er in seinem Schaffen nicht linear verfährt, sondern die oben erwähnten Grundprinzipien extrapolierend in die verschiedensten Lebensbereiche ausweitet mit der Absicht, die Systeme nicht redundant werden zu lassen beziehungsweise sie in einen Kältezustand zu überführen.
Exkurs I
Der zentrale Einfluss der amerikanischen Kunst in Europa ab 1945 versiegt Anfang der Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Mit der Conceptual Art (New York) und der Arte Povera (Italien) enden auch die historischen Avantgarden im zwanzigsten Jahrhundert. Wenn Alighiero Boetti sich in seinen frühen Arbeiten auf den Abstrakten Expressionismus und auf die Minimal Art bezieht (1966), dann tut er das deshalb, weil die Kunst der amerikanischen Ostküste eine Messlatte darstellte.
Die Linearität der amerikanischen Konzeptkunst bestand darin, dass ein Konzept formal gedacht wurde. Das hat mit der angelsächsischen Auffassung von Philosophie zu tun, die sprachphilosophisch orientiert war. Im Unterschied dazu besaß die europäische Philosophie einen ontologischen, ja metaphysischen Hintergrund. Die Linearität der amerikanischen Konzeptkunst führte dazu, dass sie sich dem entropischen »Wärmetod« angenähert hat. Das strikt formale Denken konnte und wollte sich »inhaltlich« nicht aufladen. Die Redundanz war diesem Denken gewissermaßen eingeschrieben.
Anekdote: 1971 traf ich in Vorbereitung der documenta 5 am Kennedy Flughafen in New York auf Carl Andre und Sol Lewitt. Sie wollten nach Düsseldorf zu Konrad Fischer fliegen und schimpften wie die Rohrspatzen über einen »european psychologist«. Da ich in das Gespräch hineinplatzte, fragte ich, von wem denn die Rede sei. »Bruce Nauman«, sagten sie. Diese Aussage gab mir schwer zu denken, aber sie erschloss mir einen Unterschied.
Zum Beispiel betrachtete ich daraufhin das Schaffen von Neil Jenney mit ganz anderen Augen. Ich realisierte...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckel
  2. Titelblatt
  3. Urheberrecht
  4. Inhalt
  5. Vorwort: Das Kunstwerk als Drehscheibe
  6. Teil I
  7. Teil II
  8. Anmerkungen
  9. Kurzbiographien der vorgestellten Künstlerinnen und Künstler
  10. Abbildungsverzeichnis und Abbildungsnachweise