KAPITEL FÜNF
Ganz ohne Theorie geht’s nicht: Über den Staat
Um zu verstehen, was Schröder, Clement, Fischer und Co. zu Hartz IV getrieben hat, warum Hartz IV niemals eine Lösung für die Armutsproblematik hat sein können und warum heute so mit den Armen umgegangen wird, wie mit ihnen umgegangen wird, ist es nötig, sich einige Grundmuster staatlichen Handelns klarzumachen. Was treibt den Staat an? Welchen Regeln folgt er? In welchen Zwängen steckt er? Und wie versucht er aus diesen herauszukommen? Es hilft nichts, aber ganz ohne Theorie geht es nicht …
Operation gelungen, Patient tot: Die Renten sind unsicher
» Operation gelungen, Patient tot. « Nur allzu oft folgen sozialpolitische Initiativen leider genau diesem alten Kalauer. Bestes Beispiel dafür ist die Rentenpolitik: Seit Jahrzehnten schon zeichnete sich das Dilemma ab, vor dem unser umlagefinanziertes Rentensystem nun steht. Seit den siebziger Jahren ist die Geburtenrate spärlich. Immer mehr Älteren stehen immer weniger Jüngere gegenüber.1
Hinzu kommt, dass die Rentner dank des medizinischen Fortschritts immer älter werden und immer länger ihre Rente beziehen. Die Arbeitslosenquote lässt das Verhältnis noch schlechter aussehen, da es letztlich nicht auf Erwerbsfähige, sondern auf
Erwerbstätige, also auf Beitragszahler ankommt. Gleich von mehreren Seiten gerät unser gesetzliches Rentensystem damit unter Druck. Eine niedrigere Arbeitslosenquote würde das Problem sicher etwas entschärfen, doch mittel- und langfristig nicht lösen. Denn wer Beiträge einzahlt, will im Gegenzug später auch eine Rente beziehen. Ohne Produktivitätsfortschritte (die wir zum Glück immer hatten und haben) und ohne eine soziale, vorausschauende und gerechte Verteilungspolitik (die wir leider nicht haben ) muss unser System zwangsläufig in Probleme geraten.
Bereits im Bundestagswahlkampf 1986 sorgte diese Erkenntnis für erhebliche Unruhe. Der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm sah sich im April 1986 genötigt, höchstpersönlich auf dem Bonner Marktplatz Plakate zu kleben mit der Aufschrift: »Denn eins ist sicher: die Rente.« So ganz sicher allerdings wohl doch nicht: Nur drei Jahre später kam die erste große Rentenreform. Von einer »historischen Stunde« sprach der Arbeitsminister und meinte damit die Tatsache, dass sich künftige Rentenerhöhungen nicht mehr an den Bruttolöhnen, sondern an der in der Regel niedrigeren Nettolohnentwicklung orientieren sollten. Andernfalls sah man schon für die neunziger Jahre erhebliche Probleme auf die Rentenkasse zukommen. So jedoch hatte man erst einmal zehn Jahre Ruhe.2
Zum Ende seiner Amtszeit, 1998, erfand Blüm dann den sogenannten Demographiefaktor. Er wurde in die Rentenformel eingebaut und sollte der demographischen Entwicklung in soweit Rechnung tragen, als er das Rentenniveau von 70 auf 64 Prozent des Durchschnittsverdienstes absenken sollte, um damit die Kosten für die längeren Laufzeiten der Renten auszugleichen. Noch bevor der Demographiefaktor in Kraft treten konnte, kam Rot-Grün ans Ruder und schaffte ihn gleich wieder ab.
Nur drei Jahre später ersetzten sie ihn allerdings durch den »Riesterfaktor«, benannt nach dem damaligen Arbeitsminister Walter Riester. Im Grunde genommen war das der Blümsche Demographiefaktor in einem etwas anderen Outfit. Zu ihm gesellte sich 2004 der sogenannte » Nachhaltigkeitsfaktor «. Ziel dieser für den Laien völlig unverständlichen Rechenfaktoren war allein die Absenkung des Rentenniveaus von 53 Prozent im Jahre 2005 auf 46 Prozent bis zum Jahr 2020.
Allerdings liegen solchen Berechnungen 45 Versicherungsjahre zugrunde. Wer hat die noch? Geht man in den Berechnungen stattdessen von 40 Beitragsjahren aus, was der Realität schon etwas näher kommt, schrumpft das Sicherungsniveau bis 2020 auf nur noch 37 Prozent und bis 2040 sogar auf höchst bescheidene 34 Prozent.3 Die Rente des Durchschnittsverdieners bewegt sich damit gefährlich in Richtung Basissicherung. Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnete vor, dass bereits im Jahre 2023 die durchschnittlich ausgezahlte Rente nicht mehr höher sein dürfte als die Altersgrundsicherung und warnte eindringlich vor einer neuen Altersarmut.4 Um dieser zu entgehen, empfahl Riester die »Riester-Rente«, eine zusätzliche private Rentenversicherung mit staatlicher Förderung. Hartnäckig ignorierte er, dass diejenigen, die sie am dringendsten bräuchten – nämlich Menschen mit sehr kleinen Verdiensten und später dementsprechend niedrigen Renten –, froh sind, wenn sie finanziell überhaupt über den Monat kommen. Fürs Riestern bleibt da nichts übrig. Doch kaum jemand in der Politik sieht bis heute Nachbesserungsbedarf.
Was also war passiert? Am Anfang stand das Problem, dass immer weniger Junge immer mehr Alte mitfinanzieren müssen. Es war die bange Frage der Menschen, ob sie im Alter dann wohl noch auskömmlich versorgt sein würden, die Blüm zu seiner Plakataktion veranlasste. Nachdem sich die Politik der Angelegenheit angenommen hatte, spielte diese Sorge jedoch im Grunde keine ernsthafte Rolle mehr. Stattdessen rückte die Frage in den Mittelpunkt, wie angesichts der demographischen Entwicklung verhindert werden kann, dass die Beiträge zur Rentenversicherung in die Höhe schießen und die deutsche Wirtschaft belasten. Bei Riesterfaktor und Nachhaltigkeitsfaktor ging es ausschließlich darum, Einnahmen und Ausgaben in eine langfristige Balance zu bringen – und zwar durch ein Absenken der Renten. Wer kann, sollte halt privat noch was zur Seite legen, der Staat würde auch etwas zuschießen. Und wer nicht kann, hat eben Pech gehabt.
Für die nächsten Jahrzehnte ist damit heute schon eine hohe Altersarmutsquote vorprogrammiert. Welchen Sinn das gesetzliche Rentensystem dann noch haben soll, muss ernsthaft gefragt werden. Doch ist es auf jeden Fall stabil. Wie gesagt: Operation gelungen, Patient tot.
Das Hemd ist immer näher als der Rock: Auch der Staat hat Eigeninteressen
Absurditäten dieser Art finden wir reichlich in der Sozialpolitik. Das ist kein Zufall. Hinter solcher Selbstzweck-Politik steckt durchaus System. »Das Hemd ist näher als der Rock« – dieser Spruch kann geradezu als Leitsatz für diese Politik gelten.
Man darf es sich ähnlich vorstellen wie beim Fußball: Fußball ist ein wunderschöner Sport. Allen, die im Fußballgeschäft tätig sind, vor allem den Spielern, darf unterstellt werden, dass sie diesen Sport lieben und nichts lieber tun, als einen schönen, ansehnlichen Fußball zu spielen. Mit tollen Toren, weiten Flanken, genialen Spielzügen und spektakulären Dribblings. Man spielt allerdings im Profilager. Schöner Fußball hin oder her – was am Ende zählt für den Klassenerhalt, für das Erreichen der internationalen Turniere und vor allem für das wirtschaftliche Wohlergehen des Vereins, sind Siege. Was nützt der schönste Offensivfußball, wenn er direkt an das Tabellenende führt? Idealerweise kommt alles zusammen: schöner Fußball, Siege und wirtschaftlicher Erfolg. Muss aber nicht. Disziplin und Taktik gehen auf dem Platz im Zweifelsfall vor impulsiver Leidenschaft und dem Zug zum Tor. Und wer das nicht einsehen will und damit den Sieg gefährdet, der findet sich ganz schnell auf der Reservebank wieder. Das Hemd ist halt immer näher als der Rock.
Ganz ähnlich funktioniert es auch in der Politik. Viele Menschen treffen wir dort, mit vielen verschiedenen Überzeugungen ; mal mehr, mal weniger inspiriert; mal originell, mal eher unauffällig ; mal Profis, mal eher verirrte Amateure. Alle wollen sie Einfluss nehmen auf die Lebensbedingungen und Spielregeln in diesem Land, und alle haben sie eine Botschaft. Und selbst wenn diese Botschaft nicht mehr als parteigeschulte Politrhetorik sein sollte – eine Botschaft bleibt sie doch. Für diese setzen sich unsere Politiker ein, mal mehr, mal weniger leidenschaftlich …
Früher oder später müssen all diese Menschen mit ihren eigenen oder angeeigneten Ideen lernen, dass es auch in der Politik vor allem darum geht, den Sieg zu sichern. Die hehren Ideen und Botschaften müssen da im Zweifelsfalle hintanstehen. Erst einmal müssen Mehrheiten organisiert werden. Dazu sind eine Menge Kompromisse und Gefälligkeiten nötig. Gute Argumente allein helfen da wenig. Geraten unsere Politiker gar in Regierungsnähe oder sogar in Regierungsverantwortung, erringen sie Macht und kommen sie in Positionen, in denen sie die Geschicke dieses Landes tatsächlich beeinflussen können, dann müssen sie zudem schmerzhaft erfahren, wie kompliziert das Spiel wirklich ist und wie viele Zwänge sich da plötzlich auftun. Je näher an der Macht man ist, umso schwieriger wird es, schönen Fußball und Siege zusammenzubringen. Häufig muss man schon mit einem so gerade über die Zeit geretteten Unentschieden zufrieden sein.
Was bedeutet das nun für einen Staat? Wie heißen die echten und vermeintlichen Sachzwänge und Prioritäten? Um diese zu verstehen, müssen wir uns vor Augen halten, dass ein jedes » System«, eine jede Organisation immer und vor allem am eigenen Erhalt interessiert ist und interessiert sein muss.5 Der schöne Fußball, um im Bild zu bleiben, mag Sinn und Ziel des ganzen Vereins sein – doch nur so lange und so weit er dem Verein selbst nicht schadet, seine wirtschaftlichen Grundlagen und den Klassenerhalt nicht bedroht. Eine jede Organisation folgt in ihrem Handeln diesem unausgesprochenen Gesetz; vom Karnevalverein bis zur Kirche. Ob beim Karnevalsverein Schluss mit Lustig ist, weil die Kassen leer sind, oder ob die Kirche es mit ihren zehn Geboten doch lieber nicht so genau nimmt, wenn weltlicher Schaden droht – Vorrang hat immer der Selbsterhalt, auch bei Parteien oder bei dem recht komplexen Gebilde » Staat « mit seiner Legislative, seiner Regierung und seiner Verwaltung.
Doch wann fängt eine Regierung an, gegen sich selbst zu regieren? Wann gefährdet sie ihr Eigeninteresse am schlichten Überleben? Es leuchtet ein, dass eine solche Frage in einer Diktatur anders beantwortet werden muss als in einer Demokratie, in einer Marktwirtschaft anders als in einer Planwirtschaft, in einem Gemeinwesen mit sozialstaatlicher Tradition anders als in einem liberalistischen Nachtwächterstaat.
Steuern, Demokratie und Sozialstaatsprinzip – für die Bundesrepublik Deutschland sind es diese drei Merkmale, die man im Blick haben muss, will man die Eigeninteressen des Staates verstehen.6 Wie Eckpfeiler prägen sie die staatliche Verfasstheit.
Privat gesteuert
Der deutsche Staat ist ein Steuerstaat. Er finanziert sich nicht, indem er selber Geschäfte macht, sondern indem er seine Bürger Geschäfte machen lässt und an dem wirtschaftlichen Erfolg über Steuern teilhat. Der Staat selbst kann damit für seinen materiellen Handlungsspielraum gar nicht so viel tun, sondern ist vielmehr vom wachsenden oder im schlechten Fall eben nicht wachsenden Wohlstand der privat handelnden Unternehmen und Erwerbstätigen abhängig. Er ist damit im ureigensten Interesse und sehr existenziell auf eine florierende Wirtschaft angewiesen. Egal, was im Wahlprogramm der Parteien auch stand – spätestens nach der Wahl muss sich eine jede Regierung bei all ihrem Tun fragen, welche Auswirkungen es auf die wirtschaftlichen Abläufe und auf die privaten Unternehmensentscheidungen haben könnte.
Auf der anderen Seite erfährt dieser Staat sofort ganz erheblichen Gegenwind, sollte er der Versuchung erliegen, die Entscheidungsfreiheit von Unternehmen oder der Tarifparteien über Gebühr zu beschneiden oder die Privatheit der Wirtschaft generell in Frage zu stellen. Die Vorgänge bei der »Bewältigung« der Finanzkrise sind bezeichnend : Ein im Wesentlichen privat aufgestelltes Bankensystem war in der Lage, den gesamten Finanzmarkt vor die Wand zu fahren. Es hat staatliche Überlebenshilfen in gigantischen Größenordnungen eingestrichen. Auch dem Letzten dürfte klar geworden sein, dass der Motor freier Marktwirtschaft, das Gewinnstreben mit Augenmaß, längst heißgelaufen und in nackte Gier umgeschlagen ist. Trotzdem gelingt es nicht, die staatlichen Hilfen und Bürgschaften, die wie ein milliardenschweres Damoklesschwert über dem Steuerzahler hängen, mit wirklich harten Auflagen zu versehen. Kaum scheint das Schlimmste überstanden, wird der Casinobetrieb an den internationalen Finanzmärkten wieder aufgenommen. Staat und Steuerzahler schauen im Wesentlichen zu.
Es scheint für diesen Staat unendlich schwer, die Privatheit wirtschaftlicher Entscheidungen ernsthaft in Frage zu stellen. Mit personellen Verflechtungen, Parteispenden aus dem Bankensystem und Ähnlichem allein lässt sich dieses Phänomen nicht erklären. Nicht nur für die SPD, auch für die CDU waren staatliche Eingriffe in die Wirtschaft oder gar die Vergesellschaftung von Unternehmen nach dem Krieg noch durchaus denkbar, wie ein Blick in das bis 1959 geltende Heidelberger Programm der SPD oder das bis 1949 gültige Ahlener Programm der Christdemokraten zeigt. Doch ist es den Apologeten der freien Marktwirtschaft, beflügelt durch das bundesdeutsche Wirtschaftswunder, in den folgenden Jahren und Jahrzehnten eindrucksvoll gelungen, die Eigentumsfrage der Produktionsmittel geradezu zum Tabu zu erklären und die Privatheit der Unternehmensentscheidungen zum konstitutiven Element dieser Gesellschaftsordnung zu erheben.
In Artikel 14 Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. « Es dürfte kaum einen Artikel in unserer Verfassung geben, der in der politischen und gesellschaftlichen Realität der Bundesrepublik so konsequent aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt wurde. Der wirtschaftliche Zusammenbruch der DDR vor etwas mehr als 20 Jahren besorgte dann den Rest, um aus der Überzeugung eine vermeintliche Gewissheit zu machen, wonach die Privatheit der Wirtschaft für das Wohl dieses Landes von wesentlicher Bedeutung sei. Der Staat hat für die meisten Menschen die private Entscheidungsmacht nicht nur zu respektieren, er hat sie zu garantieren. Oder, wie es der frühere FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach beschrieb: »Die Schwierigkeit besteht in gewissen Bewusstseinssperren bei den Massen, die sich, wenn sie nur einen Schrebergarten besitzen, schon in Solidarität mit den Milliardären in Abwehr aller Anschläge gegen Eigentum und Erbrecht wähnen. «7
Geradezu typisch, wie beispielsweise Hans-Peter Friedrich, Landesgruppenchef der CSU im Deutschen Bundestag, im März 2010 auf den Programmentwurf der Linken reagierte. Die scheidenden Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine und Lothar Bisky forderten darin nicht nur die Verstaatlichung des Bankensektors, sondern wollten auch gleich die Bereiche Energie, Verkehr und Gesundheit dem kapitalistischen Renditestreben entreißen – Dinge, über die nachzudenken es j...