Du fühltest, dass die Jungs zu allem, was passieren würde, bereit waren
Aus einem Gespräch in Giv‘at-Hayim
Interviewer: Amram Hayisra’eli
Auf der halben Strecke zwischen Haifa und Tel Aviv gelegen, nahe an der Grenze jenes Teils von Jordanien, der seit dem Sechstagekrieg von Israel besetzt ist, wurde Giv‘at-Hayim 1932 von einer Emigrantengruppe aus Deutschland gegründet. Heute hat es eine Bevölkerung von über 800 Einwohnern; ein großer – und wachsender – Teil seiner Mitglieder gehört der jüngeren Generation an. Es lebt von intensiver Landwirtschaft und einer großen Konservenfabrik.
Teilnehmer: Peter, vierzig, Vater von zwei Kindern, der in der Tschechoslowakei geboren wurde und dessen Erfahrung des Zweiten Weltkrieges in einem Aufenthalt im Konzentrationslager von Theresienstadt ihren Höhepunkt fand. Er schloss sich Giv‘at-Hayim bei seiner Ankunft 1949 in Israel an, hat eine Anzahl wichtiger Posten dort gehabt und ist im Moment Schatzmeister. Im Sechstagekrieg kämpfte er als Feldwebelleutnant in einem Panzerregiment. Shimon, neunundzwanzig, Vater von zwei Kindern, der bei den Erntearbeiten hilft und Landwirtschaft studiert. Leutnant in einem Fallschirmjägerregiment. Gad, achtzehn, der in Giv‘at-Hayim geboren und erzogen wurde, war zum Zeitpunkt des Sechstagekrieges erst drei Monate bei der Armee und diente als einfacher Soldat in einer bewaffneten Einheit. Ofer, fünfundzwanzig, dessen Familie mütterlicherseits seit Generationen in Safed gelebt hatte und dessen Vater Graduierter einer jüdischen Jugendbewegung in Deutschland ist. Nach seiner Militärdienstzeit als Infanterieoffizier kehrte Ofer zurück, um im Kibbuz zu arbeiten. Dann begann er, als Pädagoge für geistig behinderte Kindern zu arbeiten, und sollte im Herbst 1967 anfangen, Psychologie an der Universität von Tel Aviv zu studieren. Er wurde im Kampf um Jerusalem getötet. Er war seit sechs Monaten verheiratet. Nach seinem Tod wurde bekannt, dass er ein Künstler mit einigem Talent gewesen war, doch zeigte er seine Bilder nur sehr wenigen. Eine posthume Ausstellung wurde im Museum von Tel Aviv gezeigt, und ein Buch mit seinen Zeichnungen veröffentlicht. Seine Briefe werden in Kürze in Buchform erscheinen.
Peter: Als ich gerufen wurde, habe ich’s nicht geglaubt. Ich war überzeugt, dass ich bald heimkommen würde. Ich war überzeugt, dass die Ägypter eine Riesenshow abziehen, und da man sich nicht auf Wunder verlassen könnte, müsste man eben eine gewisse Anzahl einziehen. Es kam mir wie eine gewöhnliche Einberufung vor … Wir holten die Schützenpanzer heraus und arbeiteten sehr schwer … Und im Allgemeinen, wenn man schwer beschäftigt ist, hat man keine Zeit zum Denken. Wir teilten uns in zwei Lager: die Aktivisten und die Pazifisten. Als die Alarmbereitschaft andauerte, war die psychische Situation schwierig. Die Kommandeure wurden angewiesen, diese Lage durch Gespräche zu erläutern. Und das war eine sehr schwierige Sache für einen Offizier, der in den Augen seiner Untergebenen als Soldat und nicht als Dozent bestehen soll. Für ein Mitglied des Außenministeriums zum Beispiel ist es leichter, so was zu erklären … leichter als für einen Soldaten. Und ich muss sagen, dass unser Kommandeur – Mitglied des Kibbuz Ginegar – den Test mit Auszeichnung bestand. Man hatte großes Vertrauen zu ihm. Und er hatte persönlichen Kontakt zu vielen Leuten der Einheit.
Shimon: Uns hat man viel später eingezogen. Damals wusste schon jeder im Lande, dass etwas geschehen müsste. Die Spannung war sehr groß. Ich war nicht beunruhigt. Im Gegenteil, ich sagte immer: ›Leute, wenn wir noch zu Hause sind, dann ist es nicht ernst. Kein Grund zur Aufregung.‹ Und als es auf die letzten Tage zuging, wurde die Spannung unerträglich. Wir hatten auch in der Landwirtschaft vorgearbeitet, haben schon vor der Zeit gesät – und wir säten viel mehr, als es die Tagesnorm verlangte, um damit fertig zu werden, falls man uns abruft. Und am letzten Tag, als der Krieg schon wirklich in der Luft lag – wir fühlten, dass wir bald dran waren –, arbeiteten wir über die Zeit hinaus … und tatsächlich: In der Nacht rief man uns ab, und die Anweisung lautete eigentlich, um sechs von hier loszufahren, doch um sechs waren wir schon an der Sammelstelle. Wir hatten keine Geduld, länger zu warten … Wir fuhren mit dem Omnibus los. Als wir ankamen, da kamen sie auch schon von allen anderen Orten … alle etwas vor der Zeit. Die Organisation klappte wie geschmiert …
Amram: Als man nachher dasaß und wartete – wie hat das auf eure Moral gewirkt?
Shimon: Ziemlich übel. In den ersten Tagen war Hochspannung. Dann ließ die Spannung nach … und die Moral sank immer mehr … Im Moment, als Abba Eban zurückkam, war wieder ein Höhepunkt, man dachte, jetzt sei es so weit … als Eban seine Gespräche mit allen beendet hatte … da war die historische Rede von Levi Eshkol … diese berühmte, gestotterte Rede … und am nächsten Tag sahen wir, dass der Krieg nicht ausbrach … und die Moral sank, soweit ich mich daran erinnerte, aufs Neue … ich weiß noch, dass ich einen Brief nach Hause geschrieben habe … ich unterstrich, dass die Moral sehr niedrig sei. In dieser Beziehung hat die Ernennung Dayans zum Verteidigungsminister sehr viel ausgemacht. Wir haben direkt darauf gewartet. Wir lasen im Ma’ariv, dass man verhandelte. Bei Gesprächen unter Freunden sagte man dauernd: »Na los, man soll ihn doch schon zum Verteidigungsminister machen …«
Am ersten Tag nach der Einberufung sind wir einander mit breitem Lächeln begegnet. Ich würde sogar zu sagen wagen, dass die Leute den Krieg wollten. Ich glaube, dass viele damals dachten, es wäre eine Gelegenheit für sie, ihren Mut zu beweisen. Man dachte, dass sich jetzt jeder bewähren kann und die Einheit würde im Geist der Zusammenarbeit eine Prüfung bestehen … man wusste, dass jetzt mit vielen Dingen ernst gemacht würde, die man die ganze Zeit nur geübt hatte. Selbstverständlich, zu dem allgemeinen Empfinden der Bevölkerung, dass es ein gerechter Krieg sei, kam noch das Bewusstsein hinzu, dass wir tatsächlich losziehen würden, um die hebräische Bevölkerung zu verteidigen.
Peter: Ein Verteidigungskrieg wird nicht danach gemessen, wer den ersten Schuss abfeuert. Das heißt, man kann tatsächlich in einen Verteidigungskrieg gehen und angreifen. Doch wenn man beide vergleicht, glaube ich, dass es diesmal noch mehr ein Verteidigungskrieg war als der Sinai-Feldzug. In beiden Fällen erkannte ich, dass es eine Grenze gibt, dass man nicht anders kann. Ein Staat, der keine Weltmacht ist, kann alles Mögliche machen … eine Rückzugsmöglichkeit hat er nicht … Meine Sorgen um die Konsequenzen waren sehr groß. Denn wir hörten in all den Jahren in der Armee von der Entwicklung der arabischen Staaten und dem Anwachsen ihres Waffenpotentials … Und es war uns klar, dass sie uns erwarteten.
Amram: Du sagtest vorhin, dass euer Vorgesetzter, vielleicht weil er aus dem Kibbuz kam, es fertigbrachte, den Leuten in der komplizierten Lage Sicherheit zu geben …
Peter: Schau, da ist zunächst die Tatsache, dass ihn alle Leute kennen. Sie sind schon zehn Jahre zusammen. Er hat sie noch nie angelogen … er spricht niemals mit Pathos, und er ist auch nicht so ein Typ, der nur Befehle erteilt …
Amram: Spürte man die Bereitschaft, ihm zu folgen?
Peter: Ja, ganz sicher. Doch hier war das nicht der springende Punkt. Es ging darum, den Leuten zu erklären, dass dieses Abwarten für uns wichtig wäre und nicht aus Schwäche käme, nicht ein Zeichen der Angst sei … Man durfte das Vertrauen der Leute zu sich selbst und zu ihren Führern nicht verspielen. Ich sah hier eine Gefahr. Und er hatte Erfolg.
Amram: Ich verstehe, dass in einer Einheit wie der euren, wo die meisten schon etwas älter sind, mit Familien und Kindern und einer Verantwortung für ihren Hof … gerade in so einer Situation sorgt man sich um den Preis … um den Preis des Krieges für jeden Einzelnen. Wie hat sich das in den Gesprächen ausgedrückt?
Peter: Dieses Problem hat sich gar nicht gestellt. Ich glaube, dass ich der Einzige war, der darüber nachdachte. Es kann sein, dass viele ähnlich empfanden, doch es nicht ausdrückten, denn es konnte als Furcht oder Angst oder Mutlosigkeit aufgenommen werden … Ich weiß nicht, wie ich mich genau ausdrücken soll … und ein junger Mensch würde sich bestimmt nicht so ausdrücken … es bedarf einer gewissen Reife und Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, um so eine Meinung zu äußern. Ich sagte den Leuten: »Ich fürchte den Preis. Ich habe keinen Zweifel, dass wir gewinnen werden, denn wir haben keine Wahl … wir müssen gewinnen.« Ich stand mit dieser Meinung fast ganz allein. Die anderen sagten, dass man in dieser Zeit alle persönlichen Probleme vergessen müsse … Ich bin sicher, dass bei ihnen eine gewisse Unehrlichkeit mitspielte. Später, in den Kämpfen – nach dem Schock – waren sie ehrlicher.
Shimon: Etwas anderes beeindruckte mich: Viele Bauern verließen ihre Felder vor der Ernte – haben tatsächlich ihre Arbeit mittendrin abgebrochen. Und meiner Meinung nach standen viele vor dem Bankrott wegen dieser zwei Wochen, die sie nicht zu Hause waren, und als niemand wusste, wann sie zurückkämen. Ich war zutiefst davon beeindruckt, dass man das gar nicht erwähnte. Niemand versuchte die anderen mit seinen persönlichen Problemen zu belästigen. Im Allgemeinen sind die Leute bei uns sehr offen, unterhalten sich viel … jeder sagt, was ihm in den Sinn kommt … und man unterhält sich über jedes Thema. Wirklich, manchmal werden die intimsten Dinge unter den Leuten besprochen, mir nichts, dir nichts … aber das Problem wurde überhaupt nicht erwähnt. Nicht weil man Angst hatte zu erzählen, was daheim los ist. Meiner Meinung nach hat es nicht interessiert. Es hat die Leute nicht beschäftigt. Wir waren so konzentriert auf das, was passierte, und zu allem bereit. So dass diese Sorgen wie in Vergessenheit gerieten.
Amram: Ich erinnere mich, dass du mir damals schriebst, man lebe nur den Augenblick, doch andererseits gebe es Sorgen wegen der Wirtschaft zu Hause – und du könntest nicht darüber sprechen, um nicht den Eindruck zu erwecken, du würdest an solche Probleme denken …
Shimon: Ich kann mich noch gut an den Brief erinnern. Ich glaube, wir waren schon eine Woche dort … das war das erste Mal, dass ich über dieses Thema ernsthaft nachdachte: Was passiert zu Hause? Und ich erinnere mich genau, dass ich dir schrieb, dass die Leute hier nicht ihre persönlichen Probleme erwähnen … Ich versuchte damals, mich zu erinnern, wer der Letzte war, der von zu Hause sprach. Ich konnte mich an keinen entsinnen! In dem Augenblick, als ich die Verbindung mit zu Hause aufnahm, fing ich an zu denken: Was ist mit dem Mais? Wurde man mit dem Säen fertig? Hat man auch ordentlich bewässert? Denn in der Nacht, in der ich abfuhr, sollte ich aufs Feld, die Hähne aufdrehen und mit der Bewässerung anfangen. Ich hinterließ einen Zettel für Uri, er sollte es für mich tun. Und vor meiner Abfahrt erzählte man mir, dass gerade ein Autobus vorbeifuhr, und man fragte nach Uris Adresse … Das heißt, ich wusste, dass auch Uri bis morgens nicht mehr zu Hause sein würde. Es blieb niemand von den Erwachsenen bei der Arbeit, und ich wusste nicht, ob man die Sprenganlagen in Gang setzte und das Feld bewässerte. Und erst an dem Tag begann ich zu spüren, wie ich mir wegen zu Hause Sorgen machte. Da schrieb ich auch, dass wir hier sitzen und unsere Zeit verschwenden – und in der Zwischenzeit verkommen die Felder daheim. Und da erwähnte ich auch, dass niemand bis jetzt darüber redete, was zu Hause passiert. Möglicherweise dachte ich auch, dass wenn wir da bewegungslos weiter sitzen blieben, die Leute ihre Schwierigkeiten daheim erzählen würden und vielleicht Urlaub verlangten.
Amram: Und als der Krieg ausbrach – was waren das für Gedanken, die bei der rasanten Entwicklung in den drei ersten Tagen auftauchten? Peter, hast du dich da an frühere Situationen erinnert … mit ähnlicher Lebensgefahr?
Peter: Nein … du bist mitten im Trubel … bei allen war so eine Begeisterung – nur raus und mitmachen … bloß nichts versäumen … natürlich ändert sich das, wenn die Ersten getroffen werden – dann wird das alles Zwang oder zur Notwendigkeit. Und das ändert die Atmosphäre völlig. Der erste Gefallene – ein Schlag! Ich behaupte nicht, dass so etwas die Moral schwächt oder die Fähigkeit des Einzelnen zu kämpfen, doch es verändert die Atmosphäre völlig: Die Leute überlegen mehr … weniger Begeisterung, weniger blinde Risikobereitschaft, alles etwas langsamer, etwas vorsichtiger, jede Bewegung wird vorher mehr auf Sicherheit hin geprüft – und das ist unbedingt erwünscht. Dieses Halleluja vor dem Kampf schien mir fehl am Platz. Auch wenn man beabsichtigt, einen Feind zu töten, gibt es keinen Grund zur Begeisterung und zur Freude …
Die Leute waren schon völlig erschlagen … sie kämpften den ganzen Tag … der Sprit und die Munition gingen aus … der Bataillonskommandeur bestand darauf, in der Nacht anzugreifen … es war nicht nachts … es war gegen Morgen … mit Müh und Not ließ man uns eine Stunde schlafen, tanken, und dann bewegten wir uns weiter. Es war ein heftiger Angriff, wie wir es geübt hatten, und alles klappte genauestens. Jeder wusste, was er tat.
Amram: Als ihr in Jordanien wart, habt ihr da Hass empfunden?
Peter: Nein. Auf den Golanhöhen ein wenig … nicht in Jordanien. Es war Kampf und Vormarsch und Müdigkeit und Arbeit. Der Feind war anonym. Doch auf den Höhen spürte ich schon ein Hassgefühl.
Amram: Was ist der Grund? Die Syrer im Allgemeinen, oder taten sie etwas?
Peter: Ja … die letzten Aktionen der Syrer. Doch ich will dir was sagen: Es ist bekannt, dass eine Massenpsychose ansteckt. Plötzlich liegt es in der Luft …
Amram: Gab es unter euch Soldaten, die zum ersten Mal dabei waren?
Peter: Ja, viele.
Amram: Wie haben sie auf das erste Gefecht ihres Lebens reagiert?
Peter: Wie alle. Es gab keinen Unterschied.
Shimon: Es gibt einen großen Unterschied zwischen verheirateten Leuten mit Kindern und den Jungen, die noch keine Kinder haben, die noch nicht geheiratet haben – ich erinnere mich, als wir unter Beschuss waren. Ich war in Deckung und dachte gerade, man müsse vorsichtig sein … wir waren stecken geblieben … wir saßen und warteten, wir sollten noch nicht weiter vorstoßen, und ich dachte, ich müsse eine bessere Deckung finden, um zurück, nach Hause zu kommen. Dass ich daheim eine Frau und Kinder habe. Ich erinnerte mich, dass ich daran dachte.
Amram: Und früher, als junger Soldat, dachtest du nicht so …
Shimon: Es hat mich viel weniger beschäftigt. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mir solche Sorgen um mich machte. Trotzdem muss ich sagen, dass ich das Gefühl hatte – und ich glaube, es hat alle gepackt –, man müsse alles hergeben, alles tun … Ich erinnere mich, als ich damals hinter dem Felsen lag und auf das Signal zum Angriff wartete, da dachte ich, dass ich, solange ich in Deckung liege, auf mich aufpassen muss, um nicht getroffen zu werden. Doch im Moment, in dem der Befehl gegeben wird, muss ich aufstehen und vorwärtsrennen, und dann ist es gleichgültig, was passiert. Und ich habe direkt gespürt … es war nachts … ich spürte eine innere Bereitschaft zu allem. In dem Augenblick, wenn von irgendwoher das Feuer eröffnet wird – losspringen, eine Handgranate werfen, einfach stürmen, ohne Bedenken. Und auch danach, als wir weiterzogen, das weiß ich noch, wusste ich, dass ich einerseits Frau und Kinder habe, doch andererseits wusste ich auch, dass dieser ganze Krieg für sie war, und wenn ich nicht zurückkehre, dann habe ich das Opfer für sie gebracht. Und all diese Dinge, die eigentlich wie Phrasen klingen oder Themen für Romane und Filme sind, wieder und wieder ging’s mir durch den Kopf, dass es unter Feuer in der Nacht bei mir wie ein Blitz einschlug. Ich dachte, dass man nicht aus Unvorsichtigkeit getroffen werden sollte. Doch wenn es notwendig ist, muss man was riskieren. Alle würden das tun. Ich würde von meinem Versteck aufspringen, um jemanden zu retten, und ich weiß, dass dieser andere es...