TEIL III: DIE MECHANISMEN DES MEDIENSKANDALS
11.DIE BLINDEN FLECKEN DER MACHT: ZUR ANALYSE DER MEDIALEN SKANDALMECHANISMEN
Kaum hatte das Magazin New Yorker den Artikel The Gray Zone auf seiner Website veröffentlicht, etablierte sich der Folterskandal im irakischen Gefängnis Abu Ghraib endgültig als handfester Politikskandal. Der investigative Journalist Seymour Hersh enthüllte in diesem Beitrag vom 14. Mai 2004, dass »harte Verhörtechniken« wie die in Abu Ghraib angewendeten Foltermethoden von oberster Stelle autorisiert worden waren. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Staatssekretär Stephen A. Cambone hatten Hersh zufolge bereits wenige Wochen nach dem 11. September 2001 ein streng geheimes Special Access Program (SAP) für den war on terror etabliert, das Kommandos aus US-Elitetruppen mit der Blanko-Vollmacht versah, ›hochrangige Ziele‹ zu töten oder gefangen zu nehmen und, wenn möglich, zu verhören. Diese »Kommandos überquerten ohne Visa Grenzen und konnten des Terrorismus Verdächtige verhören, die für den Transfer zu den Militäranlanagen in Guantánamo, Kuba, für zu wichtig gehalten wurden. Diese Verhöre führten sie in geheimen, über die ganze Welt verstreuten CIA-Haftzentren durch, in denen sie Gewalt anwendeten«, so Hersh (ebd., zit. n. HISCOTT 2004). Als US-Offizielle im Pentagon nach den Terroranschlägen auf die jordanische Botschaft und das UN-Hauptquartier im August 2003 erkannten, dass der Krieg gegen die Achse des Bösen schlecht lief, gingen Rumsfeld und Cambone noch einen Schritt weiter, berichtet Hersh (ebd.): »Sie weiteten den Umfang des SAP aus und brachten dessen unkonventionelle Methoden nach Abu Ghraib. Die Kommandos sollten im Irak operieren, wie sie es in Afghanistan getan hatten. Die männlichen Gefangenen sollten hart behandelt und sexueller Demütigung ausgesetzt werden können.«
Sofort nach der Veröffentlichung von Hershs Recherche startete die PR-Abteilung des US-Verteidigungsministeriums ihren medialen Gegenangriff: »Haarsträubend, verschwörerisch und voller Fehler und anonymer Spekulation« sei die Enthüllungsgeschichte des New Yorker, dementierte Pentagonsprecher Lawrence di Rita.
Doch auch dieser Versuch einer Gegenskandalisierung konnte nicht verhindern, dass der Folterskandal weltweit in den Medien neue Enthüllungen nach sich zog und Präsident Bush erstmals auch die konservative Elite der USA, die traditionelle Stammwählerschaft seiner Partei, beruhigen musste. Wie in allen Medienskandalen diskursivierte er erzählerisch die Einheit der Differenz von Gut und Böse, um mit der Heraufbeschwörung öffentlicher, sprich amerikanischer Moral und dem Schutz von Volk, Heimat, Christentum und Menschheit die Rechtsbrüche vergessen zu machen, für die seine Regierung verantwortlich war. Er erinnerte dazu an die Größen der modernen Republikanischen Partei, an Ronald Reagan, der mit der Iran-Contra-Affäre ebenfalls einen hausgemachten Skandal hatte, und an Barry Goldwater, den Vater des modernen Konservatismus, der 1964 den Einsatz von Nuklearwaffen gegen Vietnam forderte – mit der Begründung: »Extremismus in der Verteidigung der Freiheit ist kein Laster, Mäßigung im Streben nach Gerechtigkeit keine Tugend« (vgl. HISCOTT 2004). Letztlich handelte es sich bei Bushs Rhetorik um den Versuch, die Ideologie des Kalten Krieges für sein Skandalmanagement zu aktualisieren. »Die Konservativen«, so Bush bei einer Wahlkampf-Gala der American Conservative Union, der einflussreichsten Lobby-Organisation der Konservativen (zit. n. ebd.), »hatten Recht, dass der Kalte Krieg ein Wettkampf zwischen Gut und Böse war. Ich bin stolz darauf, diese Überzeugungen und Prinzipien voranzutreiben, wenn ich 2004 für die Wiederwahl kandidiere.«
Durch geschicktes Skandalmanagement gelang es der US-Regierung unter Bush die Enthüllungen über Abu Ghraib umzudeuten und die Mechanismen des Medienskandals mithilfe konservativer Medien für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Die New York Post, das führende Boulevardblatt von Rupert Murdochs konservativem Medienkonzern News Corporation, schürte ein Klima der Angst und publizierte zahlreiche Artikel mit als Volkes Stimme inszenierten Zitaten voller Gewaltlust und Folterphantasien, die von dem populärsten Kolumnisten des Massenblattes, Deroy Murdock, einer Art amerikanischer Franz Josef Wagner, im Anschluss quasi legitimiert wurden: »Es ist Krieg, nicht Schwanensee. Ja, Exzesse sollen bestraft werden und sie werden bestraft. Und wenn ba’athistische Handlanger und Killer von al-Qaida dadurch zum Reden gebracht werden, dass man sie in stockdunklen Räumen in Frauenunterhosen steckt, dann verzeiht mir bitte, dass ich nicht in Tränen ausbreche.«
Die amerikanische Variante der Notstandsgesetze, die Foltern und Töten billigen, wurde auch in anderen nationalen Medien verharmlost und befürwortet: William Kristol attackierte im neokonservativen Weekly Standard die »quietschenden« Kritiker der Folter mit dem Vorwurf »Bist du ein Mann oder eine Maus?« und in der National Review Online warnte Victor Davis Hanson mit Blick auf die Enthauptung Nicholas Bergs eindringlich vor einem atomaren Gesichtsverlust und dem radioaktiven Jihad.
Das Spiel mit der Angst vor dem Anderen ist seit jeher einer der gefährlichsten Mechanismen des Medienskandals und selten wurde dieses Spiel medial so perfide invertiert wie im Abu-Ghraib-Skandal. Die PR-Geschütze der Konservativen schossen sich auf alles ein, an dem sie und ihre Wähler schon immer Anstoß nahmen, und deuteten die Gewaltexzesse ›Einzelner‹ im Irak als Probleme der liberalen Gesellschaft. Die moralische Rechte verwies dementsprechend sofort »auf die üblichen, ihr genehmen Verdächtigen«, wie der amerikanische Medienbeobachter William Hiscott (2004) festhält: Gewalt in den Medien, Quentin Tarantinos Filme, Pornografie, Homosexuelle, die liberalen Medien, linke Akademiker, Journalisten, Videospiele oder die kranke Gesellschaft als solche trügen in den Augen diverser Kommentatoren die Schuld an den Folterexzessen.
Medienskandale sind symbolische Bürgerkriege, die mit dem Sprengsatz der Moral operieren. Dabei spielt es keine Rolle, wer wen für was skandalisiert. Wer sich die Skandale eingehender anschaut, die in der Geschichte der Menschheit dokumentiert sind, wird schnell feststellen, dass die erhobenen Vorwürfe relativ austauschbar sind: Mal werden die Homosexuellen im Kommunismus als Ausgeburten kapitalistischer Freizügigkeit bekämpft, mal werden sie im Kapitalismus als linke Vorboten des kommunistischen Staatsfeindes verfolgt, mal werden sie im Nationalsozialismus als Kranke vergast, um innerparteiliche Machtkämpfe zu vertuschen, und mal gelten sie eben als Ursache für die ›perversen Ausschreitungen‹ in Abu Ghraib. Ob politisch, religiös oder sexuell anders Denkende bzw. Praktizierende – der Medienskandal führt der Gesellschaft das Unmoralische vor Augen und bedient sich dabei komplexer Mechanismen zur narrativen Diskursivierung von Situationen, Aktionen oder Prozessen im sozialen System.
Der Schritt von der Skandalisierung des Anderen zu dessen Vernichtung aus kollektiver Notwehr ist symbolisch äußerst marginal.
Als Elaine Donnelly, Präsidentin des Center for Military Readiness, im Medienskandal Abu Ghraib öffentlich erklärte, dass das weltweit verbreitete Foto einer US-Soldatin, die einen nackten irakischen Gefangenen an der Leine hält, genau das sei, »wovon Feministinnen seit Jahren träumen«, mag das außen stehenden Beobachtern logisch inkonsistent erschienen sein. Im emotionalen Ausnahmezustand der USA aktualisierte sich in den blinden Flecken der Moral von Aussagen wie diesen jedoch ein Machtkampf zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Lagern, der vorerst (nicht nur in den USA) zu einem neuen Konservatismus geführt hat.
Hinter Medienskandalen wie dem Folterskandal Abu Ghraib verbergen sich effektive Mechanismen des sozialen Systems, die sich in einem komplexen Feld normativer, struktureller, funktionaler und rollenspezifischer Einflussfaktoren im Verlauf der Geschichte als diskursive Praktiken etabliert haben. In ihrer Funktion als moralische Diskurse lassen sich vor dem Hintergrund der empirischen und theoretischen Aspekte, die hier im zweiten Buchteil im spezifischen Entwicklungsprozess vom Skandal zum Medienskandal zusammengetragen wurden, fünf zentrale Thesen zu ihrer narrativen Diskursivierung durch den Journalismus, ihrer Entfaltung im sozialen System und die Rückwirkung dieser Wirkung auf den medialen Diskurs entwickeln, die zur weiteren Modellierung des Medienskandals elementar sind: Medienskandale (1) sind moralische Diskurse, (2) verlaufen in funktionalen Phasen, (3) gliedern sich in Episoden, (4) politisieren und (5) aktualisieren Macht.
(1) Medienskandale aktualisieren durch narrative Diskursivierungsstrategien den Primärcode der Moral als Einheit der Differenz von Gut und Böse in einem komplexen System aus Geschichten und Diskursen. In diesem moralischen Diskurs wird der Code durch Held und Antiheld personifiziert.
(2) Medienskandale lassen sich in funktionale Phasenverläufe mit spezifischen Funktionen gliedern. Medienskandale erzeugen durch die Inszenierung von Schlüsselereignissen relativ schlagartig Aufmerksamkeit und verbreiten sich viral in sehr vielen Medien, sodass sie für kurze Zeit eine sehr starke Präsenz in der Medienöffentlichkeit haben. Der Journalismus wird dann unter Verwendung narrativer Mittel in der Berichterstattung versuchen, dass Interesse der Leser aufrechtzuerhalten und zu steigern, sodass es zu einer Aufschwungphase kommt. Wenn in dieser Phase ein Missstand öffentlich bewiesen wird, so ist davon auszugehen, dass dem Skandalisierten innerhalb kurzer Zeit das Vertrauen entzogen wird. Mithilfe von spezifischen öffentlichen Entschuldigungs- und Demutsritualen als Instrumenten der Schuldminderung kann der Skandalisierte die auf die Klimax folgende Marginalisierungsphase verkürzen. Die Marginalisierungsphase wird im Fall eines öffentlichen Schuldspruchs jedoch die längste Phase sein, weil es relativ lange dauert, bis wieder soziales Kapital angereichert wird.
(3) Medienskandale gliedern sich in Episoden und folgen narrativen Mustern. Sie bestehen vermutlich nicht nur aus einer Haupthandlung, sondern aus einer Haupthandlung und mehreren Episoden, die eine wechselseitige Dynamik haben. Die Haupthandlung des Medienskandals wird in allen berichterstattenden Medien konstruiert. Die einzelnen Episoden werden hingegen nicht in allen Medien berichtet. In den Boulevardmedien werden die Episoden stärker ausgeprägt sein als in Nachrichtenmedien, jedoch lassen sie sich in allen Medien beobachten. Vor allem den Boulevardmedien kommt im Fall medialer Skandalisierung aufgrund ihres tendenziell eher narrativen Berichterstattungsmodus große Diskursmacht zu. Sie werden sich vor allem auf die private Dimension des Medienskandals konzentrieren und die Forderung nach Spannung und Unterhaltung für den ›human interest‹ erfüllen.
(4) Medienskandale politisieren, indem sie Bezüge zwischen den skandalisierten Ereignissen, Zuständen oder Handlungen zur Politik herstellen, um die öffentliche und politische Relevanz vermeintlicher Missstände und sich damit selbst zu legitimieren. Medienskandale sind damit autokonstitutive Kommunikationsprozesse. Medienjournalismus kann dieser Politisierungsstrategie des Medienskandals als Deeskalationsstrategie entgegenwirken, indem er den moralischen Diskurs in einen ethischen transformiert.
(5) Medienskandale aktualisieren als Beschleuniger im permanenten Umverteilungsprozess von sozialem und symbolischem Kapital in sozialen Systemen Macht. Durch ihre Deutungshoheit über den Primärcode des sozialen Systems und seiner Subsysteme konstruieren und kommunizieren sie im Fluss von Wissen durch die Zeit symbolische Ordnungen, in denen sich soziale, ökonomische, kulturelle und symbolische Macht aktualisiert und spiegelt.
Diese fünf Thesen über die blinden Flecken der Macht sollen anhand einer intensiven Rekonstruktion der narrativen Mechanismen und Verläufe von Medienskandalen diskutiert werden. Für die Rekonstruktion wurde bewusst ein Medienskandal gewählt, dessen Komplexität der Sprecher- und Erzählstrukturen im Gegensatz zu der des Folterskandal Abu Ghraib überschaubar ist. Der Fall spielt im Deutschland des Jahres 2003 und verhandelt einen Machtkampf, der für das gesellschaftliche Selbstverständnis der noch jungen Berliner Republik von zentraler Bedeutung ist.
11.1Darstellung und Problematisierung der exemplarischen Analyse
Medienskandale sind komplexe Mechanismen der gesellschaftlichen Sinnerzeugung, der Differenz- und Identitätsbildung in narrativen Strukturen und Phasen und sich teils ergänzenden, teils widersprechenden diskursiven Praktiken, wie die Konturierung des Untersuchungsgegenstands im theoriegenerierenden zweiten Teil dieser Arbeit gezeigt hat. Im Sinne des hier angestrebten Groundings (vgl. Kapitel 3.2) durch eine sozialwissenschaftliche Diskursanalyse mit kommunikationswissenschaftlichem Fokus werden im dritten Teil dieser Arbeit die Strukturen und Strategien medialer Skandalisierung im Wechselspiel mit dem sozialen System durch die Rekonstruktion eines Fallbeispiels erarbeitet. In diesem Kapitel werden dazu die Untersuchungsspezifika und die Untersuchungsstrategie vorgestellt.
Bei dem ausgewählten Fall handelt es sich um die mediale Skandalisierung des Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Präsidenten des European Jewish Congress und deutschen TV-Talkmasters Dr. Michel Friedman, der im Sommer 2003 wegen Kokainbesitzes angeklagt und bestraft wurde. Die Ermittlungen gegen Friedman, die zu dieser Vorstrafe geführt hatten, wurden zu einem Medienskandal, in dessen Folge der deutsche Prominente von allen Ämtern zurücktrat und sich vorerst aus der Öffentlichkeit zurückzog.
An dieser Stelle sollen noch nicht mehr Informationen zu dem Fall gegeben werden, weil die Herstellung dieses Fallwissens durch die Rekonstruktion des Diskurses erfolgen wird und es für den Zugang dieser Methode nicht wichtig ist, welche biografische ›Realität‹ dem Medienskandal zugrunde liegt (vgl. Kapitel 2.3), sondern wie durch diesen Medienskandal die ›Realität‹ einer spezifischen Figur Friedman und deren für den Fall spezifische Biografie als öffentliches Konstrukt inszeniert wurde.
Dieses Konstrukt ist für die wissenschaftliche Betrachtung aus drei Hauptgründen interessant: Erstens handelt es sich bei dem Drogenbesitz Friedmans um ein privates Vergehen, das auf den ersten Blick in keinerlei kausalem Zusammenhang mit der Möglichkeit der Amtsausübung des Skandalisierten steht und dessen narrative Inszenierung eine Legitimation für die öffentliche Sanktion des Skandalisierten herstellen muss, die sich nicht einfach mit der Sorge um das politische Gemeinwohl erklären lässt (wie das in Medienskandalen über Politiker häufig der Fall ist). Zweitens hat dieses private Vergehen auf den ersten Blick zwar keinerlei öffentliche Relevanz, beschäftigte aber als sogenannte ›Friedman-Affäre‹ im Sommer 2003 nicht nur Boulevard-, sondern auch Nachrichtenmedien (BURKHARDT 2005b, 2005c). Diese Beobachtung bietet sich für die Analyse der Thematisierungsstrategien an, mit deren Hilfe der Journalismus öffentliche Relevanz inszenieren konnte. Drittens wurde das private Vergehen in einem für das jüngere, deutsche Geschichtsverständnis zentralen Diskurs über Antisemitismus und Philosemitismus in der Berliner Republik kontextualisiert, der sich von der ›Goldhagen-Debatte‹ als öffentlicher Kontroverse um die Bewertung des Antisemitismus und deutscher Schuld im Nationalsozialismus über die ›Walser-Debatte‹ und den ersten ›Antisemitismusstreit‹, die erinnerungspolitische Debatte um das ›Denkmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden Europas‹ im Deutschen Bundestag, die Judenfeindlichkeit im Rahmen der Debatte über materielle Kompensationen von der Zwangsarbeiter-›Entschädigung‹ und der ›Finkelstein-Kontroverse‹ bis hin zur Aufarbeitung der FDP-Affäre und des Bundestagswahlkampfes 2002 spannte und in dem Freitod Möllemanns wenige Tage vor der Skandalisierung Friedmans kulminierte.
Diese Kontextualisierung verweist auf das Zusammenspiel zwischen Diskursen und Geschichten, sodass sich eine Analyse des Medienskandals um Michel Friedman als Teil übergeordneter Sinnerzählungen anbietet, die spezifische Folgen für die involvierten Aktanten und das soziale System hat. Medienskandale sprechen nicht für sich selbst, sondern werden erst durch Aktanten lebendig. Es gilt daher zu analysieren, welche Aktanten welche ...