Familienglück
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Familienglück

Ein Roman

  1. 173 Seiten
  2. German
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Familienglück

Ein Roman

Über dieses Buch

Die junge Mascha heiratet nach dem Tode ihrer Mutter ihren älteren Vormund Sergeij. Gemeinsam beziehen sie ein Landgut. Doch schon bald beginnt sich Mascha zu langweilen. Sie will zurück nach Petersburg, wo sie sich dem Rausch der Bälle und des Adels hingeben kann. Ihre Vergnügungssucht belastet die Ehe zunehmend. Ein fesselnder Roman, der entgegen Tolstois manchmal moralisierenden Ausführungen, beim Leser Mitleiteid mit der lebenshungrigen Heldin weckt.

Null Papier Verlag

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Information

Zweiter Teil

1.

Tage, Wo­chen, zwei gan­ze Mo­na­te ein­sa­men Land­le­bens ver­gin­gen un­merk­lich, wie es uns da­mals schi­en; und doch hät­ten die Emp­fin­dun­gen, die Auf­re­gun­gen und das Glück die­ser zwei Mo­na­te aus­ge­reicht, um ein gan­zes Le­ben aus­zu­fül­len. Un­se­re Träu­me von der Ge­stal­tung un­se­rer Zu­kunft, un­se­res Le­bens im Dor­fe gin­gen durch­aus nicht auf die Wei­se in Er­fül­lung, wie wir es er­war­tet hat­ten. Doch blieb der Reiz un­se­res Le­bens in nichts hin­ter un­se­ren Träu­men zu­rück. Von je­ner erns­ten Ar­beit, Pf­licht­er­fül­lung und Auf­op­fe­rung für die an­dern, die mir in mei­ner Braut­zeit als mei­ne zu­künf­ti­ge Auf­ga­be vor­ge­schwebt hat­te, war nicht mehr die Rede; statt des­sen er­füll­te egois­ti­sche Ver­liebt­heit, der Wunsch, ge­hät­schelt zu wer­den, eine ewi­ge, grund­lo­se Fröh­lich­keit und Gleich­gül­tig­keit ge­gen al­les an­de­re, was es sonst noch auf der Welt gab, un­ser Le­ben. Er ließ mich wohl zu­wei­len al­lein, um in sei­nem Ka­bi­nett zu ar­bei­ten, fuhr in Ge­schäf­ten nach der Stadt und sah in der Wirt­schaft nach dem Rech­ten; doch sah ich, wie schwer es ihm je­des­mal fiel, sich von mir zu tren­nen. Er ge­stand mir dann spä­ter, daß ihm al­les in der Welt, was nicht auf mich Be­zug hat­te, so über­flüs­sig und nich­tig er­schi­en, daß er nicht be­grei­fen konn­te, wie man sich über­haupt da­mit be­fas­sen kön­ne. Und auch ich emp­fand ganz eben­so wie er. Ich las, be­schäf­tig­te mich mit Mu­sik, leis­te­te der Mama Ge­sell­schaft und blick­te auch ein­mal in die Schu­le hin­ein; doch tat ich das al­les nur dar­um, weil es ent­we­der auf ihn Be­zug hat­te, oder weil er es gern sah, daß ich mich da­mit be­faß­te; so­bald ich an ir­gend et­was ge­hen soll­te, das nicht mit ihm im Zu­sam­men­hang stand, san­ken mei­ne Arme schlaff her­ab, und der Ge­dan­ke, daß es au­ßer ihm noch ir­gend et­was an­de­res auf der Welt gebe, er­schi­en mir ge­ra­de­zu ko­misch. Vi­el­leicht war das ein selbsti­sches, un­ed­les Ge­fühl; aber die­ses Ge­fühl mach­te mich glück­lich und er­hob mich hoch über alle Welt. Nur er al­lein exis­tier­te für mich auf der Welt, ihn hielt ich für den schöns­ten, den treff­lichs­ten Men­schen; dar­um konn­te ich nicht einen Tag für ir­gend et­was an­de­res le­ben als für ihn und ver­wand­te alle mei­ne Kräf­te ein­zig dar­auf, in sei­nen Au­gen das zu sein, wo­für er mich hielt. And­rer­seits hielt auch er mich für die schöns­te und bes­te Frau in der Welt, für einen Aus­bund al­ler Tu­gen­den, und ich gab mir alle Mühe, in den Au­gen des voll­kom­mens­ten und bes­ten al­ler Men­schen solch ein Ide­al ei­ner Frau zu sein.
Ei­nes Ta­ges trat er zu mir in mein Zim­mer, als ich eben be­te­te. Ich sah ihn an und fuhr fort zu be­ten. Er nahm am Ti­sche Platz, um mich nicht zu stö­ren, und schlug ein Buch auf. Es war mir je­doch, als schaue er mich an, und ich sah mich nach ihm um. Er lä­chel­te. Auch ich muß­te la­chen und konn­te nicht be­ten.
»Hast du schon ge­be­tet?«, frag­te ich ihn.
»Ja. Laß dich nicht stö­ren, ich gehe gleich fort.«
»Ich will doch hof­fen, daß du im­mer be­test?«
Er gab kei­ne Ant­wort und woll­te ge­hen, doch ich hielt ihn zu­rück.
»Tu es um mei­net­wil­len, mein Teu­rer, bete mit mir!«
Er trat ne­ben mich, ließ un­be­hol­fen die Arme sin­ken und be­gann mit erns­tem Ge­sich­te, da und dort sto­ckend, zu le­sen. Von Zeit zu Zeit wand­te er sich nach mir um, als su­che er Zu­stim­mung und Hil­fe auf mei­nem Ge­sich­te.
Als er zu Ende war, um­arm­te ich ihn la­chend.
»Du machst aus mir al­les, was du willst! Mir ist, als sei ich wie­der zehn Jah­re alt …« sag­te er er­rö­tend und küß­te mir die Hän­de.
Un­ser Haus war eins je­ner al­ten Land­häu­ser, in de­nen meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen der­sel­ben Fa­mi­lie nach­ein­an­der in ge­gen­sei­ti­ger Ach­tung und Lie­be ge­wohnt ha­ben. Al­les in die­sem Hau­se pre­dig­te gleich­sam eine eh­ren­wer­te, bra­ve Fa­mi­li­en­tra­di­ti­on, die von dem Au­gen­blick an, da ich es be­tre­ten hat­te, auch die mei­ni­ge wur­de. Die Ein­rich­tung des Hau­ses und das gan­ze Haus­re­gi­ment wur­de von Tat­ja­na Sem­jo­now­na ganz im al­ten Stil ge­hal­ten. Man konn­te nicht be­haup­ten, daß al­les ele­gant und schön sei; doch von der Be­die­nung bis zu den Mö­beln und Mahl­zei­ten war al­les reich­lich, al­les sau­ber, ge­die­gen und ak­ku­rat und flö­ßte Re­spekt ein. Im Empfangs­zim­mer wa­ren die Mö­bel sym­me­trisch auf­ge­stellt, an den Wän­den hin­gen Por­träts, und den Fuß­bo­den be­deck­ten Tep­pi­che und Läu­fer aus bunt­ge­streif­tem Hand­ge­we­be, die im Hau­se an­ge­fer­tigt wa­ren. Im »Di­wan­zim­mer« stand ein al­ter Flü­gel, Chif­fon­nie­ren von ver­schie­de­ner Ge­stalt, Di­wa­ne und Tisch­chen mit Mes­sing­be­schlä­gen und ein­ge­leg­ten Or­na­men­ten. In mei­nem Bou­doir, das Tat­ja­na Sem­jo­now­na selbst mit be­son­de­rer Sorg­falt ein­ge­rich­tet hat­te, stan­den die bes­ten Mö­bel aus al­len Zeit­al­tern und Stil­pe­ri­oden, dar­un­ter ein al­ter Tru­meau, dem ge­gen­über ich an­fangs eine ge­wis­se Schüch­tern­heit emp­fand, der mir je­doch spä­ter, recht wie ein al­ter Freund, lieb und teu­er wur­de.
Von Tat­ja­na Sem­jo­now­na hör­te man so gut wie gar nichts im Hau­se, doch ging al­les so re­gel­mä­ßig wie eine auf­ge­zo­ge­ne Uhr sei­nen Gang. Wohl gab es eine gan­ze An­zahl über­flüs­si­ger Leu­te im Hau­se, aber sie alle schie­nen stolz auf ihre Stel­lung, zit­ter­ten vor der al­ten Her­rin, sa­hen mich und mei­nen Mann mit freund­li­cher Gön­ner­mie­ne ein we­nig von oben her­ab an und ver­rich­te­ten im üb­ri­gen, wie mir schi­en, ih­ren Dienst mit ganz be­son­de­rem Ver­gnü­gen. Tat­ja­na Sem­jo­now­na hielt das Knar­ren der Soh­len und das Pol­tern der Ab­sät­ze für das un­an­ge­nehms­te Ding von der Welt, und so muß­te al­les im Hau­se wei­ches Schuh­werk ohne Ab­sät­ze tra­gen. Re­gel­mä­ßig an je­dem Sonn­abend wur­den im Hau­se die Fuß­bö­den ge­scheu­ert und die Tep­pi­che ge­klopft, an je­dem ers­ten Tage des Mo­nats wur­de Got­tes­dienst ab­ge­hal­ten und eine Was­ser­wei­he vor­ge­nom­men; am Na­mens­ta­ge Tat­ja­na Sem­jo­now­nas, ih­res Soh­nes und jetzt im Herbst zum ers­ten­mal auch an dem mei­ni­gen wur­de der gan­zen Nach­bar­schaft ein Fest­mahl ge­ge­ben. So war es im­mer ge­hal­ten wor­den, so­weit Tat­ja­na Sem­jo­now­na zu­rück­den­ken konn­te. Mein Mann misch­te sich nicht in die An­ge­le­gen­hei­ten des Haus­we­sens, er be­schäf­tig­te sich nur mit der Feld­wirt­schaft und den Bau­ern, die ihn stark in An­spruch nah­men. Er stand stets, auch im Win­ter, sehr früh auf und war längst fort, wenn ich er­wach­te. Zum Tee, den wir für uns al­lein ein­nah­men, kehr­te er ge­wöhn­lich zu­rück; er war dann fast im­mer, nach all den Sor­gen und Unan­nehm­lich­kei­ten in der Wirt­schaft, in je­ner ganz be­son­ders fröh­li­chen Stim­mung, die wir »him­mel­hoch jauch­zend« zu nen­nen pfleg­ten. Häu­fig bat ich ihn, mir zu er­zäh­len, was er am Mor­gen ge­trie­ben habe, und er re­de­te dann sol­chen Un­sinn zu­sam­men, daß wir bei­de vor La­chen ver­gin­gen; zu­wei­len je­doch be­stand ich dar­auf, daß er mir ernst­haft Be­richt er­stat­te, und das tat er dann auch mit sehr ernst­haf­ter Mie­ne. Ich sah ihm in die Au­gen, sah auf sei­ne Lip­pen, die sich be­weg­ten, und ver­stand nichts, son­dern freu­te mich nur, daß ich ihn sah und sei­ne Stim­me hör­te.
»Nun, was habe ich also er­zählt? Wie­der­hol's ein­mal!«, sag­te er. Ich konn­te es na­tür­lich nicht wie­der­ho­len und fand es über­aus drol­lig, daß er mit mir nicht von sich selbst und von mir sprach, son­dern von ir­gend et­was an­de­rem, als wäre nicht al­les, was au­ßer uns exis­tier­te, höchst über­flüs­sig und gleich­gül­tig. Erst viel spä­ter be­gann ich sei­ne Sor­gen zu ver­ste­hen und sie zu tei­len. Tat­ja­na Sem­jo­now­na sa­hen wir erst beim Mit­ta­ges­sen, sie trank den Tee in ih­rem Zim­mer und ließ uns den Mor­gen­gruß durch ihre Send­bo­ten ent­bie­ten. In un­se­rer när­risch glück­li­chen klei­nen Welt klang die Stim­me aus ih­rem wür­de­voll fei­er­li­chen Win­kel so selt­sam, daß ich oft nicht an mich hal­ten konn­te, son­dern laut her­aus­platz­te, wenn ihre Kam­mer­frau, die Hän­de über­ein­an­der le­gend, uns in ge­mes­se­nem Tone er­öff­ne­te, Tat­ja­na Sem­jo­now­na las­se fra­gen, ob wir nach dem gest­ri­gen Spa­zier­gan­ge ge­schla­fen hät­ten, und las­se uns mit­tei­len, sie habe wäh­rend der gan­zen Nacht Sti­che in der Sei­te ge­habt, auch habe ir­gend­ein dum­mer Hund im Dor­fe in ei­nem fort ge­bellt und sie im Schlaf be­hin­dert. Sie las­se fer­ner fra­gen, wie uns dies­mal das Früh­stücks­ge­bäck ge­schmeckt habe, das, wie sie uns sa­gen las­se, nicht von dem Haus­bä­cker Ta­ras, son­dern zum ers­ten­mal pro­be­wei­se von Ni­ko­la­scha ge­ba­cken sei, der bis auf die et­was zu scharf ge­ra­te­nen Zwiebä­cke sei­ne Sa­che gut ge­macht und na­ment­lich mit den Bre­zeln Ehre ein­ge­legt habe.
Bis zum Mit­ta­ges­sen war ich nur we­nig in Ge­sell­schaft mei­nes Man­nes. Ich spiel­te oder las für mich al­lein, wäh­rend er schrieb oder wie­der aus­ge­hen muß­te; beim Mit­ta­ges­sen je­doch, das um vier Uhr ein­ge­nom­men wur­de, fan­den wir uns alle zu­sam­men: wir tra­fen uns im Empfangs­zim­mer, Mama kam aus ih­rem Ge­mach her­an­ge­schwebt, und auch die zwei oder drei ver­arm­ten Edel­fräu­lein, die stets im Hau­se leb­ten, fan­den sich ein. Je­den Tag führ­te mein Mann nach al­ter Ge­wohn­heit die Mama zu Ti­sche, doch be­stand sie dar­auf, daß er mir den an­dern Arm rei­che, und dann gab es je­des­mal ein Pres­sen und Drän­gen in der Tür. Bei Tisch führ­te na­tür­lich Mama den Vor­sitz, und die Un­ter­hal­tung hat­te einen höchst an­stän­di­gen, ge­setz­ten, ein we­nig fei­er­li­chen An­strich, der durch die mehr zwang­lo­sen Ge­sprä­che zwi­schen mir und mei­nem Man­ne in an­ge­neh­mer Wei­se ge­mil­dert wur­de. Zwi­schen der Mut­ter und dem Soh­ne fan­den bis­wei­len klei­ne Plän­ke­lei­en und Ne­cke­rei­en statt, die ich gern hat­te, da die zärt­li­che, star­ke Lie­be, die zwi­schen bei­den be­stand, da­bei be­son­ders deut­lich zu­ta­ge trat. Nach dem Mit­ta­ges­sen setz­te sich Mama in den großen Ses­sel im Empfangs­zim­mer und rieb Ta­bak oder schnitt die neu ein­ge­gan­ge­nen Bü­cher auf, wäh­rend wir ent­we­der ir­gend et­was laut la­sen oder ins Di­wan­zim­mer gin­gen, um auf dem al­ten Kla­vier zu mu­si­zie­ren.
Wir la­sen in die­ser Zeit viel zu­sam­men, den liebs­ten und schöns­ten Ge­nuß je­doch gab uns die Mu­sik, die im­mer neue Sai­ten in un­se­ren See­len an­schlug und dazu bei­trug, daß wir ein­an­der von im­mer neu­en Sei­ten ken­nen lern­ten. Wenn ich sei­ne Lieb­lings­stücke spiel­te, setz­te er sich auf einen ent­fern­ten Di­wan, wo ich ihn fast gar nicht se­hen konn­te, und in na­tür­li­chem Zart­ge­fühl be­müh­te er sich, den Ein­druck, den die Mu­sik auf ihn mach­te, vor mir zu ver­ber­gen; oft je­doch, wenn er es am we­nigs­ten er­war­te­te, stand ich vom Kla­vier auf, trat rasch zu ihm hin und konn­te dann noch die Spu­ren der Er­re­gung in sei­nem Ge­sich­te, den un­ge­wohn­ten Glanz und den feuch­ten Schim­mer sei­ner Au­gen ge­wah­ren, die er ver­geb­lich von mir ab­zu­wen­den such­te. Mama ver­spür­te häu­fig Lust, sich im Di­wan­zim­mer nach uns um­zu­se­hen, doch fürch­te­te sie wohl, uns läs­tig zu fal­len, und schritt nur so ge­le­gent­lich mit er­zwun­gen gleich­gül­ti­ger Mie­ne hin­durch, als gin­ge sie nach ih­rem Zim­mer; ich wuß­te in­des, daß sie dort nichts wei­ter zu tun hat­te, und daß sie auch gleich wie­der zu­rück­kom­men wür­de. Des Abends ser­vier­te ich den Tee im großen Sa­lon, wo sich dann wie­der alle Haus­ge­nos­sen zu­sam­men­fan­den. Die­se fei­er­li­chen Sit­zun­gen vor dem spie­gelblan­ken Sa­mo­war nebst der Ver­tei­lung der Glä­ser und Tas­sen setz­ten mich lan­ge Zeit in Ver­wir­rung. Es schi­en mir im­mer, als sei ich die­ser Ehre noch nicht recht wür­dig, als sei ich noch zu jung und zu leicht­fer­tig, um den Hahn ei­nes so ge­wal­ti­gen Sa­mo­wars zu öff­nen, um die Glä­ser dem Die­ner Ni­ki­ta auf das Tee­brett zu stel­len und da­bei zu sa­gen: »Für Pe­ter Iwa­no­witsch, für Ma­ria Mi­nit­sch­na«, um zu fra­gen: »Ist es auch süß ge­nug?«, und für die alte Kin­der­frau und die sonst be­vor­zug­ten Do­mes­ti­ken die er­for­der­li­chen Zucker­stück­chen zu­rück­zu­le­gen.
»Sehr gut, aus­ge­zeich­net!«, sag­te häu­fig mein Mann – »ganz wie eine Er­wach­se­ne!« Und das stei­ger­te noch mei­ne Ver­le­gen­heit.
Nach dem Tee leg­te Mama Pa­ti­ence oder ließ sich von Ma­ria Mi­nit­sch­na die Kar­ten le­gen; dann küß­te und be­kreuz­te sie uns bei­de, und wir be­ga­ben uns nach un­se­ren Zim­mern. Zu­meist je­doch sa­ßen wir zu zwei­en noch bis nach Mit­ter­nacht auf, und dies war un­se­re schöns­te und köst­lichs­te Zeit. Er er­zähl­te mir von sei­ner Ver­gan­gen­heit, wir mach­ten Plä­ne, phi­lo­so­phier­ten zu­wei­len und such­ten da­bei so lei­se wie mög­lich zu spre­chen, da­mit man uns oben nicht hör­te und etwa gar Tat­ja­na Sem­jo­now­na Mel­dung mach­te, die dar­auf be­stand, daß wir zei­tig schla­fen gin­gen. Mit­un­ter be­ka­men wir noch ein­mal Hun­ger, schli­chen uns lei­se nach dem Bü­fett, be­ka­men durch Ni­ki­tas Pro­tek­ti­on einen kal­ten Im­biß und ver­zehr­ten ihn beim Schein ei­ner ein­zi­gen Ker­ze in mei­nem Zim­mer. Wir leb­ten bei­de wie Frem­de in die­sem großen al­ten Hau­se, über dem der ge­stren­ge Geist der al­ten Zeit und Tat­ja­na Sem­jo­now­nas wal­te­te. Nicht nur ihre Per­son, son­dern auch die Die­ner­schaft, die ade­li­gen al­ten Jung­fern, die Mö­bel, die Ge­mäl­de flö­ßten mir Ehr­furcht ein, ei­ni­ge wohl auch Furcht und das ge­hei­me Be­wußt­sein, daß wir bei­de hier doch nicht ganz an un­se­rem Plat­ze sei­en und gar vor­sich­tig und rück­sichts­voll auf­tre­ten müß­ten. Wenn ich mich jetzt all die­ser Din­ge er­in­ne­re, sage ich mir wohl, daß vie­les, na­ment­lich die­se ein­zwän­gen­de, un­ab­än­der­li­che Haus­ord­nung und die­se Un­men­ge von mü­ßi­gen, neu­gie­ri­gen Leu­ten im Hau­se et­was Be­drücken­des und Un­be­hag­li­ches hat­te; da­mals je­doch er­höh­te und be­leb­te ge­ra­de die­ser äu­ßer­li­che Zwang un­se­re ge­gen­sei­ti­ge Lie­be. Keins von bei­den ließ mer­ken, daß ihm an die­sem Zu­stan­de ir­gend et­was miß­fal­le. Mein Mann ging dar­in so weit, daß er die­sen Din­gen, selbst wo sie gar zu auf­dring­lich wur­den, lie­ber aus dem Wege ging, statt sich ge­gen sie auf­zu­leh­nen. Täg­lich nach dem Mit­ta­ges­sen pfleg­te zum Bei­spiel Ma­mas La­kai, Dmi­trij Si­do­row, der gern eine gute Pfei­fe Ta­bak rauch­te, nach dem Ka­bi­nett mei­nes Man­nes zu ge­hen, um sich dort aus dem Ta­bak­kas­ten mit dem nö­ti­gen Ta­bak zu ver­se­hen; wir be­ob­ach­te­ten ihn vom Di­wan­zim­mer aus, und man muß es ge­se­hen ha­ben, wie mein Mann, eine ko­misch ängst­li­che Mie­ne auf­set­zend, auf den Ze­hen zu mir kam und blin­zelnd auf Dmi­trij Si­do­row zeig­te, der kei­ne Ah­nung da­von hat­te, daß wir ihn sa­hen. Und wenn dann der La­kai, ohne uns be­merkt zu ha­ben, wie­der zu­rück­ging, wuß­te mein Mann vor lau­ter Freu­de dar­über, daß al­les glück­lich ab­ge­lau­fen, nichts wei­ter zu tun, als, wie bei je­der an­dern Ge­le­gen­heit, mich »sein präch­ti­ges Weib­chen« zu nen­nen und mich zu küs­sen. Bis­wei­len aber miß­fiel mir doch die­se Ruhe, die­se all­zu­große Nach­sicht und Gleich­gül­tig­keit ge­gen al­les, und ohne zu mer­ken, daß ich in die­ser Hin­sicht ei­gent­lich ganz eben­so war wie er, be­trach­te­te ich im stil­len doch sein Ver­hal­ten als Schwä­che. »Ganz wie ein un­mün­di­ges Kind, das sei­nen Wil­len nicht zu äu­ßern wagt!«, dach­te ich für mich.
»Ach, mei­ne Lie­be«, ant­wor­te­te er mir, als ich ihm ein­mal sag­te, daß ich mich über sei­ne Schwä­che wun­de­re – »darf man denn mit ir­gend et­was un­zu­frie­den sein, wenn man so glück­lich ist wie ich? Es ist weit leich­ter, selbst nach­zu­ge­ben, als an­de­re zum Nach­ge­ben zwin­gen zu wol­len, das ist längst mei­ne Über­zeu­gung; es gibt ein­fach kei­ne Lage im Le­ben, in der der Mensch nicht glück­lich zu sein ver­möch­te. Uns ist doch so wohl zu­mu­te! Ich kann ein­fach nicht böse wer­den: es gibt jetzt für mich nichts Bö­ses, es gibt nur noch Din­ge, die ich be­dau­re, oder über die ich la­che. Mein Grund­satz ist: das Bes­se­re ist der Feind des Gu­ten. Glaubst du wohl, daß, wenn die Klin­gel geht, wenn ein Brief kommt, oder selbst wenn ich er­wa­che, mir angst und ban­ge wird, es könn­te et­was ein­tre­ten, das an un­se­rem jet­zi­gen Le­ben et­was än­dert? Denn bes­ser als jetzt kann es doch nie­mals wer­den!«
Ich glaub­te ihm, ver­stand ihn je­doch nicht ganz: auch mir war ja sehr wohl zu­mu­te, doch schi­en es mir, daß es so und nicht an­ders sein müs­se, daß es auch mit an­dern Men­schen so sei wie mit uns, und daß es dort, ir­gend­wo, noch eine an­de­re Art von Glück gebe, das zwar nicht bes­ser sei als das uns­ri­ge, aber doch eben »an­ders«.
So wa­ren die zwei Mo­na­te hin­ge­gan­gen; der Win­ter kam mit sei­nen Frös­ten und Schnee­stür­men, und ob­schon mein Mann stets bei mir war, be­gann ich mich doch ver­ein­samt zu füh­len – be­gann ich zu füh­len, daß das Le­ben sich wie­der­hol­te, daß we­der in mir noch in ihm ir­gend et­was Neu­es zu­ta­ge trat, daß wir viel­mehr im­mer wie­der zum al­ten Aus­gangs­punkt zu­rück­kehr­ten. Er be­gann sich wie­der mehr als frü­her mit der Wirt­schaft zu be­fas­sen, ohne mich in sei­ne Sor­gen ein­zu­wei­hen, und es schi­en mir wie­der, daß in sei­ner See­le eine be­son­de­re Welt exis­tie­re, in die er mich kei­nen Blick tun ließ. Sei­ne be­stän­di­ge Ruhe reiz­te mich. Ich lieb­te ihn nicht we­ni­ger als frü­her und fühl­te mich durch sei­ne Lie­be noch eben­so be­glückt wie im An­fang; aber mei­ne Lie­be war gleich­sam ste­hen ge­blie­ben und wuchs nicht wei­ter, und ne­ben der Lie­be be­gann sich ein neu­es Ge­fühl der Un­ru­he in mei­ne See­le ein­zu­schlei­chen. Es war mir nicht mehr ge­nug, ihn nur so wei­ter­zu­lie­ben, nach­dem ich das Glück ge­kos­tet hat­te, das dar­in lag, ihn lieb­zu­ge­win­nen. Ich ver­lang­te Be­we­gung und nicht die­ses ru­hi­ge Da­hin­flie­ßen des Le­bens. Ich sehn­te mich nach Auf­re­gung, nach Ge­fah­ren, nach Op­fern, die ich mei­nem Ge­fühl zu­lie­be brin­gen könn­te. In mir schlum­mer­te ein Über­fluß an Kraft, der in un­se­rem ru­hi­gen Da­sein kei­ne Be­tä­ti­gung fand. An­wand­lun­gen von Schwer­mut ka­men über mich, die ich, weil ich sie für et­was Un­rech­tes hielt, ihm zu ver­heim­li­chen such­te, und dann folg­ten wie­der Aus­brü­che von Zärt­lich­keit und Aus­ge­las­sen­heit, die ihn er­schreck­ten. Er hat­te die­sen Wan­del mei­ner Stim­mung noch eher be­merkt als ich selbst und mir vor­ge­schla­gen, wir soll­ten für den Win­ter nach der Stadt zie­hen; doch ich hat­te ihn ge­be­ten, da­von ab­zu­se­hen und nichts an un­se­rer Le­bens­wei­se zu än­dern, nicht un­ser Glück zu stö­ren. Ich war in der Tat ja auch glück­lich, doch mich quäl­te der Um­stand, daß die­ses Glück mich so gar kei­ne Mühe, gar kein Op­fer kos­te­te, wäh­rend der Drang nach Op­fern und Mü­hen mich er­füll­te. Ich lieb­te ihn, und ich sah, daß ich ihm al­les war; ich woll­te je­doch, daß alle Welt un­se­re Lie­be se­hen, daß man mich hin­dern soll­te, ihn zu lie­ben, und daß ich Ge­le­gen­heit fän­de, zu zei­gen, daß ich trotz al­le­dem ihn lieb­te. Mein Ver­stand und mein Ge­fühl war wohl vollauf in An...

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