
- 1,002 Seiten
- German
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eBook - ePub
Der Jüngling
Über dieses Buch
Arkadij Dolgorukij, ein zorniger junger Mann, unehelicher Sohn eines erfolglosen Gutsbesitzers, will nach oben.
Wie schon in "Der Idiot" macht Dostojewski auch in "Der Jüngling" einen gesellschaftlichen Außenseiter zur Hauptperson. Arkadij steckt voller spinnerter "Ideen", die er alle enthusiastisch versucht umzusetzen, nur um doch immer wieder zu scheitern.
Seine Reise durch das verkommene, aus den Fugen geratene St. Petersburg führt zur Katastrophe.
Null Papier Verlag
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Information
Erstes Kapitel
I
Jetzt von etwas ganz anderem.
Ich kündige immer an: »von etwas anderem, von etwas anderem«, fahre aber dennoch fort, immer nur von mir selbst zu reden. Dabei habe ich schon tausendmal erklärt, daß ich durchaus nicht beabsichtige, mich selbst zu schildern, und ich hatte mir auch, als ich diese Aufzeichnungen begann, fest vorgenommen, das nicht zu tun: ich weiß recht wohl, daß der Leser sich für meine Person überhaupt nicht interessiert. Ich schildere – und das ist mein Wille und meine Absicht – andere Leute und nicht mich selbst, und wenn meine eigene Person doch immer wieder in den Vordergrund tritt, so ist das eben nur ein bedauerlicher Fehler, den ich trotz meines lebhaften Wunsches nicht vermeiden kann. Besonders ärgere ich mich darüber, daß ich durch den Eifer, mit dem ich meine eigenen Erlebnisse schildere, möglicherweise den Glauben erwecke, ich sei jetzt noch derselbe, der ich damals war. Der Leser erinnert sich übrigens, daß ich schon wiederholt ausgerufen habe: »Oh, könnte ich doch alles, was früher geschehen ist, rückgängig machen und alles ganz von neuem anfangen!« Einen solchen Wunsch vermöchte ich nicht auszusprechen, wenn ich nicht eine gründliche Umwandlung durchgemacht hätte und ein ganz anderer Mensch geworden wäre. Das ist ganz klar; und wenn sich jemand nur vorstellen könnte, wie widerwärtig mir all diese Entschuldigungen und Vorreden sind, die ich mich genötigt sehe alle Augenblicke mitten in meine Aufzeichnungen einzuschalten!
Zur Sache!
Nach neuntägiger Bewußtlosigkeit erwachte ich damals wie neugeboren, aber gebessert hatte ich mich dadurch nicht; meine Wiedergeburt war übrigens nur recht mangelhaft, wenn man den Ausdruck im weiteren Sinne nimmt, und wenn sie jetzt stattfände, so würde sie vielleicht anders aussehen. Meine Idee, das heißt die in mir vorhandene Gefühlsrichtung, bestand (wie schon tausendmal vorher) nur darin, von ihnen ganz wegzugehen, aber nunmehr unbedingt und nicht so wie früher, wo ich mir diese Aufgabe tausendmal gestellt hatte und sie doch nie hatte lösen können. Rächen wollte ich mich an niemandem – darauf gebe ich mein Ehrenwort –, obgleich ich von allen beleidigt war. Ich beabsichtigte, ohne Groll und ohne Verwünschungen wegzugehen; wonach es mich verlangte, das war eigene Kraft, wirkliche Kraft, die mich von ihnen und von jedermann in der ganzen Welt unabhängig machte; ich meinerseits hatte mich bereits mit allem auf der Welt beinahe ausgesöhnt! Ich schreibe diese meine damalige Träumerei nicht als einen Gedanken nieder, den ich mir zurechtgelegt hätte, sondern als meine damalige Empfindung, der ich nicht widerstehen konnte. Ich wollte diese Empfindung noch nicht formulieren, solange ich noch das Bett hüten mußte. Wie ich da krank und kraftlos in Wersilows Zimmer lag, in das sie mich einquartiert hatten, wurde ich mir mit Schmerz bewußt, in was für einem Zustand von Schwäche ich mich befand: was da auf dem Bette lag, war ein Strohhalm und kein Mensch, und nicht nur infolge der Krankheit – und wie mich das wurmte! Und da, da erhob sich aus der tiefsten Tiefe meines Wesens ein starker Protest dagegen, und ich konnte kaum atmen vor diesem Gefühl grenzenlos gesteigerten Hochmuts und Trotzes. Ich erinnere mich an keine Zeit in meinem ganzen Leben, wo ich von hochmütigeren Gefühlen erfüllt gewesen wäre als in jenen ersten Tagen meiner Wiedergenesung, das heißt, als der Strohhalm auf dem Bett lag.
Aber vorläufig schwieg ich noch und nahm mir sogar vor, überhaupt keine Überlegungen anzustellen! Ich blickte immer nur in ihre Gesichter und suchte aus ihnen alles zu erraten, was ich wissen mußte. Offenbar wollten auch sie mich nicht ausfragen und keine Neugier zeigen, und sie sprachen mit mir nur von ganz nebensächlichen Dingen. Mir gefiel das, aber gleichzeitig ärgerte es mich; ich mache keinen Versuch, diesen Widerspruch zu erklären. Lisa ließ sich bei mir seltener sehen als Mama, obwohl auch sie täglich zu mir kam, oft sogar zweimal. Aus Bruchstücken ihrer Gespräche und aus ihrem ganzen Benehmen schloß ich, daß Lisa sehr viel zu sorgen hatte und sogar oft in ihren eigenen Angelegenheiten von Hause abwesend war; schon dieser bloße Gedanke, daß sie »eigene Angelegenheiten« haben konnte, enthielt für mich etwas Kränkendes; indes waren das alles nur krankhafte, rein physiologische Empfindungen, die nicht wert sind, hier geschildert zu werden. Tatjana Pawlowna kam gleichfalls fast täglich zu mir, und obgleich sie ganz und gar nicht zärtlich zu mir war, schimpfte sie doch wenigstens nicht wie früher, was mich furchtbar ärgerte, so daß ich ihr geradezu sagte: »Wenn Sie nicht schimpfen, Tatjana Pawlowna, sind Sie gräßlich langweilig.« – »Na, dann werde ich nicht wieder zu dir kommen«, erwiderte sie kurz und ging hinaus. Ich aber war froh, daß ich wenigstens eine weggejagt hatte.
Am reizbarsten zeigte ich mich Mama gegenüber, und sie war es, die ich am meisten peinigte. Es hatte sich bei mir ein gewaltiger Appetit eingestellt, und ich murrte sehr, daß ich das Essen immer zu spät bekäme (in Wirklichkeit bekam ich es nie zu spät). Mama wußte nicht, wie sie es mir recht machen sollte. Einmal brachte sie mir die Suppe und begann wie gewöhnlich mich selbst zu füttern; ich aber murrte fortwährend beim Essen. Und auf einmal ärgerte ich mich darüber, daß ich immer murrte: »Sie ist vielleicht die einzige, die ich liebhabe«, dachte ich, »und gerade sie peinige ich immer.« Aber mein Ärger legte sich nicht, und plötzlich brach ich vor Ärger in Tränen aus; sie aber, die Arme, dachte, ich weinte vor Rührung, beugte sich zu mir nieder und küßte mich. Ich tat mir Gewalt an, so daß ich es einigermaßen ertrug, aber in diesem einen Augenblick haßte ich sie tatsächlich. Und doch liebte ich Mama immer, und auch damals liebte ich sie und haßte sie ganz und gar nicht, aber es war so, wie es immer zu sein pflegt: wen man am meisten liebt, den peinigt man am meisten.
Hassen tat ich in jenen ersten Tagen nur den Doktor. Dieser Arzt war ein noch junger Mensch, der mit hochmütiger Miene in scharfem, ja unhöflichem Ton sprach. Er tat so, als hätten sie, die Doktoren, alle in der Wissenschaft erst tags zuvor plötzlich etwas Besonderes entdeckt, während doch tags zuvor überhaupt nichts Besonderes passiert war; aber so benimmt sich die »Mittelmäßigkeit« und die »Straße« immer. Ich ertrug es lange, aber schließlich brach ich auf einmal los und sagte ihm in Gegenwart aller der Meinigen, seine Besuche hätten gar keinen Zweck, ich würde auch ganz ohne ihn gesund werden; er suche sich zwar den Anschein eines Realisten zu geben, stecke aber in Wirklichkeit ganz voll vorgefaßter Meinungen und begreife nicht, daß die Medizin noch nie jemanden gesund gemacht habe, und endlich sei er aller Wahrscheinlichkeit nach ein ganz ungebildeter Mensch, wie alle diese Techniker und Spezialisten, die bei uns jetzt in der letzten Zeit die Nase so hoch trügen. Der Doktor ärgerte sich furchtbar (schon allein dadurch zeigte er, wes Geistes Kind er war), setzte aber trotzdem seine Besuche fort. Ich erklärte schließlich Wersilow, wenn der Doktor seine Besuche nicht einstelle, so würde ich ihm etwas sagen, was noch zehnmal unangenehmer sein würde. Wersilow bemerkte nur, es dürfte kaum möglich sein, etwas zu sagen, was noch einmal so unangenehm wäre wie das, was ich schon gesagt hätte, geschweige denn etwas zehnmal so Unangenehmes. Ich freute mich über diese seine Bemerkung.
Nein, was ist das nur für ein Mensch! Ich rede von Wersilow. Er, er allein war an allem schuld, und sollte man es glauben: er war der einzige, auf den ich nicht böse war. Es war nicht nur sein Benehmen mir gegenüber, was mich bestach. Ich glaube, wir hatten damals beide die Empfindung, daß wir uns gegenseitig mancherlei Erklärungen schuldig seien… und daß es gerade darum das beste sei, von solchen Erklärungen ein für allemal abzusehen. Es ist außerordentlich angenehm, wenn man in solchen Lebenslagen auf einen klugen Menschen stößt! Ich habe schon im zweiten Teil meiner Erzählung berichtet, daß er mir sehr kurz und deutlich von dem Brief des nunmehr verhafteten Fürsten an mich und von der Ehrenerklärung, die mir von Serschtschikow ausgestellt worden war, und so weiter und so weiter Mitteilung gemacht hatte. Da ich mir vorgenommen hatte zu schweigen, so richtete ich an ihn in sehr trockenem Ton nur zwei oder drei ganz kurze Fragen; er antwortete darauf klar und bestimmt, aber ohne alle überflüssigen Worte und, was das beste war, ohne überflüssige Gefühlsäußerungen. Vor solchen überflüssigen Gefühlsäußerungen hatte ich damals Angst.
Über Lambert schweige ich, aber der Leser hat gewiß schon erraten, daß ich sehr viel an ihn dachte. In meinen Fieberphantasien hatte ich mehrmals von Lambert gesprochen; aber als ich wieder zu mir gekommen war und mich zu orientieren suchte, gelangte ich bald zu dem Schluß, daß die Sache mit Lambert ein Geheimnis geblieben war und sie, Wersilow eingeschlossen, nichts davon wußten. Damals freute ich mich darüber, und meine Furcht verging, aber wie ich später zu meiner Verwunderung erfuhr, hatte ich mich geirrt: er war schon während meiner Krankheit gekommen, um sich nach mir zu erkundigen, aber Wersilow hatte mir nichts davon gesagt, und ich hatte daraus geschlossen, daß ich für Lambert bereits in die Ewigkeit hinübergegangen sei. Nichtsdestoweniger dachte ich häufig an ihn; ja noch mehr: ich dachte an ihn nicht nur ohne Widerwillen, nicht nur mit einem gewissen Interesse, sondern sogar mit Sympathie, als ahnte ich da etwas Neues, einen Ausweg, etwas, was den neuen in mir keimenden Gefühlen und Plänen entsprach. Kurz, ich nahm mir vor, sobald ich wieder anfangen würde zu denken, vor allen Dingen über Lambert ernstliche Erwägungen anzustellen. Beiläufig erwähne ich etwas Sonderbares: ich hatte vollständig vergessen, wo er wohnte und in welcher Straße sich das alles damals zugetragen hatte. Das Zimmer, Alfonsina, das Hündchen, den Flur, das alles hatte ich in Erinnerung, so daß ich es gleich hätte zeichnen können, aber wo sich das alles zugetragen hatte, das heißt in welcher Straße und in welchem Hause, das hatte ich vollständig vergessen. Und was das allersonderbarste war, ich merkte das erst drei oder vier Tage, nachdem ich wieder zu vollem Bewußtsein gelangt war, als ich schon längst angefangen hatte, mich in Gedanken mit Lambert zu beschäftigen.
Das waren also meine ersten Empfindungen nach meinem Wiedererwachen. Ich habe hier nur das am meisten auf der Oberfläche Liegende notiert, und es ist sehr wahrscheinlich, daß ich es nicht verstanden habe, das aufzuzeichnen, was das wichtigste war. In der Tat wird vielleicht alles Wichtige gerade damals in meinem Herzen eine bestimmte Gestalt und feste Form angenommen haben; ich habe doch nicht die ganze Zeit damit ausgefüllt, mich zu ärgern und zu bösen, daß man mir meine Bouillon nicht brachte. Oh, ich erinnere mich, wie traurig ich damals manchmal war und wie ich mich mitunter grämte, namentlich wenn ich längere Zeit allein blieb. Meine Angehörigen aber hatten wie absichtlich bald gemerkt, daß das Zusammensein mit ihnen mir peinlich war und die Äußerungen ihrer Teilnahme mich nervös machten, und ließen mich daher immer öfter allein: eine gar zu weit gehende ahnungsvolle Rücksichtnahme.
II
Am vierten Tag, nachdem ich das Bewußtsein wiedererlangt hatte, lag ich zwischen zwei und drei Uhr nachmittags auf meinem Bett, und niemand war bei mir. Es war ein klarer Tag, und ich wußte, daß zwischen drei und vier, wenn die Sonne sich zum Untergang neigte, ein schräger, roter Strahl derselben gerade in den Winkel der Wand, an der ich lag, fallen und diese Stelle mit einem hellen Lichtfleck erleuchten würde. Ich wußte das von den vorhergehenden Tagen, und der Gedanke, daß das unfehlbar in einer Stunde geschehen würde, und vor allem der Umstand, daß ich es mit mathematischer Sicherheit voraus wußte, dies ärgerte mich so, daß ich geradezu wütend wurde. Ich drehte mich krampfhaft mit dem ganzen Leib herum, und auf einmal hörte ich mitten in der tiefen Stille deutlich die Worte: »Herr Jesus Christus, du unser Gott, erbarme dich unser!« Diese Worte wurden halblaut geflüstert, darauf folgte ein tiefer Seufzer aus voller Brust, und dann wurde alles wieder vollkommen still. Ich hob schnell den Kopf.
Ich hatte schon früher, das heißt am vorhergehenden und sogar schon am drittletzten Tag, wahrgenommen, daß in unseren unten gelegenen drei Zimmern etwas Besonderes vorging. In dem Zimmerchen auf der anderen Seite der Wohnstube, das früher Mamas und Lisas Schlafzimmer gewesen war, hauste jetzt offenbar jemand anders. Ich hatte schon mehrmals allerlei Geräusche gehört, sowohl bei Tage als auch bei Nacht, aber immer nur für einen ganz kurzen Augenblick, und dann war wieder für mehrere Stunden vollständige Stille eingetreten, so daß ich nicht weiter darauf geachtet hatte. Am vorhergehenden Abend war mir schon beinahe der Gedanke gekommen, daß Wersilow dort sei, um so mehr, als er bald darauf zu mir hereinkam; indes wußte ich doch zuverlässig aus ihren Gesprächen selbst, daß Wersilow für die Dauer meiner Krankheit in eine andere Wohnung übergesiedelt war und dort auch nächtigte. Über Mama und Lisa aber war mir schon längst bekannt, daß sie beide (ich glaubte, damit ich mehr Ruhe hatte) nach oben in meinen früheren »Sarg« gezogen waren, und ich hatte sogar einmal im stillen gedacht: »Wie mögen sie nur da beide zusammen Platz finden?« Und nun stellte es sich auf einmal heraus, daß in ihrem früheren Zimmer ein Mann wohnte und daß dieser Mann keineswegs Wersilow war. Mit einer Leichtigkeit, die ich mir gar nicht zugetraut hätte (denn ich hatte bisher immer gemeint, ich sei völlig kraftlos), streckte ich die Beine aus dem Bett hinaus, schob die Füße in die Pantoffeln, zog den grauen, neben mir liegenden Schlafrock aus Lammfell an (Wersilow hatte zu meinen Gunsten auf ihn verzichtet) und begab mich durch unser Wohnzimmer hindurch nach Mamas früherem Schlafzimmer. Das, was ich dort erblickte, machte mich völlig fassungslos; ich hatte absolut nichts Derartiges erwartet und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.
Dort saß ein alter Mann mit ganz grauem Kopfhaar und einem langen, schneeweißen Bart, und es war augenscheinlich, daß er schon lange dort saß. Er saß nicht auf dem Bett, sondern auf Mamas Fußbank und lehnte sich nur mit dem Rücken an das Bett. Übrigens hielt er sich dermaßen gerade, daß er überhaupt keine Stütze nötig zu haben schien, obgleich er offenbar krank war. Er trug über dem Hemd einen kurzen, mit Tuch überzogenen Schafpelz, über die Knie hatte er sich Mamas Reisedecke gelegt, seine Füße steckten in Pantoffeln. Er hatte, wie man erkennen konnte, eine hohe Statur und war breitschultrig; seine ganze Erscheinung machte trotz seiner Krankheit, seiner Blässe und Magerkeit doch einen munteren, kräftigen Eindruck; sein Gesicht war länglich, das Haar sehr dicht, aber nicht sehr lang; er schien über siebzig Jahre alt zu sein. Neben ihm lagen auf einem Tischchen, mit der Hand zu erreichen, drei oder vier Bücher und eine silberne Brille. Obgleich ich vorher nicht im entferntesten daran gedacht hatte, ihn hier zu treffen, so erriet ich doch augenblicklich, wer es war; nur vermochte ich immer noch nicht zu begreifen, wie er hier alle diese Tage fast neben meinem Krankenzimmer hatte so leise sitzen können, daß ich bisher nichts von ihm gehört hatte.
Er rührte sich nicht, als er mich erblickte, sondern sah mich unverwandt und schweigend an, ebenso wie ich ihn, mit dem Unterschied, daß ich ihn mit maßlosem Erstaunen ansah und er mich ohne das geringste Erstaunen. Im Gegenteil, als er in diesen fünf oder zehn Sekunden des Schweigens mein Gesicht auf das genaueste gemustert hatte, lächelte er auf einmal und lachte sogar still und unhörbar, und obgleich das Lachen schnell vorüberging, blieb doch eine helle, heitere Spur davon auf seinem Gesicht und namentlich in seinen Augen zurück; diese waren sehr blau, leuchtend und groß, hatten aber infolge des hohen Alters herabgesunkene, geschwollene Lider und waren von unzähligen kleinen Runzeln umgeben. Dieses sein Lachen machte auf mich einen besonders starken Eindruck.
Nach meiner Ansicht wird, wenn ein Mensch lacht, sein Anblick in den meisten Fällen widerwärtig. Meistens äußert sich im Lachen der Menschen etwas Gemeines, etwas, was den Lachenden gewissermaßen erniedrigt, obgleich der Lachende selbst fast nie etwas von dem Eindruck weiß, den er hervorruft. Ebensowenig, wie er oder überhaupt ein Mensch weiß, was er für ein Gesicht hat, wenn er schläft. Bei manch...
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