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Band 1
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Einleitung.
Den Roman »Dombey und Sohn« schuf Dickens in den Jahren 1846 bis 1848, also nach den »Weihnachtserzählungen« und vor »David Copperfield«. Der damals etwa Fünfunddreißigjährige, auf der Höhe seines Schaffens stehend, beschäftigt sich auch hier wieder, wie schon in seinen früheren Arbeiten, mit den »moralischen Problemen« des Lebens, wenn man sich so ausdrücken darf. Die Probleme laufen alle auf die eine Hauptfrage hinaus: Wie ist das Leben recht zu gestalten, sodass wir nicht im Unmaß verhärten? Das rechte Maßhalten bedingt den schönen, wahren und guten Menschen. Aber alles Unmaß ist Sünde und führt ins Verderben. Unmaß im Besitz führt zur Habgier und zum Geiz und zu der Vereinsamung, wie sie Scrooge im »Weihnachtsabend« an sich erfahren hat. Unmaß im Selbstbewusstsein aber leiten zu Hochmut und Stolz und zu jener selbstgewählten grausam marternden Einsamkeit, unter deren Auswirkungen die Kinder des reichen Kaufherrn Dombey so schwer leiden.
Das ganze Werk ist eine großartige psychologische Darstellung der Geschichte eines solchen stolzen, eisernen Herzens, das sich mit Hochmut umpanzert, bis die Katastrophe hereinbricht: Wehe dem Wesen, das nicht zu lieben gelernt hat! Es mag die ganze Welt gewinnen, sie bleibt äußerer Glanz und erwärmt nicht sein Inneres. Es mag zuzeiten stolz und unnahbar dastehen und glauben, die liebende Demut sei Torheit und überflüssig. Aber es wird erfahren, dass zuletzt aller Hochmut aushöhlt, die Seele leer lässt und sie in der Einöde der Heimatlosigkeit frieren lässt, bis sie zu spät ihre Armseligkeit erkennt.
Für all das bietet der stolze Dombey das erschütternde Beispiel. Sein Ehrgeiz lässt ihn überall auf falsche Karten setzen. So verliert er den sorgfältig geschützten und gehegten Sohn Paul, den er nicht um des Kindes selbst willen, sondern um der Firma, des Geschäfts, des äußeren Ansehens willen liebt. So jagt er, den Verlust seiner ersten, wirklich guten Frau gar nicht empfindend, einer blendend schönen Erscheinung nach, der unglückseligen Edith, deren Mutter eine ränkevolle elegante Kupplerin ist. Durch die Verbindung mit dieser äußeren Schönheit, die er nicht liebt, sondern sich durch reiche Ausstattung erkauft, glaubt er sein Ansehen in der Welt erhöhen zu können. Aber Edith betrügt ihn mit seinem Geschäftsführer, und der äußerlich vornehme, dünkelhafte Dombey wird seelisch in den völligen Bankerott gestürzt, den er sich selbst verdient hat. Das Schicksal, das er erlebt, ist zugleich strenge Gerechtigkeit.
Aber wundervoll ist es nun zu beobachten, wie Dickens es versteht, neben dieser Welt der Kälte, der Berechnung, der lieblosen Hoffart eine Welt der Liebe, Hilfsbereitschaft und Güte aufblühen zu lassen. Neben der Gerechtigkeit waltet nun die Gnade und das erlösende Erbarmen, das die Eisesstarre des stolzen Herzens der Dombey-Welt schmilzt und einen Lebensfrühling schließlich heraufzaubert im Sinne von: Ende gut, alles gut! Ohne diese Losung, ohne diesen Glauben an die schließliche Siegeskraft des Guten in der Welt, hat Dickens, wie wir es schon aus den früheren Bänden dieser Ausgabe wissen, überhaupt keinen Roman schreiben und zum Abschluss bringen können. Diese Welt der Liebe blüht auf in den von Dombey verachteten Gestalten, die ihn später retten: in einer lieblichen Tochter, Florence, in der der Dichter ein Idealbild reiner Mädchenhaftigkeit und Weiblichkeit gezeichnet hat, in den originellen Käuzen, wie dem alten Instrumentenmacher Gills und dem wackeren Kapitän Cuttle, einem braven Seebären von rührend-komischer Unbeholfenheit, aber dem treuesten Herzen, das es auf der Welt geben kann. Dickens zeigt hier, wie echtes Gold sich oft unter unscheinbar rauer Außenhülle verbirgt. Endlich in dem prächtigen Walter, dem frischen Jungen, der sich in schweren Sturmesnöten zum gutgearteten Jüngling entwickelt. In den liebenden Mächten, die diese Gestalten verkörpern, lässt der Dichter den Titelhelden seines Romans die Rettung aus dem Zusammenbruch finden.
Außer den immer bleibenden menschlichen Wahrheiten, die sich in diesem Werke herausheben, bietet das Buch ein schon kulturhistorisch interessantes Spiegelbild der damaligen englischen Gesellschaft. Wir sind geneigt, über manche altmodische Umständlichkeiten jener empfindsameren Zeit, als die unsere ist, zu lächeln. Aber wer weiß: werden nicht auch unsere Enkel wieder lächeln über manche Torheiten unserer heutigen Gesellschaft, über Torheiten, die wir heute noch gar nicht als solche empfinden? Man muss Dickens mit Zeit und Behagen lesen, wie wir schon in der Einleitung zu den »Pickwickiern« ausführten. Dann wird man gerade aus dem zeitlichen Kolorit manchen erkenntniswerten Schatz auch für unsere moderne Zeit mitnehmen.
Die Durcharbeitung dieses Werkes fiel für den Herausgeber in eine Zeit, da er selbst durch Amtsgeschäfte und berufliche Tätigkeit sehr in Anspruch genommen war. Umso dankbarer ist er daher seiner bisherigen treuen Helferin an diesem Unternehmen, Frau Clara Weinberg, für die geleistete Unterstützung.
Den 26. Januar 1928.
Paul Th. Hoffmann
Dombey saß in der Ecke des abgedunkelten Zimmers in dem großen Lehnstuhl neben dem Bett, und Sohn lag, warm eingewickelt, in einem Korbnestchen, das unmittelbar vor dem Feuer auf einem niedrigen Schemel stand und der Glut sich so nah befand, als ob die Konstitution des jungen Herrleins Ähnlichkeit habe mit der einer Semmel, die braun geröstet werden muss, solange sie noch frisch ist.
Dombey war ungefähr achtundvierzig Jahre alt, Sohn etwa achtundvierzig Minuten. Dombey war etwas kahl, ziemlich rot und, obschon sonst ein wohlproportionierter Mann, doch zu ernst und zu pomphaft in seinem Äußern, um durch dieses sonderlich anzusprechen, während Sohn sehr kahl, sehr rot und, wenn auch unleugbar ein sehr schönes Kind, im Allgemeinen vorderhand etwas zerdrückt und verbeult aussah. Auf Dombeys Stirn hatten Zeit und Sorge, wie an einem Baum, der bald zum Fällen reif ist, allerlei Merkmale eingegraben: denn besagte beiden Schwestern schreiten schonungslos durch die Menschenforsten und lassen überall die Zeichen ihres Dagewesenseins zurück. Das Gesicht von Sohn aber war von tausend kleinen Furchen gekreuzt, die dieselbe hinterlistige Zeit mit dem flachen Teil ihrer Sense auszuglätten bestimmt war – eine Vorbereitung für die tieferen Eindrücke späterer Jahre.
Überglücklich ob der langersehnten Ereignisse klimperte und klimperte Dombey mit der schweren goldenen Uhrkette, die unter dem eleganten blauen Frack hervorblitzte, während die Knöpfe des erwähnten Kleidungsstückes in den matten Strahlen des fernen Feuers phosphorisch funkelten. Sohn dagegen reckte seine Händchen in die Höhe, ballte sie zu Fäustchen und schien mit dem Dasein, in das es so unerwartet getreten war, Händel anfangen zu wollen.
»Mrs. Dombey«, begann Mr. Dombey, »das Haus wird fortan nicht bloß der Firma nach, sondern nun auch wieder in der Tat Dombey und Sohn sein. Dombey und Sohn!«
Diese Worte übten einen so starken Einfluss aus, dass der Sprecher (freilich nicht ohne einiges Zögern, da er an dergleichen nicht gewöhnt zu sein schien) dem Namen der Mrs. Dombey einen Ausdruck der Zärtlichkeit beifügte, er sagte nämlich:
»Mrs. Dombey, meine – meine Liebe«
Ein flüchtiges Rot, das Merkzeichen einer kleinen Überraschung, glitt über das Antlitz der Wöchnerin, als sie ihre Blicke zu Mr. Dombey erhob.
»Er wird in der Taufe den Namen Paul erhalten, meine Mrs. Dombey, – natürlich.«
Sie wiederholte matt das »natürlich«, oder schien es wenigstens durch die Bewegung ihrer Lippen tun zu wollen; dann aber schloss sie die Augen wieder.
»Seines Vaters Name, Mrs. Dombey, und seines Großvaters! Wollte Gott, sein Großvater hätte diesen Tag erlebt.«
Und abermals fügte er – genau in demselben Ton wie früher – bei:
»Dombey und Sohn!«
Diese drei Worte umfassten die einzige Idee von Mr. Dombeys Leben. Die Erde war nur da, damit Dombey und Sohn Geschäfte darin machen konnten, und Sonne und Mond hatten bloß die Bestimmung, für Dombey und Sohn zu scheinen, Flüsse und Meere waren da, um die Schiffe der Firma zu tragen; die Regenbogen versprachen nur ihr schönes Wetter; Sterne und Planeten liefen in ihren Kreisen, um unabänderlich einem System zu folgen, von dem Dombey und Sohn den Mittelpunkt bildete. Gewöhnliche Abkürzungen erhielten in seinen Augen ganz neue Bedeutungen, die bloß auf seine Firma Bezug hatten, und A. D. lautete in seiner Zeitrechnung nicht als Annus Domini, sondern als Annus Dombei – und Sohn.
Er hatte sich, wie vor ihm sein Vater, im Laufe der Zeit vom Sohn zu Dombey heraufgearbeitet und fast zwanzig Jahre lang die Firma als alleiniger Repräsentant vertreten. Die Hälfte dieser Periode war ihm im Ehestand entschwunden – wie einige sagen, mit einer Dame, die ihm nicht ihr Herz zur Morgengabe brachte, sondern ihr Glück in der Vergangenheit suchte und sich darin fügen musste, den gebrochenen Geist an das ergebungsvolle Dulden der Gegenwart zu fesseln. Dergleichen Gerede kam übrigens nicht leicht Mr. Dombey zu Ohren, wie sehr er auch dabei beteiligt war, und wenn es je auch so weit gekommen wäre, so würde er zu allerletzt daran geglaubt haben. Dombey und Sohn hatten zwar schon oft in Häuten, nie aber in Herzen Geschäfte gemacht, denn letztere waren ein Geschäftszweig, den sie gerne jungen Burschen und Mädchen, den Kostschülern und den Bücherschreibern überließen. Mr. Dombey pflegte zu sagen, dass ein Ehebund mit ihm an und für sich jedem auch nur mit gewöhnlichem Verstand begabten Frauenzimmer sehr wünschenswert und ehrenvoll sein müsse, und die Hoffnung, einem solchen Hause einen neuen Associé zu geben, könne nicht fehlen, in der anspruchslosesten Weiberbrust ein Gefühl des glühendsten Ehrgeizes zu wecken. Mrs. Dombey habe mit ihm diesen sozialen Ehevertrag eingegangen, der ihr, selbst eine Bezugnahme auf die Fortpflanzung der Familienfirma, fast notwendig die Teilnahme an einer gentilen und wohlhabenden Stellung sicherte, und alle diese Vorteile vollkommen eingesehen, ja noch außerdem durch tägliche Erfahrung sich überzeugen können, welche Stellung er in der Gesellschaft einnehme; sie habe stets an seiner Tafel obenan gesessen, und habe die Honneurs seines Hauses nicht nur in geziemender Weise, sondern auch mit dem Anstand einer feinen Dame gemacht; sie müsse daher notwendig glücklich sein, ob sie nun wolle oder nicht.
Oder jedenfalls lag ihr dabei nur ein einziger Hemmstein im Wege. Ja. Dies würde er zugegeben haben. Nur ein einziger, der aber zuverlässig viel in sich fasste. Sie waren zehn Jahre verheiratet gewesen, ohne bis auf die Stunde, in welcher Mr. Dombey auf dem Lehnstuhl neben dem Bette mit der goldenen Uhrkette klimperte, einen Sprößling erzielt zu haben.
Dass ich’s recht sage, wenigstens keinen erheblichen. Vor etwa sechs Jahren war zwar ein Mädchen geboren, und das Kind, das sich eben erst unbemerkt ins Gemach gestohlen hatte, duckte sich jetzt schüchtern in eine Ecke, von der aus es seiner Mutter ins Gesicht sehen konnte. Aber was war ein Mädchen für Dombey und Sohn! In dem Kapitel des Firmanamens und der Firmawürde erschien ein solches Kind nur wie eine falsche Münze, die nirgends angelegt werden konnte – ein missratenes Ding, weiter nichts.
Im gegenwärtigen Augenblick war übrigens Mr. Dombeys Wonnebecher so zum Überquellen angefüllt, dass er fühlte, er könne wohl einige Tröpflein des Inhalts missen, um den Staub auf dem Nebenpfade seiner kleinen Tochter damit zu benetzen. Er sagte daher:
»Florence, du kannst hingehen und dein Brüderlein ansehen, denn ich denke mir, dass dies dein Wunsch ist. Aber rühre es beileibe nicht an.«
Die Kleine warf einen lebhaften Blick auf den blauen Frack und die steife weiße Halsbinde, welche nebst ein Paar knarrenden Stiefeln und einer laut tickenden Taschenuhr ihre Idee von einem Vater verkörperten; aber ihre Augen kehrten unmittelbar darauf wieder zu dem Gesicht ihrer Mutter zurück, und sie rührte sich nicht von der Stelle, während sie zugleich ihre Lippen geschlossen hielt.
Im nächsten Moment öffnete die Dame ihre Augen und wurde des Kindes ansichtig. Die Kleine eilte auf sie zu, stand auf die Zehen, um ihr Gesichtchen besser an dem mütterlichen Busen verbergen zu können, und klammerte sich an die Wöchnerin mit einer so verzweifelten Innigkeit, wie man sie in ihren Jahren nicht erwartet hätte.
»O Gott behüte mich!« sagte Mr. Dombey, indem er ärgerlich aufstand. »Wahrhaftig, dies ist ein sehr unbesonnenes Benehmen und wird das Fieber nur steigern. Es ist wohl am besten, ich frage bei Doktor Peps an, ob er nicht vielleicht die Güte haben will, noch einmal heraufzukommen. Ich will hinunter gehen. Es wird nicht nötig sein, dass ich Euch erst bitte«, fügte er bei, während er bei der Chaiselongue vor dem Feuer einen Augenblick stehen blieb, »auf diesen jungen Gentleman ganz besondere Sorgfalt zu verwenden, Mrs. –«
»Blockitt, Sir?« ergänzte die Wärterin, ein jungferliches Stückchen verblichener Geziertheit, das sich nicht erdreistete, seinen Namen als Tatsache hinzustellen, sondern ihn nur in der Form einer milden Frage andeuten wollte.
»Auf diesen jungen Gentleman, Mrs. Blockitt.«
»Nein, Sir, gewiss nicht. Ich erinnere mich, als Miss Florence geboren wurde –«
»Ja, ja, schon gut«, entgegnete Mr. Dombey, indem er sich über das Korbbettchen beugte und zu gleicher Zeit die Stirne runzelte, »Bei Miss Florence war es schon recht, aber hier ist der Fall anders. Dieser junge Gentleman hat eine Bestimmung zu erfüllen. Eine Bestimmung, kleiner Bursch!«
Während dieser Anrede erhob er eines von den Händchen des Knaben an seine Lippen und küsste es: dann aber schien er sich zu besinnen, dass diese Handlung seiner Würde Abbruch getan haben könnte, und er verließ deshalb etwas verlegen das Gemach.
Doktor Parker Peps, einer der Hofärzte und ein Mann, der wegen seiner Kunst in der Beihilfe zur Vergrößerung bedeutender Familien sich eines hohen Rufs erfreute, ging mit auf dem Rücken gekreuzten Händen im Besuchzimmer auf und ab, zur unaussprechlichen Bewunderung des Hausarztes, der schon seit sechs Wochen unter allen seinen Patienten, Freunden und Bekannten den Fall als einen solchen ausposaunt hatte, der ihm keinen Augenblick Ruhe lasse, weil er Tag und Nacht jede Stunde gewärtig sein müsse, in Gemeinschaft mit Doktor Parker Peps beigezogen zu werden.
»Habt Ihr gefunden, Sir«, begann Doktor Parker Peps mit tiefer, klangreicher Stimme, die übrigens gleich dem Türklopfer für den gegenwärtigen Anlass gedämpft war, »dass Eure teure Gemahlin durch Euren Besuch aufgeregt wurde?«
»Stimuliert, sozusagen?« fügte der Hausarzt leise bei und verbeugte sich sodann gegen den Doktor, als wollte er sagen: »Entschuldigt, dass ich ein Wörtchen einflocht, aber es handelt sich hier um eine wertvolle Kundschaft.«
Mr. Dombey war sehr betroffen ob dieser Frage, denn er hatte so wenig an die Patientin gedacht, dass er nichts darauf zu antworten wusste. Seine Erwiderung lautete dahin, dass es ihm zur Beruhigung gereichen werde, wenn Doktor Peps noch einmal oben einen Besuch machen wolle.
»Gut. Wir dürfen es Euch nicht verbergen, Sir«, sagte Doktor Peps, »dass der Mangel an Kräften bei Ihren Gnaden, der Frau Herzogin – bitt’ um Verzeihung, ich verwechsle die Namen: wollte sagen, bei Eurer liebenswürdigen Gemahlin sehr groß ist. Wir haben es mit einem gewissen Grad von languor zu tun, mit einer allgemeinen Abwesenheit von Elastizität, die wir lieber – nicht –«
»Sehen möchten«, setzte der Hausarzt mit einer abermaligen Kopfverbeugung hinzu.
»Ganz richtig«, entgegnete Doktor Parker Peps: »die wir lieber nicht seh...