Die Verwirrungen des Zöglings Törless
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Die Verwirrungen des Zöglings Törless

  1. 265 Seiten
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Die Verwirrungen des Zöglings Törless

Über dieses Buch

Österreich während der Kaiserzeit: Auf einem Eliteinternat quälen und missbrauchen drei Jungen einen Mitschüler über längere Zeit – jeder aus seinen eigenen Gründen.

Der Roman zeigt auf, wie sich Menschen aus den verschiedensten Motiven zur Macht verführen lassen, wie sie wehrlose Menschen quälen, foltern und erpressen – sei es aus rein sadistischen Motiven oder simpler Habgier.

Schlimmer noch fast als die Folter aber wirkt das faszinierte Beobachten des jungen Törless. Verwirrt über seine eigene Sexualität wird er zum stummen und heimlichen "Genießer" der Seelenpein seines gequälten Mitschülers.

1966 verfilmte der Regiedebütant Volker Schlöndorff den Stoff erfolgreich mit Mathieu Carrière in der namensgebenden Hauptrolle.

Null Papier Verlag

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Information

Die Verwirrungen des Zöglings Törless

Eine klei­ne Sta­ti­on an der Stre­cke, wel­che nach Russ­land führt.
End­los ge­ra­de lie­fen vier par­al­le­le Ei­sen­strän­ge nach bei­den Sei­ten zwi­schen dem gel­ben Kies des brei­ten Fahr­dam­mes; ne­ben je­dem wie ein schmut­zi­ger Schat­ten der dunkle, von dem Ab­damp­fe in den Bo­den ge­brann­te Strich.
Hin­ter dem nie­de­ren, öl­ge­stri­che­nen Sta­ti­ons­ge­bäu­de führ­te eine brei­te, aus­ge­fah­re­ne Stra­ße zur Bahn­hofs­ram­pe her­auf. Ihre Rän­der ver­lo­ren sich in dem rings­um zer­tre­te­nen Bo­den und wa­ren nur an zwei Rei­hen Aka­zi­en­bäu­men kennt­lich, die trau­rig mit ver­durs­te­ten, von Staub und Ruß er­dros­sel­ten Blät­tern zu bei­den Sei­ten stan­den.
Mach­ten es die­se trau­ri­gen Far­ben, mach­te es das blei­che, kraft­lo­se, durch den Dunst er­mü­de­te Licht der Nach­mit­tags­son­ne: Ge­gen­stän­de und Men­schen hat­ten et­was Gleich­gül­ti­ges, Leb­lo­ses, Mecha­ni­sches an sich, als sei­en sie aus der Sze­ne ei­nes Pup­pen­thea­ters ge­nom­men. Von Zeit zu Zeit, in glei­chen In­ter­val­len, trat der Bahn­hofs­vor­stand aus sei­nem Amts­zim­mer her­aus, sah mit der glei­chen Wen­dung des Kop­fes die wei­te Stre­cke hin­auf nach den Si­gna­len der Wächt­er­häus­chen, die im­mer noch nicht das Na­hen des Eil­zu­ges an­zei­gen woll­ten, der an der Gren­ze große Ver­spä­tung er­lit­ten hat­te; mit ein und der­sel­ben Be­we­gung des Ar­mes zog er so­dann sei­ne Ta­schen­uhr her­vor, schüt­tel­te den Kopf und ver­schwand wie­der; so wie die Fi­gu­ren kom­men und ge­hen, die aus al­ten Turm­uh­ren tre­ten, wenn die Stun­de voll ist.
Auf dem brei­ten, fest­ge­stampf­ten Strei­fen zwi­schen Schie­nen­strang und Ge­bäu­de pro­me­nier­te eine hei­te­re Ge­sell­schaft jun­ger Leu­te, links und rechts ei­nes äl­te­ren Ehe­paa­res schrei­tend, das den Mit­tel­punkt der et­was lau­ten Un­ter­hal­tung bil­de­te. Aber auch die Fröh­lich­keit die­ser Grup­pe war kei­ne rech­te; der Lärm des lus­ti­gen La­chens schi­en schon auf we­ni­ge Schrit­te zu ver­stum­men, gleich­sam an ei­nem zä­hen, un­sicht­ba­ren Wi­der­stan­de zu Bo­den zu sin­ken.
Frau Ho­frat Tör­less, dies war die Dame von viel­leicht vier­zig Jah­ren, ver­barg hin­ter ih­rem dich­ten Schlei­er trau­ri­ge, vom Wei­nen ein we­nig ge­röte­te Au­gen. Es galt Ab­schied zu neh­men. Und es fiel ihr schwer, ihr ein­zi­ges Kind nun wie­der auf so lan­ge Zeit un­ter frem­den Leu­ten las­sen zu müs­sen, ohne Mög­lich­keit, selbst schüt­zend über ih­ren Lieb­ling zu wa­chen.
Denn die klei­ne Stadt lag weit­ab von der Re­si­denz, im Os­ten des Rei­ches, in spär­lich be­sie­del­tem, tro­ckenem Acker­land.
Der Grund, des­sent­we­gen Frau Tör­less es dul­den muss­te, ih­ren Jun­gen in so fer­ner, un­wirt­li­cher Frem­de zu wis­sen, war, dass sich in die­ser Stadt ein be­rühm­tes Kon­vikt be­fand, wel­ches man schon seit dem vo­ri­gen Jahr­hun­der­te, wo es auf dem Bo­den ei­ner from­men Stif­tung er­rich­tet wor­den war, da drau­ßen beließ, wohl um die auf­wach­sen­de Ju­gend vor den ver­derb­li­chen Ein­flüs­sen ei­ner Groß­stadt zu be­wah­ren.
Denn hier er­hiel­ten die Söh­ne der bes­ten Fa­mi­li­en des Lan­des ihre Aus­bil­dung, um nach Ver­las­sen des In­sti­tu­tes die Hoch­schu­le zu be­zie­hen oder in den Mi­li­tär- oder Staats­dienst ein­zu­tre­ten, und in al­len die­sen Fäl­len so­wie für den Ver­kehr in den Krei­sen der gu­ten Ge­sell­schaft galt es als be­son­de­re Emp­feh­lung, im Kon­vik­te zu W. auf­ge­wach­sen zu sein.
Vor vier Jah­ren hat­te dies das El­tern­paar Tör­less be­wo­gen, dem ehr­gei­zi­gen Drän­gen sei­nes Kna­ben nach­zu­ge­ben und sei­ne Auf­nah­me in das In­sti­tut zu er­wir­ken.
Die­ser Ent­schluss hat­te spä­ter vie­le Trä­nen ge­kos­tet. Denn fast seit dem Au­gen­bli­cke, da sich das Tor des In­sti­tu­tes un­wi­der­ruf­lich hin­ter ihm ge­schlos­sen hat­te, litt der klei­ne Tör­less an fürch­ter­li­chem, lei­den­schaft­li­chem Heim­weh. We­der die Un­ter­richts­stun­den, noch die Spie­le auf den großen üp­pi­gen Wie­sen des Par­kes, noch die an­de­ren Zer­streu­un­gen, die das Kon­vikt sei­nen Zög­lin­gen bot, ver­moch­ten ihn zu fes­seln; er be­tei­lig­te sich kaum an ih­nen. Er sah al­les nur wie durch einen Schlei­er und hat­te selbst un­ter­tags häu­fig Mühe, ein hart­nä­cki­ges Schluch­zen hin­ab­zu­wür­gen; des Abends schlief er aber stets un­ter Trä­nen ein.
Er schrieb Brie­fe nach Hau­se, bei­na­he täg­lich, und er leb­te nur in die­sen Brie­fen; al­les an­de­re, was er tat, schi­en ihm nur ein schat­ten­haf­tes, be­deu­tungs­lo­ses Ge­sche­hen zu sein, gleich­gül­ti­ge Sta­tio­nen wie die Stun­den­zif­fern ei­nes Uhr­blat­tes. Wenn er aber schrieb, fühl­te er et­was Aus­zeich­nen­des, Ex­klu­si­ves in sich; wie eine In­sel voll wun­der­ba­rer Son­nen und Far­ben hob sich et­was in ihm aus dem Mee­re grau­er Emp­fin­dun­gen her­aus, das ihn Tag um Tag kalt und gleich­gül­tig um­dräng­te. Und wenn er un­ter­tags, bei den Spie­len oder im Un­ter­rich­te, dar­an dach­te, dass er abends sei­nen Brief schrei­ben wer­de, so war ihm, als trü­ge er an un­sicht­ba­rer Ket­te einen gol­de­nen Schlüs­sel ver­bor­gen, mit dem er, wenn es nie­mand sieht, das Tor von wun­der­ba­ren Gär­ten öff­nen wer­de.
Das Merk­wür­di­ge dar­an war, dass die­se jähe, ver­zeh­ren­de Hin­nei­gung zu sei­nen El­tern für ihn selbst et­was Neu­es und Be­frem­den­des hat­te. Er hat­te sie vor­her nicht ge­ahnt, er war gern und frei­wil­lig ins In­sti­tut ge­gan­gen, ja er hat­te ge­lacht, als sich sei­ne Mut­ter beim ers­ten Ab­schied vor Trä­nen nicht fas­sen konn­te, und dann erst, nach­dem er schon ei­ni­ge Tage al­lein ge­we­sen war und sich ver­hält­nis­mä­ßig wohl be­fun­den hat­te, brach es plötz­lich und ele­men­tar in ihm em­por.
Er hielt es für Heim­weh, für Ver­lan­gen nach sei­nen El­tern. In Wirk­lich­keit war es aber et­was viel Un­be­stimm­te­res und Zu­sam­men­ge­setz­te­res. Denn der »Ge­gen­stand die­ser Sehn­sucht«, das Bild sei­ner El­tern, war dar­in ei­gent­lich gar nicht mehr ent­hal­ten. Ich mei­ne die­se ge­wis­se plas­ti­sche, nicht bloß ge­dächt­nis­mä­ßi­ge, son­dern kör­per­li­che Erin­ne­rung an eine ge­lieb­te Per­son, die zu al­len Sin­nen spricht und in al­len Sin­nen be­wahrt wird, so­dass man nichts tun kann, ohne schwei­gend und un­sicht­bar den an­de­ren zur Sei­te zu füh­len. Die­se ver­klang bald wie eine Re­so­nanz, die nur noch eine Wei­le fort­ge­zit­tert hat­te. Tör­less konn­te sich da­mals bei­spiels­wei­se nicht mehr das Bild sei­ner »lie­ben, lie­ben El­tern« – der­ma­ßen sprach er es meist vor sich hin – vor Au­gen zau­bern. Ver­such­te er es, so kam an des­sen Stel­le der gren­zen­lo­se Schmerz in ihm em­por, des­sen Sehn­sucht ihn züch­tig­te und ihn doch ei­gen­wil­lig fest­hielt, weil ihre hei­ßen Flam­men ihn zu­gleich schmerz­ten und ent­zück­ten. Der Ge­dan­ke an sei­ne El­tern wur­de ihm hie­bei mehr und mehr zu ei­ner blo­ßen Ge­le­gen­heits­ur­sa­che, die­ses egois­ti­sche Lei­den in sich zu er­zeu­gen, das ihn in sei­nen wol­lüs­ti­gen Stolz ein­schloss wie in die Ab­ge­schie­den­heit ei­ner Ka­pel­le, in der von hun­dert flam­men­den Ker­zen und von hun­dert Au­gen hei­li­ger Bil­der Weih­rauch zwi­schen die Schmer­zen der sich selbst Gei­ßeln­den ge­streut wird. – – –
Als dann sein »Heim­weh« we­ni­ger hef­tig wur­de und sich all­ge­mach ver­lor, zeig­te sich die­se sei­ne Art auch ziem­lich deut­lich. Sein Ver­schwin­den führ­te nicht eine end­lich er­war­te­te Zufrie­den­heit nach sich, son­dern ließ in der See­le des jun­gen Tör­less eine Lee­re zu­rück. Und an die­sem Nichts, an die­sem Un­aus­ge­füll­ten in sich er­kann­te er, dass es nicht eine blo­ße Sehn­sucht ge­we­sen war, die ihm ab­han­den kam, son­dern et­was Po­si­ti­ves, eine see­li­sche Kraft, et­was, das sich in ihm un­ter dem Vor­wand des Schmer­zes aus­ge­blüht hat­te.
Nun aber war es vor­bei, und die­se Quel­le ei­ner ers­ten hö­he­ren Se­lig­keit hat­te sich ihm erst durch ihr Ver­sie­gen fühl­bar ge­macht.
Zu die­ser Zeit ver­lo­ren sich die lei­den­schaft­li­chen Spu­ren der im Er­wa­chen ge­we­se­nen See­le wie­der aus sei­nen Brie­fen, und an ihre Stel­le tra­ten aus­führ­li­che Be­schrei­bun­gen des Le­bens im In­sti­tu­te und der neu­ge­won­ne­nen Freun­de.
Er selbst fühl­te sich da­bei ver­armt und kahl, wie ein Bäum­chen, das nach der noch frucht­lo­sen Blü­te den ers­ten Win­ter er­lebt.
Sei­ne El­tern aber wa­ren es zu­frie­den. Sie lieb­ten ihn mit ei­ner star­ken, ge­dan­ken­lo­sen, tie­ri­schen Zärt­lich­keit. Je­des Mal, wenn er vom Kon­vik­te Fe­ri­en be­kom­men hat­te, er­schi­en der Ho­frä­tin nach­her ihr Haus von Neu­em leer und aus­ge­stor­ben, und noch ei­ni­ge Tage nach je­dem sol­chen Be­su­che ging sie mit Trä­nen in den Au­gen durch die Zim­mer, da und dort einen Ge­gen­stand lieb­ko­send be­rüh­rend, auf dem das Auge des Kna­ben ge­ruht oder den sei­ne Fin­ger ge­hal­ten hat­ten. Und bei­de hät­ten sie sich für ihn in Stücke rei­ßen las­sen.
Die un­be­hol­fe­ne Rüh­rung und lei­den­schaft­li­che, trot­zi­ge Trau­er sei­ner Brie­fe be­schäf­tig­te sie schmerz­lich und ver­setz­te sie in einen Zu­stand hoch­ge­spann­ter Emp­find­sam­keit; der hei­te­re, zu­frie­de­ne Leicht­sinn, der dar­auf folg­te, mach­te auch sie wie­der froh, und in dem Ge­füh­le, dass da­durch eine Kri­se über­wun­den wor­den sei, un­ter­stütz­ten sie ihn nach Kräf­ten.
We­der in dem einen noch in dem an­de­ren er­kann­ten sie das Sym­ptom ei­ner be­stimm­ten see­li­schen Ent­wick­lung, viel­mehr hat­ten sie Schmerz und Be­ru­hi­gung glei­cher­ma­ßen als eine na­tür­li­che Fol­ge der ge­ge­be­nen Ver­hält­nis­se hin­ge­nom­men. Dass es der ers­te, miss­glück­te Ver­such des jun­gen, auf sich selbst ge­stell­ten Men­schen ge­we­sen war, die Kräf­te des In­ne­ren zu ent­fal­ten, ent­ging ih­nen.
*
Tör­less fühl­te sich nun sehr un­zu­frie­den und tas­te­te da und dort ver­geb­lich nach et­was Neu­em, das ihm als Stüt­ze hät­te die­nen kön­nen.
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Eine Epi­so­de die­ser Zeit war für das cha­rak­te­ris­tisch, was sich da­mals in Tör­less zu spä­te­rer Ent­wick­lung vor­be­rei­te­te.
Ei­nes Ta­ges war näm­lich der jun­ge Fürst H. ins In­sti­tut ein­ge­tre­ten, der aus ei­nem der ein­fluss­reichs­ten, äl­tes­ten und kon­ser­va­tivs­ten Adels­ge­schlech­ter des Rei­ches stamm­te.
Alle an­de­ren fan­den sei­ne sanf­ten Au­gen fad und af­fek­tiert; die Art und Wei­se, wie er im Ste­hen die eine Hüf­te her­aus­drück­te und beim Spre­chen lang­sam mit den Fin­gern spiel­te, ver­lach­ten sie als wei­bisch. Be­son­ders aber spot­te­ten sie dar­über, dass er nicht von sei­nen El­tern ins Kon­vikt ge­bracht wor­den war, son­dern von sei­nem bis­he­ri­gen Er­zie­her, ei­nem doc­tor theo­lo­giae und Or­dens­geist­li­chen.
Tör­less aber hat­te vom ers­ten Au­gen­bli­cke an einen star­ken Ein­druck emp­fan­gen. Vi­el­leicht wirk­te da­bei der Um­stand mit, dass es ein hof­fä­hi­ger Prinz war, je­den­falls war es aber auch eine an­de­re Art Mensch, die er da ken­nen lern­te.
Das Schwei­gen ei­nes al­ten Lan­de­del­schlos­ses und from­mer Übun­gen schi­en ir­gend­wie noch an ihm zu haf­ten. Wenn er ging, so ge­sch­ah es mit wei­chen, ge­schmei­di­gen Be­we­gun­gen, mit die­sem et­was schüch­ter­nen Sich­zu­sam­men­zie­hen und Schmal­ma­chen, das der Ge­wohn­heit ei­gen ist, auf­recht durch die Flucht lee­rer Säle zu schrei­ten, wo ein an­de­rer an hun­dert un­sicht­ba­ren Ecken des lee­ren Rau­mes schwer an­zu­ren­nen scheint.
Der Um­gang mit dem Prin­zen wur­de so zur Quel­le ei­nes fei­nen psy­cho­lo­gi­schen Ge­nus­ses für Tör­less. Er bahn­te in ihm jene Art Men­schen­kennt­nis an, die es lehrt, einen an­de­ren nach dem Fall der Stim­me, nach der Art, wie er et­was in die Hand nimmt, ja selbst nach dem Tim­bre sei­nes Schwei­gens und dem Aus­druck der kör­per­li­chen Hal­tung, mit der er sich in einen Raum fügt, kurz nach die­ser be­weg­li­chen, kaum greif­ba­ren und doch erst ei­gent­li­chen, vol­len Art, et­was See­lisch-Men­sch­li­ches zu sein, die um den Kern, das Greif- und Be­sprech­ba­re, wie um ein blo­ßes Ske­lett her­um­ge­la­gert ist, so zu er­ken­nen und zu ge­nie­ßen, dass man die geis­ti­ge Per­sön­lich­keit da­bei vor­weg­nimmt.
Tör­less leb­te wäh­rend die­ser kur­z­en Zeit wie in ei­ner Idyl­le. Er stieß sich nicht an der Re­li­gio­si­tät sei­nes neu­en Freun­des, die ihm, der aus ei­nem bür­ger­lich-frei­den­ken­den Hau­se stamm­te, ei­gent­lich et­was ganz Frem­des war. Er nahm sie viel­mehr ohne al­les Be­den­ken hin, ja sie bil­de­te in sei­nen Au­gen so­gar einen be­son­de­ren Vor­zug des Prin­zen, denn sie stei­ger­te das We­sen die­ses Men­schen, das er dem sei­nen völ­lig un­ähn­lich, aber auch ganz un­ver­gleich­lich fühl­te.
In der Ge­sell­schaft die­ses Prin­zen fühl­te er sich etwa wie in ei­ner ab­seits des We­ges lie­gen­den Ka­pel­le, so­dass der Ge­dan­ke, dass er ei­gent­lich nicht dort­hin ge­hö­re, ganz ge­gen den Ge­nuss ver­schwand, das Ta­ges­licht ein­mal durch Kir­chen­fens­ter an­zu­se­hen und das Auge so lan­ge über den nutz­lo­sen, ver­gol­de­ten Zie­rat glei­ten zu las­sen, der in der See­le die­ses Men­schen auf­ge­häuft war, bis er von die­ser selbst ein un­deut­li­ches Bild emp­fing, so, als ob er, ohne sich Ge­dan­ken dar­über ma­chen zu kön­nen, mit dem Fin­ger eine schö­ne, aber nach selt­sa­men Ge­set­zen ver­schlun­ge­ne Ara­bes­ke nach­zö­ge.
Dann kam es plötz­lich zum Bru­che zwi­schen bei­den.
We­gen ei­ner Dumm­heit, wie sich Tör­less selbst hin­ter­her sa­gen muss­te.
Sie wa­ren näm­lich doch ein­mal ins Strei­ten über re­li­gi­öse Din­ge ge­kom­men. Und in die­sem Au­gen­bli­cke war es ei­gent­lich schon um al­les ge­sche­hen. Denn wie von Tör­less un­ab­hän­gig, schlug nun der Ver­stand in ihm un­auf­halt­sam auf den zar­ten Prin­zen los. Er über­schüt­te­te ihn mit dem Spot­te des Ver­nünf­ti­gen, zer­stör­te bar­ba­risch das fi­li­gra­ne Ge­bäu­de, in dem des­sen See­le hei­misch war, und sie gin­gen im Zor­ne aus­ein­an­der.
Seit der Zeit hat­ten sie auch kein Wort wie­der zu­ein­an­der ge­spro­chen. Tör­less war sich wohl dun­kel be­wusst, dass er et­was Sinn­lo­ses ge­tan hat­te, und eine un­kla­re, ge­fühls­mä­ßi­ge Ein­sicht sag­te ihm, dass da die­ser höl­zer­ne Zoll­stab des Ver­stan­des zu ganz un­rech­ter Zeit et­was Fei­nes und Ge­nuss­rei­ches zer­schla­gen habe. Aber dies war et­was, das ganz au­ßer sei­ner Macht lag. Eine Art Sehn­sucht nach dem Frü­he­ren war wohl für im­mer in ihn zu­rück­ge­blie­ben, aber er schi­en in einen an­de­ren Strom ge­ra­ten zu sein, der ihn im­mer wei­ter da­von ent­fern­te.
Nach ei­ni­ger Zeit trat dann auch der Prinz, der sich im Kon­vik­te nicht wohl be­fun­den hat­te, wie­der aus.
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Nun wur­de es ganz leer und lang­wei­lig um Tör­less. Aber er war einst­wei­len äl­ter ge­wor­den, und die be­gin­nen­de Ge­schlechts­rei­fe fing an, sich dun­kel und all­mäh­lich in ihm em­por­zu­he­ben. In die­sem Ab­schnitt sei­ner Ent­wick­lung schloss er ei­ni­ge neue, dement­spre­chen­de Freund­schaf­ten, die für ihn spä­ter von größ­ter Wich­tig­keit wur­den. So mit Bei­ne­berg und Rei­ting, mit Moté und Hof­mei­er, eben je­nen jun­gen Leu­ten, in de­ren Ge­sell­schaft er heu­te sei­ne El­tern zur Bahn be­glei­te­te.
Merk­wür­di­ger­wei­se wa­ren dies ge­ra­de die übels­ten sei­nes Jahr­gan­ges, zwar ta­len­tiert und selbst­ver­ständ­lich auch von gu­ter Her­kunft, aber bis­wei­len bis zur Ro­heit wild und un­ge­bär­dig. Und dass ge­ra­de ihre Ge­sell­schaft Tör­less nun fes­sel­te, lag wohl an sei­ner ei­ge­nen Un­selbst­stän­dig­keit, die, seit­dem es ihn von dem Prin­zen wie­der fort­ge­trie­ben hat­te, sehr arg war. Es lag so­gar in der ge­rad­li­ni­gen Ver­län­ge­rung die­ses Ab­schwen­kens, denn es be­deu­te­te wie die­ses eine Angst vor all­zu sub­ti­len Emp­fin­de­lei­en, ge­gen die das We­sen der an­de­ren Ka­me­ra­den ge­sund, ker­nig und le­bens­ge­recht ab­stach.
Tör­less über­ließ sich gänz­lich ih­rem Ein­flus­se, denn sei­ne geis­ti­ge Si­tua­ti­on war nun un­ge­fähr die­se: In sei­nem Al­ter hat man am Gym­na­si­um Goe­the, Schil­ler, Sha­ke­s­pea­re, viel­leicht so­gar schon die Mo­der­nen ge­le­sen. Das schreibt sich dann halb­ver­daut aus den Fin­ger­spit­zen wie­der her­aus. Rö­mer­tra­gö­di­en ent­ste­hen oder sen­si­tivs­te Ly­rik, die im Ge­wan­de sei­ten­lan­ger In­ter­punk­tio­nen wie in der Zart­heit durch­bro­che­ner Spit­zen­ar­beit ein­her­schrei­tet: Din­ge, die an und für sich lä­cher­lich sind, für die Si­cher­heit der Ent­wick­lung aber einen un­schätz­ba­ren Wert be­deu­ten. Denn die­se von au­ßen kom­men­den As­so­zia­tio­nen und er­borg­ten Ge­füh­le tra­gen die jun­gen Leu­te über den ge­fähr­lich wei­chen see­li­schen Bo­den die­ser Jah­re hin­weg, wo man sich selbst et­was be­deu­ten muss und doch noch zu un­fer­tig ist, um wirk­lich et­was zu be­deu­ten. Ob für spä­ter bei dem einen et­was da­von zu­rück­bleibt oder bei dem an­de­ren nichts, ist gleich­gül­tig; dann fin­det sich schon je­der mit sich ab, und die Ge­fahr be­steht nur in dem Al­ter des Über­gan­ges. Wenn man da solch ei­nem jun­gen Men­schen das Lä­cher­li­che sei­ner Per­son zur Ein­sicht brin­gen könn­te, so wür­de der Bo­den un­ter ihm ein­bre­chen, oder er wür­de wie ein er­wach­ter Nacht­wand­ler her­ab­stür­zen, der plötz­lich nichts als Lee­re sieht.
Die­se Il­lu­si­on, die­ser Trick zu­guns­ten der Ent­wick­lung fehl­te im In­sti­tu­te. Denn dort wa­ren in der Biblio­thek wohl die Klas­si­ker ent­hal­ten, aber die­se gal­ten als lang­wei­lig, und sonst fan­den sich nur sen­ti­men­ta­le No­vel­len­bän­de und witz­lo­se Mi­li­tär­hu­mo­res­ken.
Der klei­ne Tör­less hat­te sie wohl alle förm­lich in ei­ner Gier nach Bü­chern durch­ge­le­sen, ir­gend­ei­ne ba­nal zärt­li­che Vor­stel­lung aus ein oder der an­de­ren No­vel­le wirk­te manch­mal auch noch eine Wei­le nach, al­lein einen Ein­fluss, einen wirk­li­chen Ein­fluss, nahm dies auf sei­nen Cha­rak­ter nicht.
Es schi­en da­mals, dass er über­haupt kei­nen Cha­rak­ter habe.
Er schrieb zum Bei­spiel un­ter dem Ein­flus­se die­ser Lek­tü­re selbst hie und da eine klei­ne Er­zäh­lung oder be­gann ein ro­man­ti­sches Epos zu dich­ten. In der Er­re­gung über die Lie­bes­lei­den sei­ner Hel­den rö­te­ten sich dann sei­ne Wan­gen, sei­ne Pul­se be­schleu­nig­ten sich und sei­ne Au­gen glänz­ten.
Wie er aber die Fe­der aus der Hand leg­te, war al­les vor­bei; ge­wis­ser­ma­ßen nur in der Be­we­gung leb­te sein Geist. Da­her war es ihm auch mög­lich, ein Ge­dicht oder eine Er­zäh­lung wann im­mer, auf jede Auf­for­de­rung hin, nie­der­zu­schrei­ben. Er reg­te sich da­bei auf, aber trotz­dem nahm er es nie ganz ernst, und die Tä­tig­keit er­schi­en ihm nicht wich­tig. Es ging von ihr nichts auf sei­ne Per­son über, und sie ging nicht von sei­...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Impressum
  3. Danke
  4. Newsletter abonnieren
  5. Die Verwirrungen des Zöglings Törless
  6. Das weitere Verlagsprogramm