Wilhelm Meisters Lehrjahre
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Wilhelm Meisters Lehrjahre

Roman

  1. 904 Seiten
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Wilhelm Meisters Lehrjahre

Roman

Über dieses Buch

Fassung in aktueller Rechtschreibung

Wilhelm Meisters Lehrjahre ist ein klassischer Bildungsroman von Johann Wolfgang von Goethe. Der wegweisende Entwicklungsroman erschien 1795/96.

Die Fortsetzung Wilhelm Meisters Wanderjahre wurde 1821 bzw. 1829 veröffentlicht.

Null Papier Verlag

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Information

Auflage
3
Achtes Buch

Erstes Kapitel

Fe­lix war in den Gar­ten ge­sprun­gen, Wil­helm folg­te ihm mit Ent­zücken, der schöns­te Mor­gen zeig­te je­den Ge­gen­stand mit neu­en Rei­zen, und Wil­helm ge­noss den hei­ters­ten Au­gen­blick. Fe­lix war neu in der frei­en und herr­li­chen Welt, und sein Va­ter nicht viel be­kann­ter mit den Ge­gen­stän­den, nach de­nen der Klei­ne wie­der­holt und un­er­mü­det frag­te. Sie ge­sell­ten sich end­lich zum Gärt­ner, der die Na­men und den Ge­brauch man­cher Pflan­zen her­er­zäh­len muss­te; Wil­helm sah die Na­tur durch ein neu­es Or­gan, und die Neu­gier­de, die Wiss­be­gier­de des Kin­des lie­ßen ihn erst füh­len, welch ein schwa­ches In­ter­es­se er an den Din­gen au­ßer sich ge­nom­men hat­te, wie we­nig er kann­te und wuss­te. An die­sem Tage, dem ver­gnüg­tes­ten sei­nes Le­bens, schi­en auch sei­ne eig­ne Bil­dung erst an­zu­fan­gen; er fühl­te die Not­wen­dig­keit, sich zu be­leh­ren, in­dem er zu leh­ren auf­ge­for­dert ward.
Jar­no und der Abbé hat­ten sich nicht wie­der se­hen las­sen; abends ka­men sie und brach­ten einen Frem­den mit. Wil­helm ging ihm mit Er­stau­nen ent­ge­gen, er trau­te sei­nen Au­gen nicht: es war Wer­ner, der gleich­falls einen Au­gen­blick an­stand, ihn an­zu­er­ken­nen. Bei­de um­arm­ten sich aufs zärt­lichs­te, und bei­de konn­ten nicht ver­ber­gen, dass sie sich wech­sels­wei­se ver­än­dert fan­den. Wer­ner be­haup­te­te, sein Freund sei grö­ßer, stär­ker, ge­ra­der, in sei­nem We­sen ge­bil­de­ter und in sei­nem Be­tra­gen an­ge­neh­mer ge­wor­den. »Et­was von sei­ner al­ten Treu­her­zig­keit ver­miss ich«, setz­te er hin­zu. »Sie wird sich auch schon wie­der zei­gen, wenn wir uns nur von der ers­ten Ver­wun­de­rung er­holt ha­ben«, sag­te Wil­helm.
Es fehl­te viel, dass Wer­ner einen gleich vor­teil­haf­ten Ein­druck auf Wil­hel­men ge­macht hät­te. Der gute Mann schi­en eher zu­rück- als vor­wärts­ge­gan­gen zu sein. Er war viel ma­ge­rer als ehe­mals, sein spit­zes Ge­sicht schi­en fei­ner, sei­ne Nase län­ger zu sein, sei­ne Stirn und sein Schei­tel wa­ren von Haa­ren ent­blö­ßt, sei­ne Stim­me hell, hef­tig und schrei­end, und sei­ne ein­ge­drück­te Brust, sei­ne vor­fal­len­den Schul­tern, sei­ne farb­lo­sen Wan­gen lie­ßen kei­nen Zwei­fel üb­rig, dass ein ar­beit­sa­mer Hy­po­chon­drist ge­gen­wär­tig sei.
Wil­helm war be­schei­den ge­nug, um sich über die­se große Ver­än­de­rung sehr mä­ßig zu er­klä­ren, da der an­de­re hin­ge­gen sei­ner freund­schaft­li­chen Freu­de völ­li­gen Lauf ließ. »Wahr­haf­tig!« rief er aus, »wenn du dei­ne Zeit schlecht an­ge­wen­det und, wie ich ver­mu­te, nichts ge­won­nen hast, so bist du doch in­des­sen ein Per­sön­chen ge­wor­den, das sein Glück ma­chen kann und muss; ver­schlen­de­re und ver­schleu­de­re nur auch das nicht wie­der: du sollst mir mit die­ser Fi­gur eine rei­che und schö­ne Er­bin er­kau­fen.« – »Du wirst doch«, ver­setz­te Wil­helm lä­chelnd, »dei­nen Cha­rak­ter nicht ver­leug­nen! Kaum fin­dest du nach lan­ger Zeit dei­nen Freund wie­der, so siehst du ihn schon als eine Ware, als einen Ge­gen­stand dei­ner Spe­ku­la­ti­on an, mit dem sich et­was ge­win­nen lässt.«
Jar­no und der Abbé schie­nen über die­se Er­ken­nung kei­nes­we­ges ver­wun­dert und lie­ßen bei­de Freun­de sich nach Be­lie­ben über das Ver­gan­ge­ne und Ge­gen­wär­ti­ge aus­brei­ten. Wer­ner ging um sei­nen Freund her­um, dreh­te ihn hin und her, so­dass er ihn fast ver­le­gen mach­te. »Nein! Nein!« rief er aus, »so was ist mir noch nicht vor­ge­kom­men, und doch weiß ich wohl, dass ich mich nicht be­trie­ge. Dei­ne Au­gen sind tiefer, dei­ne Stirn ist brei­ter, dei­ne Nase fei­ner und dein Mund lieb­rei­cher ge­wor­den. Seht nur ein­mal, wie er steht! Wie das al­les passt und zu­sam­men­hängt! Wie doch das Fau­len­zen ge­dei­het! Ich ar­mer Teu­fel da­ge­gen« – er be­sah sich im Spie­gel – »wenn ich die­se Zeit her nicht recht viel Geld ge­won­nen hät­te, so wäre doch auch gar nichts an mir.«
Wer­ner hat­te Wil­helms letz­ten Brief nicht emp­fan­gen; ihre Hand­lung war das frem­de Haus, mit wel­chem Lo­tha­rio die Gü­ter in Ge­mein­schaft zu kau­fen die Ab­sicht hat­te. Die­ses Ge­schäft führ­te Wer­nern hier­her; er hat­te kei­ne Ge­dan­ken, Wil­hel­men auf sei­nem Wege zu fin­den. Der Ge­richts­hal­ter kam, die Pa­pie­re wur­den vor­ge­legt, und Wer­ner fand die Vor­schlä­ge bil­lig. »Wenn Sie es mit die­sem jun­gen Man­ne, wie es scheint, gut mei­nen«, sag­te er, »so sor­gen Sie selbst da­für, dass un­ser Teil nicht ver­kürzt wer­de; es soll von mei­nem Freun­de ab­hän­gen, ob er das Gut an­neh­men und einen Teil sei­nes Ver­mö­gens dar­an wen­den will.« Jar­no und der Abbé ver­si­cher­ten, dass es die­ser Erin­ne­rung nicht be­dür­fe. Man hat­te die Sa­che kaum im All­ge­mei­nen ver­han­delt, als Wer­ner sich nach ei­ner Par­tie L’hom­bre sehn­te, wozu sich denn auch gleich der Abbé und Jar­no mit hin­setz­ten; er war es nun ein­mal so ge­wohnt, er konn­te des Abends ohne Spiel nicht le­ben.
Als die bei­den Freun­de nach Ti­sche al­lein wa­ren, be­frag­ten und be­spra­chen sie sich sehr leb­haft über al­les, was sie sich mit­zu­tei­len wünsch­ten. Wil­helm rühm­te sei­ne Lage und das Glück sei­ner Auf­nah­me un­ter so treff­li­chen Men­schen. Wer­ner da­ge­gen schüt­tel­te den Kopf und sag­te: »Man soll­te doch auch nichts glau­ben, als was man mit Au­gen sieht! Mehr als ein dienst­fer­ti­ger Freund hat mir ver­si­chert, du leb­test mit ei­nem lie­der­li­chen jun­gen Edel­mann, führ­test ihm Schau­spie­le­rin­nen zu, häl­fest ihm sein Geld durch­brin­gen und sei­est schuld, dass er mit sei­nen sämt­li­chen An­ver­wand­ten ge­spannt sei.« – »Es wür­de mich um mei­net- und um der gu­ten Men­schen wil­len ver­drie­ßen, dass wir so ver­kannt wer­den«, ver­setz­te Wil­helm, »wenn mich nicht mei­ne thea­tra­li­sche Lauf­bahn mit je­der übeln Nach­re­de ver­söhnt hät­te. Wie soll­ten die Men­schen un­se­re Hand­lun­gen be­ur­tei­len, die ih­nen nur ein­zeln und ab­ge­ris­sen er­schei­nen, wo­von sie das we­nigs­te se­hen, weil Gu­tes und Bö­ses im ver­bor­ge­nen ge­schieht und eine gleich­gül­ti­ge Er­schei­nung meis­tens nur an den Tag kommt. Bringt man ih­nen doch Schau­spie­ler und Schau­spie­le­rin­nen auf er­höh­te Bret­ter, zün­det von al­len Sei­ten Licht an, das gan­ze Werk ist in we­nig Stun­den ab­ge­schlos­sen, und doch weiß sel­ten je­mand ei­gent­lich, was er dar­aus ma­chen soll.«
Nun ging es an ein Fra­gen nach der Fa­mi­lie, nach den Ju­gend­freun­den und der Va­ter­stadt. Wer­ner er­zähl­te mit großer Hast al­les, was sich ver­än­dert hat­te und was noch be­stand und ge­sch­ah. »Die Frau­en im Hau­se«, sag­te er, »sind ver­gnügt und glück­lich, es fehlt nie an Geld. Die eine Hälf­te der Zeit brin­gen sie zu, sich zu put­zen, und die an­de­re Hälf­te, sich ge­putzt se­hen zu las­sen. Haus­häl­te­risch sind sie so­viel, als bil­lig ist. Mei­ne Kin­der las­sen sich zu ge­schei­ten Jun­gen an. Ich sehe sie im Geis­te schon sit­zen und schrei­ben und rech­nen, lau­fen, han­deln und trö­deln; ei­nem je­den soll so bald als mög­lich ein eig­nes Ge­wer­be ein­ge­rich­tet wer­den, und was un­ser Ver­mö­gen be­trifft, dar­an sollst du dei­ne Lust se­hen. Wenn wir mit den Gü­tern in Ord­nung sind, musst du gleich mit nach Hau­se: denn es sieht doch aus, als wenn du mit ei­ni­ger Ver­nunft in die mensch­li­chen Un­ter­neh­mun­gen ein­grei­fen könn­test. Dei­ne neu­en Freun­de sol­len ge­prie­sen sein, da sie dich auf den rech­ten Weg ge­bracht ha­ben. Ich bin ein när­ri­scher Teu­fel und mer­ke erst, wie lieb ich dich habe, da ich mich nicht satt an dir se­hen kann, dass du so wohl und so gut aus­siehst. Das ist doch noch eine an­de­re Ge­stalt als das Por­trät, das du ein­mal an die Schwes­ter schick­test und wor­über im Hau­se großer Streit war. Mut­ter und Toch­ter fan­den den jun­gen Herrn al­ler­liebst mit off­nem Hal­se, halb­frei­er Brust, großer Krau­se, her­um­hän­gen­dem Haar, run­dem Hut, kur­z­em West­chen und schlot­tern­den lan­gen Ho­sen, in­des­sen ich be­haup­te­te, das Ko­stüm sei nur noch zwei Fin­ger breit vom Hans­wurst. Nun siehst du doch aus wie ein Mensch, nur fehlt der Zopf, in den ich dei­ne Haa­re ein­zu­bin­den bit­te, sonst hält man dich denn doch ein­mal un­ter­wegs als Ju­den an und for­dert Zoll und Ge­lei­te von dir.«
Fe­lix war in­des­sen in die Stu­be ge­kom­men und hat­te sich, als man auf ihn nicht ach­te­te, aufs Kana­pee ge­legt und war ein­ge­schla­fen. »Was ist das für ein Wurm?« frag­te Wer­ner. Wil­helm hat­te in dem Au­gen­bli­cke den Mut nicht, die Wahr­heit zu sa­gen, noch Lust, eine doch im­mer zwei­deu­ti­ge Ge­schich­te ei­nem Man­ne zu er­zäh­len, der von Na­tur nichts we­ni­ger als gläu­big war.
Die gan­ze Ge­sell­schaft be­gab sich nun­mehr auf die Gü­ter, um sie zu be­se­hen und den Han­del ab­zu­schlie­ßen. Wil­helm ließ sei­nen Fe­lix nicht von der Sei­te und freu­te sich um des Kna­ben wil­len recht leb­haft des Be­sit­zes, dem man ent­ge­gensah. Die Lüs­tern­heit des Kin­des nach den Kir­schen und Bee­ren, die bald reif wer­den soll­ten, er­in­ner­te ihn an die Zeit sei­ner Ju­gend und an die viel­fa­che Pf­licht des Va­ters, den Sei­ni­gen den Ge­nuss vor­zu­be­rei­ten, zu ver­schaf­fen und zu er­hal­ten. Mit wel­chem In­ter­es­se be­trach­te­te er die Baum­schu­len und die Ge­bäu­de! Wie leb­haft sann er dar­auf, das Ver­nach­läs­sig­te wie­der­her­zu­stel­len und das Ver­fal­le­ne zu er­neu­ern! Er sah die Welt nicht mehr wie ein Zug­vo­gel an, ein Ge­bäu­de nicht mehr für eine ge­schwind zu­sam­men­ge­stell­te Lau­be, die ver­trock­net, ehe man sie ver­lässt. Al­les, was er an­zu­le­gen ge­dach­te, soll­te dem Kna­ben ent­ge­gen­wach­sen, und al­les, was er her­stell­te, soll­te eine Dau­er auf ei­ni­ge Ge­schlech­ter ha­ben. In die­sem Sin­ne wa­ren sei­ne Lehr­jah­re ge­en­digt, und mit dem Ge­fühl des Va­ters hat­te er auch alle Tu­gen­den ei­nes Bür­gers er­wor­ben. Er fühl­te es, und sei­ner Freu­de konn­te nichts glei­chen. »O der un­nö­ti­gen Stren­ge der Moral!« rief er aus, »da die Na­tur uns auf ihre lieb­li­che Wei­se zu al­lem bil­det, was wir sein sol­len. O der selt­sa­men An­for­de­run­gen der bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft, die uns erst ver­wirrt und miss­lei­tet und dann mehr als die Na­tur selbst von uns for­dert! Wehe je­der Art von Bil­dung, wel­che die wirk­sams­ten Mit­tel wah­rer Bil­dung zer­stört und uns auf das Ende hin­weist, an­statt uns auf dem Wege selbst zu be­glücken!«
So man­ches er auch in sei­nem Le­ben schon ge­se­hen hat­te, so schi­en ihm doch die mensch­li­che Na­tur erst durch die Beo­b­ach­tung des Kin­des deut­lich zu wer­den. Das Thea­ter war ihm, wie die Welt, nur als eine Men­ge aus­ge­schüt­te­ter Wür­fel vor­ge­kom­men, de­ren je­der ein­zeln auf sei­ner Ober­flä­che bald mehr, bald we­ni­ger be­deu­tet und die al­len­falls zu­sam­men­ge­zählt eine Sum­me ma­chen. Hier im Kin­de lag ihm, konn­te man sa­gen, ein ein­zel­ner Wür­fel vor, auf des­sen viel­fa­chen Sei­ten der Wert und der Un­wert der mensch­li­chen Na­tur so deut­lich ein­ge­gra­ben war.
Das Ver­lan­gen des Kin­des nach Un­ter­schei­dung wuchs mit je­dem Tage. Da es ein­mal er­fah­ren hat­te, dass die Din­ge Na­men ha­ben, so woll­te es auch den Na­men von al­lem hö­ren; es glaub­te nicht an­ders, sein Va­ter müs­se al­les wis­sen, quäl­te ihn oft mit Fra­gen und gab ihm An­lass, sich nach Ge­gen­stän­den zu er­kun­di­gen, de­nen er sonst we­nig Auf­merk­sam­keit ge­wid­met hat­te. Auch der ein­ge­bor­ne Trieb, die Her­kunft und das Ende der Din­ge zu er­fah­ren, zeig­te sich frü­he bei dem Kna­ben. Wenn er frag­te, wo der Wind her­kom­me und wo die Flam­me hin­kom­me, war dem Va­ter sei­ne ei­ge­ne Be­schrän­kung erst recht le­ben­dig; er wünsch­te zu er­fah­ren, wie weit sich der Mensch mit sei­nen Ge­dan­ken wa­gen und wo­von er hof­fen dür­fe sich und an­de­ren je­mals Re­chen­schaft zu ge­ben. Die Hef­tig­keit des Kin­des, wenn es ir­gend­ei­nem le­ben­di­gen We­sen Un­recht ge­sche­hen sah, er­freu­te den Va­ter höch­lich als das Zei­chen ei­nes treff­li­chen Ge­müts. Das Kind schlug hef­tig nach dem Kü­chen­mäd­chen, das ei­ni­ge Tau­ben ab­ge­schnit­ten hat­te. Die­ser schö­ne Be­griff wur­de denn frei­lich bald wie­der zer­stört, als er den Kna­ben fand, der ohne Barm­her­zig­keit Frösche tot­schlug und Schmet­ter­lin­ge zer­rupf­te. Es er­in­ner­te ihn die­ser Zug an so vie­le Men­schen, die höchst ge­recht er­schei­nen, wenn sie ohne Lei­den­schaft sind und die Hand­lun­gen an­de­rer be­ob­ach­ten.
Die­ses an­ge­neh­me Ge­fühl, dass der Kna­be so einen schö­nen und wah­ren Ein­fluss auf sein Da­sein habe, ward einen Au­gen­blick ge­stört, als Wil­helm in kur­z­em be­merk­te, dass wirk­lich der Kna­be mehr ihn als er den Kna­ben er­zie­he. Er hat­te an dem Kin­de nichts aus­zu­set­zen, er war nicht im­stan­de, ihm eine Rich­tung zu ge­ben, die es nicht selbst nahm, und so­gar die Un­ar­ten, ge­gen die Au­re­lie so viel ge­ar­bei­tet hat­te, wa­ren, so schi­en es, nach dem Tode die­ser Freun­din alle wie­der in ihre al­ten Rech­te ge­tre­ten. Noch mach­te das Kind die Türe nie­mals hin­ter sich zu, noch woll­te er sei­nen Tel­ler nicht ab­es­sen, und sein Be­ha­gen war nie­mals grö­ßer, als wenn man ihm nachsah, dass er den Bis­sen un­mit­tel­bar aus der Schüs­sel neh­men, das vol­le Glas ste­hen­las­sen und aus der Fla­sche trin­ken konn­te. So war er auch ganz al­ler­liebst, wenn er sich mit ei­nem Bu­che in die Ecke setz­te und sehr ernst­haft sag­te: »Ich muss das ge­lehr­te Zeug stu­die­ren!«, ob er gleich die Buch­sta­ben noch lan­ge we­der un­ter­schei­den konn­te noch woll­te.
Be­dach­te nun Wil­helm, wie we­nig er bis­her für das Kind ge­tan hat­te, wie we­nig er zu tun fä­hig sei, so ent­stand eine Un­ru­he in ihm, die sein gan­zes Glück auf­zu­wie­gen im­stan­de war. »Sind wir Män­ner denn«, sag­te er zu sich, »so selbstisch ge­bo­ren, dass wir un­mög­lich für ein We­sen au­ßer uns Sor­ge tra­gen kön­nen? Bin ich mit dem Kna­ben nicht eben auf dem Wege, auf dem ich mit Mi­gnon war? Ich zog das lie­be Kind an, sei­ne Ge­gen­wart er­götz­te mich, und da­bei hab ich es aufs grau­sams­te ver­nach­läs­sigt. Was tat ich zu sei­ner Bil­dung, nach der es so sehr streb­te? Nichts! Ich über­ließ es sich selbst und al­len Zu­fäl­lig­kei­ten, de­nen es in ei­ner un­ge­bil­de­ten Ge­sell­schaft nur aus­ge­setzt sein konn­te; und dann für die­sen Kna­ben, der dir so merk­wür­dig war, ehe er dir so wert sein konn­te, hat dich denn dein Herz ge­hei­ßen, auch nur je­mals das ge­rings­te für ihn zu tun? Es ist nicht mehr Zeit, dass du dei­ne ei­ge­nen Jah­re und die Jah­re an­de­rer ver­geu­dest; nimm dich zu­sam­men, und den­ke, was du für dich und die gu­ten Ge­schöp­fe zu tun hast, wel­che Na­tur und Nei­gung so fest an dich knüpf­te.«
Ei­gent­lich war die­ses Selbst­ge­spräch nur eine Ein­lei­tung, sich zu be­ken­nen, dass er schon ge­dacht, ge­sorgt, ge­sucht und ge­wählt hat­te; er konn­te nicht län­ger zö­gern, sich es selbst zu ge­ste­hen. Nach oft ver­ge­bens wie­der­hol­tem Schmerz über den Ver­lust Ma­ria­nens fühl­te er nur zu deut­lich, dass er eine Mut­ter für den Kna­ben su­chen müs­se und dass er sie nicht sich­rer als in The­re­sen fin­den wer­de. Er kann­te die­ses vor­treff­li­che Frau­en­zim­mer ganz. Eine sol­che Gat­tin und Ge­hil­fin schi­en die ein­zi­ge zu sein, der man sich und die Sei­nen an­ver­trau­en könn­te. Ihre edle Nei­gung zu Lo­tha­rio mach­te ihm kei­ne Be­denk­lich­keit. Sie wa­ren durch ein son­der­ba­res Schick­sal auf ewig ge­trennt, The­re­se hielt sich für frei und hat­te von ei­ner Hei­rat zwar mit Gleich­gül­tig­keit, doch als von ei­ner Sa­che ge­spro­chen, die sich von selbst ver­steht.
Nach­dem er lan­ge mit sich zu Rate ge­gan­gen war, nahm er sich vor, ihr von sich zu sa­gen, so­viel er nur wuss­te. Sie soll­te ihn ken­nen­ler­nen, wie er sie kann­te, und er fing nun an, sei­ne ei­ge­ne Ge­schich­te durch­zu­den­ken; sie schi­en ihm an Be­ge­ben­hei­ten so leer und im gan­zen je­des Be­kennt­nis so we­nig zu sei­nem Vor­teil, dass er mehr als ein­mal von dem Vor­satz ab­zu­stehn im Be­griff war. End­lich ent­schloss er sich, die Rol­le sei­ner Lehr­jah­re aus dem Tur­me von Jar­no zu ver­lan­gen; die­ser sag­te: »Es ist eben zur rech­ten Zeit«, und Wil­helm er­hielt sie.
Es ist eine schau­der­haf­te Emp­fin­dung, wenn ein ed­ler Mensch mit Be­wusst­sein auf dem Punk­te steht, wo er über sich selbst auf­ge­klärt wer­den soll. Alle Über­gän­ge sind Kri­sen, und ist eine Kri­se nicht Krank­heit? Wie un­gern tritt man nach ei­ner Krank­heit vor den Spie­gel! Die Bes­se­rung fühlt man, und man sieht nur die Wir­kung des ver­gan­ge­nen Übels. Wil­helm war in­des­sen vor­be­rei­tet ge­nug, die Um­stän­de hat­ten schon leb­haft zu ihm ge­spro­chen, sei­ne Freun­de hat­ten ihn eben nicht ge­schont, und wenn er gleich das Per­ga­ment mit ei­ni­ger Hast auf­roll­te, so ward er doch im­mer ru­hi­ger, je wei­ter er las. Er fand die um­ständ­li­che Ge­schich­te sei­nes Le­bens in großen, schar­fen Zü­gen ge­schil­dert; we­der ein­zel­ne Be­ge­ben­hei­ten noch be­schränk­te Emp­fin­dun­gen ver­wirr­ten sei­nen Blick, all­ge­mei­ne lie­be­vol­le Be­trach­tun­gen ga­ben ihm Fin­ger­zei­ge, ohne ihn zu be­schä­men, und er sah zum ers­ten Mal sein Bild au­ßer sich, zwar nicht wie im Spie­gel ein zwei­tes Selbst, son­dern wie im Por­trät ein an­de­res Selbst: man be­kennt sich zwar nicht zu al­len Zü­gen, aber man freut sich, dass ein den­ken­der Geist uns so hat fas­sen, ein großes Ta­lent uns so hat dar­stel­len wol­len, dass ein Bild von dem, was wir wa­ren, noch be­steht und dass es län­ger als wir selbst dau­ern kann.
Wil­helm be­schäf­tig­te sich nun­mehr, in­dem alle Um­stän­de durch dies Ma­nu­skript in sein Ge­dächt­nis zu­rück­ka­men, die Ge­schich­te sei­nes Le­bens für The­re­sen auf­zu­set­zen, und er schäm­te sich fast, dass er ge­gen ihre großen Tu­gen­den nichts auf­zu­stel­len hat­te, was eine zweck­mä­ßi­ge Tä­tig­keit be­wei­sen konn­te. So um­ständ­lich er in dem Auf­sat­ze war, so kurz fass­te er sich in dem Brie­fe, den er an sie schrieb; er bat sie um ihre Freund­schaft, um ihre Lie­be, wenn’s mög­lich wäre; er bot ihr sei­ne Hand an und bat sie um bal­di­ge Ent­schei­dung.
Nach ei­ni­gem in­ner­li­chen Streit, ob er die­se wich­ti­ge Sa­che noch erst mit sei­nen Freun­den, mit Jar­no und dem Abbé, be­ra­ten sol­le, ent­schied er sich zu schwei­gen. Er war zu fest ent­schlos­sen, die Sa­che war für ihn zu wich­tig, als dass er sie noch hät­te dem Ur­teil des ver­nünf­tigs­ten und bes­ten Man­nes un­ter­wer­fen mö­gen; ja so­gar brauch­te er die Vor­sicht, sei­nen Brief auf der nächs­ten Post selbst zu be­stel­len. Vi­el­leicht hat­te ihm der Ge­dan­ke, dass er in so vie­len Um­stän­den sei­nes Le­bens, in de­nen er frei und im ver­bor­ge­nen zu han­deln glaub­te, be­ob­ach­tet, ja so­gar ge­lei­tet wor­den war, wie ihm aus der ge­schrie­be­nen Rol­le nicht un­deut­lich er­schi­en, eine Art von un­an­ge­neh­mer Emp­fin­dung ge­ge­ben, und nun woll­te er we­nigs­tens zu The­re­sens Her­zen rein vom Her­zen re­den und ih­rer Ent­schlie­ßung und Ent­schei­dung sein Schick­sal schul­dig sein, und so mach­te er sich kein Ge­wis­sen, sei­ne Wäch­ter und Auf­se­her in die­sem wich­ti­gen Punk­te we­nigs­tens zu um­ge­hen.

Zweites Kapitel

Kaum war der Brief ab­ge­sen­det, als Lo­tha­rio zu­rück­kam. Je­der­mann freu­e­te sich, die vor­be­rei­te­ten wich­ti­gen Ge­schäf­te ab­ge­schlos­sen und bald ge­en­digt zu se­hen, und Wil­helm er­war­te­te mit Ver­lan­gen, wie so vie­le Fä­den teils neu ge­knüpft, teils auf­ge­löst und nun sein eig­nes Ver­hält­nis auf die Zu­kunft be­stimmt wer­den soll­te. Lo­tha­rio be­grüß­te sie alle aufs bes­te; er war völ­lig wie­der­her­ge­stellt und hei­ter, er hat­te das An­se­hen ei­nes Man­nes, der weiß, was er tun soll, und dem in al­lem, was er tun will, nichts im Wege steht.
Wil­helm konn­te ihm sei­nen herz­li­chen Gruß nicht zu­rück­ge­ben. »Dies ist«, muss­te er zu sich selbst sa­gen, »der Freund, der Ge­lieb­te, der Bräu­ti­gam The­re­sens, an des­sen Statt du dich ein­zu­drän­gen denkst. Glaubst du denn je­mals einen sol­chen Ein­druck aus­zu­lö­schen oder zu ver­ban­nen?« Wäre der Brief noch nicht fort ge­we­sen, er hät­te viel­leicht nicht ge­wagt, ihn ab­zu­sen­den. Glück­li­cher­wei­se war der Wurf schon ge­tan, viel­leicht war The­re­se schon ent­schie­den, nur die Ent­fer­nung deck­te noch eine glück­li­che Vollen­dung mit ih­rem Schlei­er. Ge­winn und Ver­lust muss­ten sich bald ent­schei­den. Er such­te sich durch alle die­se Be­trach­tun­gen zu be­ru­hi­gen, und doch wa­ren die Be­we­gun­gen sei­nes Her­zens bei­na­he fie­ber­haft. Nur we­nig Auf­merk­sam­keit konn­te er auf das wich­ti­ge Ge­schäft wen­den, wor­an ge­wis­ser­ma­ßen das Schick­sal sei­nes gan­zen Ver­mö­gens hing. Ach! Wie un­be­deu­tend er­scheint dem Men­schen in lei­den­schaft­li­chen Au­gen­bli­cken al­les, was ihn um­gibt, al­les, was ihm an­ge­hört!
Zu sei­nem Glücke be­han­del­te Lo­tha­rio die Sa­che groß, und Wer­ner mit Leich­tig­keit. Die­ser hat­te bei sei­ner hef­ti­gen Be­gier­de zum Er­werb eine leb­haf­te Freu­de über den schö­nen Be­sitz, der ihm oder viel­mehr sei­nem Freun­de wer­den soll­te. Lo­tha­rio von sei­ner Sei­te schi­en ganz an­de­re Be­trach­tun­gen zu ma­chen. »Ich kann mich nicht so­wohl über einen Be­sitz freu­en«, sag­te er, »als über die Rec...

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