Die Wahlverwandtschaften
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Die Wahlverwandtschaften

Ein Roman

  1. 380 Seiten
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Die Wahlverwandtschaften

Ein Roman

Über dieses Buch

Goethes "Wahlverwandtschaften" ist ein Roman aus dem Jahr 1809. Er beschreibt die Geschichte des in abgeschiedener Zweisamkeit lebenden Paares Charlotte und Eduard, deren Ehe durch das Aufeinandertreffen mit zwei Gästen auseinanderzubrechen droht.

Der Roman markiert den Übergang hin zu Goethes Alterswerk und wir oft als sein bester und zugleich auch als sein rätselhaftester bezeichnet.

Null Papier Verlag

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Information

Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Im ge­mei­nen Le­ben be­geg­net uns oft, was wir in der Epo­pöe als Kunst­griff des Dich­ters zu rüh­men pfle­gen, dass näm­lich, wenn die Haupt­fi­gu­ren sich ent­fer­nen, ver­ber­gen, sich der Un­tä­tig­keit hin­ge­ben, gleich so­dann schon ein Zwei­ter, Drit­ter, bis­her kaum Be­merk­ter den Platz füllt und, in­dem er sei­ne gan­ze Tä­tig­keit äu­ßert, uns gleich­falls der Auf­merk­sam­keit, der Teil­nah­me, ja des Lo­bes und Prei­ses wür­dig er­scheint.
So zeig­te sich gleich nach der Ent­fer­nung des Haupt­manns und Eduards je­ner Archi­tekt täg­lich be­deu­ten­der, von wel­chem die An­ord­nung und Aus­füh­rung so man­ches Un­ter­neh­mens al­lein ab­hing, wo­bei er sich ge­nau, ver­stän­dig und tä­tig er­wies und zu­gleich den Da­men auf man­cher­lei Art bei­stand und in stil­len, lang­wie­ri­gen Stun­den sie zu un­ter­hal­ten wuss­te. Schon sein Äu­ße­res war von der Art, dass es Zu­trau­en ein­flö­ßte und Nei­gung er­weck­te. Ein Jüng­ling im vol­len Sin­ne des Wor­tes, wohl­ge­baut, schlank, eher ein we­nig zu groß, be­schei­den ohne ängst­lich, zu­trau­lich ohne zu­drin­gend zu sein. Freu­dig über­nahm er jede Sor­ge und Be­mü­hung, und weil er mit großer Leich­tig­keit rech­ne­te, so war ihm bald das gan­ze Haus­we­sen kein Ge­heim­nis, und über­all­hin ver­brei­te­te sich sein güns­ti­ger Ein­fluss. Die Frem­den ließ man ihn ge­wöhn­lich emp­fan­gen, und er wuss­te einen un­er­war­te­ten Be­such ent­we­der ab­zu­leh­nen oder die Frau­en we­nigs­tens der­ge­stalt dar­auf vor­zu­be­rei­ten, dass ih­nen kei­ne Un­be­quem­lich­keit dar­aus ent­sprang.
Un­ter an­de­ren gab ihm ei­nes Ta­ges ein jun­ger Rechts­ge­lehr­ter viel zu schaf­fen, der, von ei­nem be­nach­bar­ten Edel­mann ge­sen­det, eine Sa­che zur Spra­che brach­te, die, zwar von kei­ner son­der­li­chen Be­deu­tung, Char­lot­ten den­noch in­nig be­rühr­te. Wir müs­sen die­ses Vor­falls ge­den­ken, weil er ver­schie­de­nen Din­gen einen An­stoß gab, die sonst viel­leicht lan­ge ge­ruht hät­ten.
Wir er­in­nern uns je­ner Ver­än­de­rung, wel­che Char­lot­te mit dem Kirch­ho­fe vor­ge­nom­men hat­te. Die sämt­li­chen Mo­nu­men­te wa­ren von ih­rer Stel­le ge­rückt und hat­ten an der Mau­er, an dem So­ckel der Kir­che Platz ge­fun­den. Der üb­ri­ge Raum war ge­eb­net. Au­ßer ei­nem brei­ten Wege, der zur Kir­che und an der­sel­ben vor­bei zu dem jen­sei­ti­gen Pfört­chen führ­te, war das üb­ri­ge al­les mit ver­schie­de­nen Ar­ten Klee be­sä­et, der auf das schöns­te grün­te und blüh­te. Nach ei­ner ge­wis­sen Ord­nung soll­ten vom Ende her­an die neu­en Grä­ber be­stellt, doch der Platz je­der­zeit wie­der ver­gli­chen und eben­falls be­sä­et wer­den. Nie­mand konn­te leug­nen, dass die­se An­stalt beim sonn- und fest­tä­gi­gen Kirch­gang eine hei­te­re und wür­di­ge An­sicht ge­währ­te. So­gar der be­tag­te und an al­ten Ge­wohn­hei­ten haf­ten­de Geist­li­che, der an­fäng­lich mit der Ein­rich­tung nicht son­der­lich zu­frie­den ge­we­sen, hat­te nun­mehr sei­ne Freu­de dar­an, wenn er un­ter den al­ten Lin­den, gleich Phi­le­mon, mit sei­ner Bau­cis vor der Hin­ter­tü­re ru­hend, statt der holp­ri­gen Grab­stät­ten einen schö­nen, bun­ten Tep­pich vor sich sah, der noch über­dies sei­nem Haus­halt zu­gu­te kom­men soll­te, in­dem Char­lot­te die Nut­zung die­ses Fleckes der Pfar­re zu­si­chern las­sen.
Al­lein des­un­ge­ach­tet hat­ten schon man­che Ge­mein­de­glie­der frü­her ge­miss­bil­ligt, dass man die Be­zeich­nung der Stel­le, wo ihre Vor­fah­ren ruh­ten, auf­ge­ho­ben und das An­den­ken da­durch gleich­sam aus­ge­löscht; denn die wohl­er­hal­te­nen Mo­nu­men­te zei­gen zwar an, wer be­gra­ben sei, aber nicht, wo er be­gra­ben sei, und auf das Wo kom­me es ei­gent­lich an, wie vie­le be­haup­te­ten.
Von eben­sol­cher Ge­sin­nung war eine be­nach­bar­te Fa­mi­lie, die sich und den Ih­ri­gen einen Raum auf die­ser all­ge­mei­nen Ru­he­stät­te vor meh­re­ren Jah­ren aus­be­dun­gen und da­für der Kir­che eine klei­ne Stif­tung zu­ge­wen­det hat­te. Nun war der jun­ge Rechts­ge­lehr­te ab­ge­sen­det, um die Stif­tung zu wi­der­ru­fen und an­zu­zei­gen, dass man nicht wei­ter­zah­len wer­de, weil die Be­din­gung, un­ter wel­cher die­ses bis­her ge­sche­hen, ein­sei­tig auf­ge­ho­ben und auf alle Vor­stel­lun­gen und Wi­der­re­den nicht ge­ach­tet wor­den. Char­lot­te, die Ur­he­be­rin die­ser Ver­än­de­rung, woll­te den jun­gen Mann selbst spre­chen, der zwar leb­haft, aber nicht all­zu vor­laut sei­ne und sei­nes Prin­zi­pals Grün­de dar­leg­te und der Ge­sell­schaft man­ches zu den­ken gab.
»Sie se­hen«, sprach er nach ei­nem kur­z­en Ein­gang, in wel­chem er sei­ne Zu­dring­lich­keit zu recht­fer­ti­gen wuss­te, »Sie se­hen, dass dem Ge­rings­ten wie dem Höchs­ten dar­an ge­le­gen ist, den Ort zu be­zeich­nen, der die Sei­ni­gen auf­be­wahrt. Dem ärms­ten Land­mann, der ein Kind be­gräbt, ist es eine Art von Trost, ein schwa­ches höl­zer­nes Kreuz auf das Grab zu stel­len, es mit ei­nem Kran­ze zu zie­ren, um we­nigs­tens das An­den­ken so lan­ge zu er­hal­ten, als der Schmerz währt, wenn auch ein sol­ches Merk­zei­chen, wie die Trau­er selbst, durch die Zeit auf­ge­ho­ben wird. Wohl­ha­ben­de ver­wan­deln die­se Kreu­ze in ei­ser­ne, be­fes­ti­gen und schüt­zen sie auf man­cher­lei Wei­se, und hier ist schon Dau­er für meh­re­re Jah­re. Doch weil auch die­se end­lich sin­ken und un­schein­bar wer­den, so ha­ben Be­gü­ter­te nichts An­ge­le­ge­ne­res, als einen Stein auf­zu­rich­ten, der für meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen zu dau­ern ver­spricht und von den Nach­kom­men er­neut und auf­ge­frischt wer­den kann. Aber die­ser Stein ist es nicht, der uns an­zieht, son­dern das dar­un­ter Ent­hal­te­ne, das da­ne­ben der Erde Ver­trau­te. Es ist nicht so­wohl vom An­den­ken die Rede als von der Per­son selbst, nicht von der Erin­ne­rung, son­dern von der Ge­gen­wart. Ein ge­lieb­tes Ab­ge­schie­de­nes um­ar­me ich weit eher und in­ni­ger im Grab­hü­gel als im Denk­mal, denn die­ses ist für sich ei­gent­lich nur we­nig; aber um das­sel­be her sol­len sich wie um einen Mark­stein Gat­ten, Ver­wand­te, Freun­de selbst nach ih­rem Hin­schei­den noch ver­sam­meln, und der Le­ben­de soll das Recht be­hal­ten, Frem­de und Miss­wol­len­de auch von der Sei­te sei­ner ge­lieb­ten Ru­hen­den ab­zu­wei­sen und zu ent­fer­nen.
Ich hal­te des­we­gen da­für, dass mein Prin­zi­pal völ­lig recht habe, die Stif­tung zu­rück­zu­neh­men; und dies ist noch bil­lig ge­nug, denn die Glie­der der Fa­mi­lie sind auf eine Wei­se ver­letzt, wo­für gar kein Er­satz zu den­ken ist. Sie sol­len das schmerz­lich süße Ge­fühl ent­beh­ren, ih­ren Ge­lieb­ten ein To­ten­op­fer zu brin­gen, die tröst­li­che Hoff­nung, der­einst un­mit­tel­bar ne­ben ih­nen zu ru­hen.«
»Die Sa­che ist nicht von der Be­deu­tung«, ver­setz­te Char­lot­te, »dass man sich des­halb durch einen Rechts­han­del be­un­ru­hi­gen soll­te. Mei­ne An­stalt reut mich so we­nig, dass ich die Kir­che gern we­gen des­sen, was ihr ent­geht, ent­schä­di­gen will. Nur muss ich Ih­nen auf­rich­tig ge­ste­hen: Ihre Ar­gu­men­te ha­ben mich nicht über­zeugt. Das rei­ne Ge­fühl ei­ner end­li­chen all­ge­mei­nen Gleich­heit, we­nigs­tens nach dem Tode, scheint mir be­ru­hi­gen­der als die­ses ei­gen­sin­ni­ge, star­re Fort­set­zen un­se­rer Per­sön­lich­kei­ten, An­häng­lich­kei­ten und Le­bens­ver­hält­nis­se. – Und was sa­gen Sie hier­zu?« rich­te­te sie ihre Fra­ge an den Archi­tek­ten.
»Ich möch­te«, ver­setz­te die­ser, »in ei­ner sol­chen Sa­che we­der strei­ten noch den Aus­schlag ge­ben. Las­sen Sie mich das, was mei­ner Kunst, mei­ner Denk­wei­se am nächs­ten liegt, be­schei­dent­lich äu­ßern. Seit­dem wir nicht mehr so glück­lich sind, die Res­te ei­nes ge­lieb­ten Ge­gen­stan­des ein­geurnt an un­se­re Brust zu drücken, da wir we­der reich noch hei­ter ge­nug sind, sie un­ver­sehrt in großen, wohl­aus­ge­zier­ten Sar­ko­pha­gen zu ver­wah­ren, ja da wir nicht ein­mal in den Kir­chen mehr Platz für uns und für die Uns­ri­gen fin­den, son­dern hin­aus ins Freie ge­wie­sen sind, so ha­ben wir alle Ur­sa­che, die Art und Wei­se, die Sie, mei­ne gnä­di­ge Frau, ein­ge­lei­tet ha­ben, zu bil­li­gen. Wenn die Glie­der ei­ner Ge­mein­de rei­hen­wei­se ne­ben­ein­an­der lie­gen, so ru­hen sie bei und un­ter den Ih­ri­gen; und wenn die Erde uns ein­mal auf­neh­men soll, so fin­de ich nichts na­tür­li­cher und rein­li­cher, als dass man die zu­fäl­lig ent­stan­de­nen, nach und nach zu­sam­men­sin­ken­den Hü­gel un­ge­säumt ver­glei­che und so die De­cke, in­dem alle sie tra­gen, ei­nem je­den leich­ter ge­macht wer­de.«
»Und ohne ir­gend­ein Zei­chen des An­den­kens, ohne ir­gen­det­was, das der Erin­ne­rung ent­ge­gen­käme, soll­te das al­les so vor­über­ge­hen?« ver­setz­te Ot­ti­lie.
»Kei­nes­wegs!« fuhr der Archi­tekt fort; »nicht vom An­den­ken, nur vom Plat­ze soll man sich los­sa­gen. Der Bau­künst­ler, der Bild­hau­er sind höch­lich in­ter­es­siert, dass der Mensch von ih­nen, von ih­rer Kunst, von ih­rer Hand eine Dau­er sei­nes Da­seins er­war­te; und des­we­gen wünsch­te ich gut ge­dach­te, gut aus­ge­führ­te Mo­nu­men­te, nicht ein­zeln und zu­fäl­lig aus­ge­sä­et, son­dern an ei­nem Orte auf­ge­stellt, wo sie sich Dau­er ver­spre­chen kön­nen. Da selbst die From­men und Ho­hen auf das Vor­recht Ver­zicht tun, in den Kir­chen per­sön­lich zu ru­hen, so stel­le man we­nigs­tens dort oder in schö­nen Hal­len um die Be­gräb­nisplät­ze Denk­zei­chen, Denk­schrif­ten auf. Es gibt tau­sen­der­lei For­men, die man ih­nen vor­schrei­ben, tau­sen­der­lei Zie­ra­ten, wo­mit man sie aus­schmücken kann.«
»Wenn die Künst­ler so reich sind«, ver­setz­te Char­lot­te, »so sa­gen Sie mir doch: Wie kann man sich nie­mals aus der Form ei­nes klein­li­chen Obe­lis­ken, ei­ner ab­ge­stutz­ten Säu­le und ei­nes Aschen­krugs her­aus­fin­den? An­statt der tau­send Er­fin­dun­gen, de­ren Sie sich rüh­men, habe ich im­mer nur tau­send Wie­der­ho­lun­gen ge­se­hen.«
»Das ist wohl bei uns so«, ent­geg­ne­te ihr der Archi­tekt, »aber nicht über­all. Und über­haupt mag es mit der Er­fin­dung und der schick­li­chen An­wen­dung eine eig­ne Sa­che sein. Be­son­ders hat es in die­sem Fal­le man­che Schwie­rig­keit, einen erns­ten Ge­gen­stand zu er­hei­tern und bei ei­nem un­er­freu­li­chen nicht ins Uner­freu­li­che zu ge­ra­ten. Was Ent­wür­fe zu Mo­nu­men­ten al­ler Art be­trifft, de­ren habe ich vie­le ge­sam­melt und zei­ge sie ge­le­gent­lich; doch bleibt im­mer das schöns­te Denk­mal des Men­schen ei­ge­nes Bild­nis. Die­ses gibt mehr als ir­gen­det­was an­ders einen Be­griff von dem, was er war; es ist der bes­te Text zu vie­len oder we­ni­gen No­ten; nur müss­te es aber auch in sei­ner bes­ten Zeit ge­macht sein, wel­ches ge­wöhn­lich ver­säumt wird. Nie­mand denkt dar­an, le­ben­de For­men zu er­hal­ten, und wenn es ge­schieht, so ge­schieht es auf un­zu­läng­li­che Wei­se. Da wird ein To­ter ge­schwind noch ab­ge­gos­sen und eine sol­che Mas­ke auf einen Block ge­setzt, und das heißt man eine Büs­te. Wie sel­ten ist der Künst­ler im­stan­de, sie völ­lig wie­der­zu­be­le­ben!«
»Sie ha­ben, ohne es viel­leicht zu wis­sen und zu wol­len«, ver­setz­te Char­lot­te, »dies Ge­spräch ganz zu mei­nen Guns­ten ge­lenkt. Das Bild ei­nes Men­schen ist doch wohl un­ab­hän­gig; über­all, wo es steht, steht es für sich, und wir wer­den von ihm nicht ver­lan­gen, dass es die ei­gent­li­che Grab­stät­te be­zeich­ne. Aber soll ich Ih­nen eine wun­der­li­che Emp­fin­dung be­ken­nen? Selbst ge­gen die Bild­nis­se habe ich eine Art von Ab­nei­gung; denn sie schei­nen mir im­mer einen stil­len Vor­wurf zu ma­chen; sie deu­ten auf et­was Ent­fern­tes, Ab­ge­schie­de­nes und er­in­nern mich, wie schwer es sei, die Ge­gen­wart recht zu eh­ren. Ge­denkt man, wie viel Men­schen man ge­se­hen, ge­kannt, und ge­steht sich, wie we­nig wir ih­nen, wie we­nig sie uns ge­we­sen, wie wird uns da zu­mu­te! Wir be­geg­nen dem Geistrei­chen, ohne uns mit ihm zu un­ter­hal­ten, dem Ge­lehr­ten, ohne von ihm zu ler­nen, dem Ge­reis­ten, ohne uns zu un­ter­rich­ten, dem Lie­be­vol­len, ohne ihm et­was An­ge­neh­mes zu er­zei­gen.
Und lei­der er­eig­net sich dies nicht bloß mit den Vor­über­ge­hen­den. Ge­sell­schaf­ten und Fa­mi­li­en be­tra­gen sich so ge­gen ihre liebs­ten Glie­der, Städ­te ge­gen ihre wür­digs­ten Bür­ger, Völ­ker ge­gen ihre treff­lichs­ten Fürs­ten, Na­tio­nen ge­gen ihre vor­züg­lichs­ten Men­schen.
Ich hör­te fra­gen, warum man von den To­ten so un­be­wun­den Gu­tes sage, von den Le­ben­den im­mer mit ei­ner ge­wis­sen Vor­sicht. Es wur­de geant­wor­tet: weil wir von je­nen nichts zu be­fürch­ten ha­ben und die­se uns noch ir­gend­wo in den Weg kom­men könn­ten. So un­rein ist die Sor­ge für das An­den­ken der an­de­ren; es ist meist nur ein selbsti­scher Scherz, wenn es da­ge­gen ein hei­li­ger Ernst wäre, sei­ne Ver­hält­nis­se ge­gen die Über­blie­be­nen im­mer le­ben­dig und tä­tig zu er­hal­ten.«

Zweites Kapitel

Auf­ge­regt durch den Vor­fall und die dar­an sich knüp­fen­den Ge­sprä­che, be­gab man sich des an­de­ren Ta­ges nach dem Be­gräb­nis­platz, zu des­sen Ver­zie­rung und Er­hei­te­rung der Archi­tekt man­chen glück­li­chen Vor­schlag tat. Al­lein auch auf die Kir­che soll­te sich sei­ne Sorg­falt er­stre­cken, auf ein Ge­bäu­de, das gleich an­fäng­lich sei­ne Auf­merk­sam­keit an sich ge­zo­gen hat­te.
Die­se Kir­che stand seit meh­rern Jahr­hun­der­ten, nach deut­scher Art und Kunst in gu­ten Ma­ßen er­rich­tet und auf eine glück­li­che Wei­se ver­ziert. Man konn­te wohl nach­kom­men, dass der Bau­meis­ter ei­nes be­nach­bar­ten Klos­ters mit Ein­sicht und Nei­gung sich auch an die­sem klei­ne­ren Ge­bäu­de be­währt, und es wirk­te noch im­mer ernst und an­ge­nehm auf den Be­trach­ter, ob­gleich die in­ne­re neue Ein­rich­tung zum pro­tes­tan­ti­schen Got­tes­diens­te ihm et­was von sei­ner Ruhe und Ma­je­stät ge­nom­men hat­te.
Dem Archi­tek­ten fiel es nicht schwer, sich von Char­lot­ten eine mä­ßi­ge Sum­me zu er­bit­ten, wo­von er das Äu­ße­re so­wohl als das In­ne­re im al­ter­tüm­li­chen Sin­ne her­zu­stel­len und mit dem da­vor­lie­gen­den Au­fer­ste­hungs­fel­de zur Über­ein­stim­mung zu brin­gen ge­dach­te. Er hat­te selbst viel Hand­ge­schick, und ei­ni­ge Ar­bei­ter, die noch am Haus­bau be­schäf­tigt wa­ren, woll­te man gern so lan­ge bei­be­hal­ten, bis auch die­ses from­me Werk vollen­det wäre.
Man war nun­mehr in dem Fal­le, das Ge­bäu­de selbst mit al­len Um­ge­bun­gen und An­ge­bäu­den zu un­ter­su­chen, und da zeig­te sich zum größ­ten Er­stau­nen und Ver­gnü­gen des Archi­tek­ten eine we­nig be­merk­te klei­ne Sei­ten­ka­pel­le von noch geist­rei­chern und leich­tern Ma­ßen, von noch ge­fäl­li­gern und flei­ßi­gern Zie­ra­ten. Sie ent­hielt zu­gleich man­chen ge­schnitz­ten und ge­mal­ten Rest je­nes äl­te­ren Got­tes­diens­tes, der mit man­cher­lei Ge­bild und Gerät­schaft die ver­schie­de­nen Fes­te zu be­zeich­nen und je­des auf sei­ne eig­ne Wei­se zu fei­ern wuss­te.
Der Archi­tekt konn­te nicht un­ter­las­sen, die Ka­pel­le so­gleich in sei­nen Plan mit her­ein­zu­zie­hen und be­son­ders die­sen en­gen Raum als ein Denk­mal vo­ri­ger Zei­ten und ih­res Ge­schmacks wie­der­her­zu­stel­len. Er hat­te sich die lee­ren Flä­chen nach sei­ner Nei­gung schon ver­ziert ge­dacht und freu­te sich, da­bei sein ma­le­ri­sches Ta­lent zu üben; al­lein er mach­te sei­nen Haus­ge­nos­sen fürs ers­te ein Ge­heim­nis da­von.
Vor al­lem an­de­ren zeig­te er ver­spro­che­ner­ma­ßen den Frau­en die ver­schie­de­nen Nach­bil­dun­gen und Ent­wür­fe von al­ten Grab­mo­nu­men­ten, Ge­fäßen und an­de­ren da­hin sich nä­hern­den Din­gen, und als man im Ge­spräch auf die ein­fa­chern Grab­hü­gel der nor­di­schen Völ­ker zu re­den kam, brach­te er sei­ne Samm­lung von man­cher­lei Waf­fen und Gerät­schaf­ten, die dar­in ge­fun­den wor­den, zur An­sicht. Er hat­te al­les sehr rein­lich und trag­bar in Schub­la­den und Fä­chern auf ein­ge­schnit­te­nen, mit Tuch über­zo­ge­nen Bret­tern, so­dass die­se al­ten, erns­ten Din­ge durch sei­ne Be­hand­lung et­was Putz­haf­tes an­nah­men und man mit Ver­gnü­gen dar­auf wie auf die Käst­chen ei­nes Mo­de­händ­lers hin­blick­te. Und da er ein­mal im Vor­zei­gen war, da die Ein­sam­keit eine Un­ter­hal­tung for­der­te, so pfleg­te er je­den Abend mit ei­nem Teil sei­ner Schät­ze her­vor­zu­tre­ten. Sie wa­ren meis­ten­teils deut­schen Ur­sprungs: Brak­tea­ten, Dick­mün­zen, Sie­gel und was sonst sich noch an­schlie­ßen mag. Alle die­se Din­ge rich­te­ten die Ein­bil­dungs­kraft ge­gen die äl­te­re Zeit hin, und da er zu­letzt mit den An­fän­gen des Drucks, Holz­schnit­ten und den äl­tes­ten Kup­fern sei­ne Un­ter­hal­tung zier­te und die Kir­che täg­lich auch, je­nem Sin­ne ge­mäß, an Far­be und sons­ti­ger Aus­zie­rung gleich­sam der Ver­gan­gen­heit ent­ge­gen­wuchs, so muss­te man sich bei­na­he selbst fra­gen, ob man denn wirk­lich in der neue­ren Zeit lebe, ob es nicht ein Traum sei, dass man nun­mehr in ganz an­de­ren Sit­ten, Ge­wohn­hei­ten, Le­bens­wei­sen und Über­zeu­gun­gen ver­wei­le.
Auf sol­che Art vor­be­rei­tet, tat ein grö­ße­res Por­te­feuil­le, das er zu­letzt her­bei­brach­te, die bes­te Wir­kung. Es ent­hielt zwar meist nur um­ris­se­ne Fi­gu­ren, die aber, weil sie auf die Bil­der selbst durch­ge­zeich­net wa­ren, ih­ren al­ter­tüm­li­chen Cha­rak­ter voll­kom­men er­hal­ten hat­ten, und die­sen, wie ein­neh­mend fan­den ihn die Be­schau­en­den! Aus al­len Ge­stal­ten blick­te nur das reins­te Da­sein her­vor; alle muss­te man, wo nicht für edel, doch für gut an­spre­chen. Hei­te­re Samm­lung, wil­li­ge Aner­ken­nung ei­nes Ehr­wür­di­gen über uns, stil­le Hin­ge­bung in Lie­be und Er­war­tung war auf al­len Ge­sich­tern, in al­len Ge­bär­den aus­ge­drückt. Der Greis mit dem kah­len Schei­tel, der reich­lo­cki­ge Kna­be, der mun­te­re Jüng­ling, der erns­te Mann, der ver­klär­te Hei­li­ge, der schwe­ben­de En­gel, alle schie­nen se­lig in ei­nem un­schul­di­gen Ge­nü­gen, in ei­nem from­men Er­war­ten. Das Ge­meins­te, was ge­sch­ah, hat­te einen Zug von himm­li­schem Le­ben, und eine got­tes­dienst­li­che Hand­lung schi­en ganz je­der Na­tur an­ge­mes­sen.
Nach ei­ner sol­chen Re­gi­on bli­cken wohl die meis­ten wie nach ei­nem ver­schwun­de­nen gol­de­nen Zeit­al­ter, nach ei­nem ver­lo­re­nen Pa­ra­die­se hin. Nur viel­leicht Ot­ti­lie war in dem Fall, sich un­ter ih­res­glei­chen zu füh­len.
Wer hät­te nun wi­der­ste­hen kön­nen, als der Archi­tekt sich er­bot, nach dem An­lass die­ser Ur­bil­der die Räu­me zwi­schen den Spitz­bo­gen der Ka­pel­le aus­zu­ma­len und da­durch sein An­den­ken ent­schie­den an ei­nem Orte zu stif­ten, wo es ihm so gut ge­gan­gen war. Er er­klär­te sich hier­über mit ei­ni­ger Weh­mut; denn er konn­te nach der Lage der Sa­che wohl ein­se­hen, dass sein Auf­ent­halt in so voll­kom­me­ner Ge­sell­schaft nicht im­mer dau­ern kön­ne, ja viel­leicht bald ab­ge­bro­chen wer­den müs­se.
Üb­ri­gens wa­ren die­se Tage zwar nicht reich an Be­ge­ben­hei­ten, doch vol­ler An­läs­se zu ernst­haf­ter Un­ter­hal­tung. Wir neh­men da­her Ge­le­gen­heit, von demje­ni­gen, was Ot­ti­lie sich dar­aus in ih­ren Hef­ten an­ge­merkt, ei­ni­ges mit­zu­tei­len, wozu wir kei­nen schick­li­chern Über­gang fin­den als durch ein Gleich­nis, das sich uns beim Be­trach­ten ih­rer lie­bens­wür­di­gen Blät­ter auf­dringt.
Wir hö­ren von ei­ner be­son­dern Ein­rich­tung bei der eng­li­schen Ma­ri­ne. Sämt­li­che Tau­wer­ke der kö­nig­li­chen Flot­te, vom stärks­ten bis zum schwächs­ten, sind der­ge­stalt ge­spon­nen, dass ein ro­ter Fa­den durch das Gan­ze durch­geht, den man nicht her­aus­win­den kann, ohne al­les auf­zu­lö­sen, und wor­an auch die kleins­ten Stücke kennt­lich sind, dass sie der Kro­ne ge­hö­ren.
Eben­so zieht sich durch Ot­ti­li­ens Ta­ge­buch ein Fa­den der Nei­gung und An­häng­lich­keit, der al­les ver­bin­det und das Gan­ze be­zeich­net. Da­durch wer­den die­se Be­mer­kun­gen, Be­trach­tun­gen, aus­ge­zo­ge­nen Sinn­sprü­che und was sonst vor­kom­men mag, der Schrei­ben­den ganz be­son­ders ei­gen und für sie von Be­deu­tung. Selbst jede ein­zel­ne von uns aus­ge­wähl­te und mit­ge­teil­te Stel­le gibt da­von das ent­schie­dens­te Zeug­nis.
Aus Ot­ti­li­ens Ta­ge­bu­che
Ne­ben de­nen der­einst zu ru­hen, die man liebt, ist die an­ge­nehms­te Vor­stel­lung, wel­che der Mensch ha­ben kann, wenn er ein­mal über das Le­ben hin­aus­denkt. »Zu den Sei­ni­gen ver­sam­melt wer­den« ist ein so herz­li­cher Aus­druck.
Es gibt man­cher­lei Denk­ma­le und Merk­zei­chen, die uns Ent­fern­te und Ab­ge­schie­de­ne nä­her brin­gen. Keins ist von der Be­deu­tung des Bil­des. Die Un­ter­hal­tung mit ei­nem ge­lieb­ten Bil­de, selbst wenn es un­ähn­lich ist, hat was Rei­zen­des, wie es manch­mal et­was Rei­zen­des hat, sich mit ei­nem Freun­de strei­ten. Man fühlt auf eine an­ge­neh­me Wei­se, dass man zu zwei­en ist und doch nicht aus­ein­an­der kann.
Man un­ter­hält sich manch­mal mit ei­nem ge­gen­wär­ti­gen Men­schen als mit ei­nem Bil­de. Er braucht nicht zu spre­chen, uns nicht an­zu­se­hen, sich nicht mit uns zu be­schäf­ti­gen; wir se­hen ihn, wir füh­len un­ser Ver­hält­nis zu ihm, ja so­gar un­se­re Ver­hält­nis­se zu ihm kön­nen wach­sen, ohne dass er et­was dazu tut, ohne dass er et­was da­von emp­fin­det, dass er sich eben bloß zu uns wie ein Bild ver­hält.
Man ist nie­mals mit ei­nem Por­trät zu­frie­den von Per­so­ne...

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