Wilhelm Raabe – Gesammelte Werke
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Wilhelm Raabe – Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

  1. 9,107 Seiten
  2. German
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Wilhelm Raabe – Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Über dieses Buch

Wilhelm Karl Raabe war ein deutscher Schriftsteller. Er war ein Vertreter des poetischen Realismus, bekannt für seine gesellschaftskritischen Erzählungen, Novellen und Romane.

Null Papier Verlag

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Information

Auflage
3
Der Hungerpastor

Erstes Kapitel

Vom Hun­ger will ich in die­sem schö­nen Bu­che han­deln, von dem, was er be­deu­tet, was er will und was er ver­mag. Wie er für die Welt im gan­zen Schi­wa und Wisch­nu, Zer­stö­rer und Er­hal­ter in ei­ner Per­son ist, kann ich frei­lich nicht aus­ein­an­der­set­zen, denn das ist die Sa­che der Ge­schich­te; aber schil­dern kann ich, wie er im ein­zel­nen zer­stö­rend und er­hal­tend wirkt und wir­ken wird bis an der Welt Ende.
Dem Hun­ger, der hei­li­gen Macht des ech­ten, wah­ren Hun­gers wid­me ich die­se Blät­ter, und sie ge­hö­ren ihm auch von Rechts we­gen, was am Schluss hof­fent­lich voll­kom­men klar­ge­wor­den sein wird. Mit letz­te­rer Ver­si­che­rung bin ich in ei­ner wei­te­ren Vor­re­de, wel­che zur Ge­müt­lich­keit, Er­re­gung und Auf­re­gung des Le­sers doch nur das we­nigs­te bei­tra­gen wür­de, über­ho­ben und be­gin­ne mei­ne Ge­schich­te mit un­be­grenz­tem Wohl­wol­len so­wohl ge­gen die Mit­welt und Nach­welt als auch ge­gen mich sel­ber und alle mir im Lauf der Er­zäh­lung vor­über­glei­ten­den Schat­ten­bil­der des großen Ent­ste­hens, Seins und Ver­ge­hens – des un­end­li­chen Wer­dens, wel­ches man Welt­ent­wick­lung nennt, wel­ches frei­lich ein we­nig in­ter­essan­ter und rei­cher als die­ses Buch ist, das aber auch nicht wie die­ses Buch in drei Tei­len zu ei­nem be­frie­di­gen­den Ab­schluss kom­men muss.
»Da ha­ben wir den Jun­gen! Da ha­ben wir ihn end­lich – end­lich!« rief der Va­ter mei­nes Hel­den und tat einen lan­gen, er­leich­tern­den Atem­zug, wie ein Mann, der lan­ges, ver­geb­li­ches Seh­nen, schwe­re Ar­beit, vie­le Mü­hen und Sor­gen ge­tra­gen hat und end­lich glück­lich zu ei­nem glück­li­chen Ziel ge­kom­men ist. Mit klu­gen, glän­zen­den Au­gen sah er her­ab auf das un­an­sehn­li­che, küm­mer­li­che Stück Men­schen­tum, wel­ches ihm die We­he­mut­ter in die Arme ge­legt hat­te, grad als die Fei­er­abend­glo­cke er­klang. Eine Trä­ne stahl sich über die ha­ge­re Ba­cke des Man­nes, und die schar­fe, spit­ze, klu­ge vä­ter­li­che Nase senk­te sich im­mer tiefer ge­gen das un­be­deu­ten­de, kaum er­kenn­ba­re Näs­chen des Neu­ge­bo­re­nen, bis sie plötz­lich mit ei­nem Ruck wie­der em­por­fuhr und sich ängst­lich fra­gend ge­gen die gute, hilf­rei­che Frau, die so­viel zu sei­nem Ent­zücken bei­ge­tra­gen hat­te, rich­te­te.
»O Frau Ge­vat­te­rin – Ge­vat­te­rin Tie­bus, es ist doch wirk­lich, wirk­lich ei­ner? Sag­t’s noch ein­mal, dass Ihr Euch nicht irrt – dass dem wirk­lich, wirk­lich so ist!«
Die We­he­mut­ter, wel­che bis jetzt mit selbst­be­wuss­tem, lä­cheln­dem Kopf­ni­cken der ers­ten zärt­li­chen Be­grü­ßung zwi­schen Va­ter und Sohn zu­ge­se­hen hat­te, hob nun eben­falls ihre Nase sehr ruck­ar­tig, ver­scheuch­te mit ei­ner un­nach­ahm­li­chen Be­we­gung bei­der Arme alle Geis­ter und Geis­ter­chen des Wohl­wol­lens und der Zufrie­den­heit, von wel­chen sie bis jetzt um­flat­tert wur­de, stemm­te die Fäus­te in die Sei­te, und mit Hohn, Ver­ach­tung und be­lei­dig­tem Selbst­ge­fühl sprach sie:
»Meis­ter Un­wirrsch, Ihr seid ein Narr! Lasst Euch an die Wand ma­len! … Ob es ei­ner ist? – Hat die Welt je so was ge­hört von sol­chem al­ten, ver­stän­di­gen Men­schen und Haus­va­ter? … Ob es ei­ner ist!? Meis­ter Un­wirrsch, ich glau­be, nächs­tens ver­lernt Ihr noch, einen Stie­fel von ei­nem Schuh zu un­ter­schei­den. Da sieht man’s recht, was für ein Lei­den es ist, wenn die Got­tes­ga­be so spät kommt. Ist das kein Jun­ge, den Ihr da hal­tet? Ist das wirk­lich kein Jun­ge, kein rich­ti­ger, ech­ter Jun­ge? Je­sus, wenn die alte Krea­tur nicht das arme Ge­schöpf in den Ar­men hiel­te, so möch­te ich ihr schon eine Tach­tel um solch ’ne nichts­nut­zi­ge, für­wit­zi­ge Fra­ge ste­chen! Kein Jun­ge!? Wohl ist es ein Jun­ge, Ge­vat­ter Pech­draht – zwar kei­ner von die schwers­ten, aber doch ’n Jun­ge wie was! Und wie­so, ist’s kein Jun­ge? Ist nicht der Buohnoh­partch, der Nahpoh­li­on wie­der un­ter­we­gens übers Was­ser, und gib­t’s nicht Krieg und Katz­bal­ge­rei zwi­schen heut und mor­gen, und braucht man et­wan kei­ne Jun­gen, und wer­den nicht et­wan in jet­zi­ger ge­seg­ne­ter und ge­schla­ge­ner Zeit mehr Jun­gen als Mäd­chen drum in die Welt ge­setzt, und kom­men nicht auf ein Mäd­chen drei Jun­gen, und kommt Ihr mir so, Ge­vat­ter, und wollt ei­ner ge­wi­ckel­ten und ge­wieg­ten Per­schon nichts­wür­di­ge Fra­gen stel­len? Lasst Euch an die Wand ma­len, Ge­vat­ter Un­wirrsch, und drun­ter schrei­ben, wo­für ich Euch hal­te. Gebt her den Jun­gen, Ihr seid gar nicht wert, dass er sich mit Euch ab­gibt – marsch, fort mit Euch zu Eu­rer Frau – am Ende fragt Ihr die auch noch, ob’s – ein – Jun­ge – ist!«
Unsanft wur­de das Wi­ckel­kind aus den Ar­men des ver­ach­te­ten, nie­der­ge­schmet­ter­ten Va­ters ge­ris­sen, und nach aber­ma­li­gem Atem­ho­len hum­pel­te der Meis­ter An­ton Un­wirrsch in die Kam­mer zu sei­ner Frau, und die Glo­cken des Fei­er­abends läu­te­ten im­mer noch; wir aber wol­len we­der die bei­den Ehe­gat­ten noch die Glo­cken stö­ren – sie sol­len ihre Ge­füh­le aus­klin­gen las­sen, und nie­mand soll drein­re­den und -schrei­en dür­fen. –
Arme Leu­te und rei­che Leu­te le­ben auf ver­schie­de­ne Art in die­ser Welt; aber wenn die Son­ne des Glücks in ihre Hüt­ten, Häu­ser oder Pa­läs­te scheint, so ver­gol­det sie mit ganz dem näm­li­chen Schein die höl­zer­ne Bank wie den Samtses­sel, die ge­tünch­te Wand wie die ver­gol­de­te, und mehr als ein phi­lo­so­phi­scher Schlau­kopf will be­merkt ha­ben, dass, was Freu­de und Leid be­trifft, der Un­ter­schied zwi­schen rei­chen und ar­men Leu­ten gar so groß nicht sei, wie man auf bei­den Sei­ten oft, sehr oft, un­ge­mein oft denkt. Wir wol­len das da­hin­ge­stellt sein las­sen; uns ge­nügt es, dass das La­chen nicht Mo­no­pol und das Wei­nen nicht Ser­vi­tut ist auf die­sem rund­li­chen, an bei­den Po­len ab­ge­plat­te­ten, feu­er­ge­füll­ten Ball, auf wel­chem wir uns ohne un­sern Wil­len ein­fin­den und von wel­chem wir ohne un­sern Wil­len ab­ge­hen, nach­dem uns der Zwi­schen­raum zwi­schen Kom­men und Ge­hen sau­er ge­nug ge­macht wur­de.
In ar­mer Leu­te Haus schi­en jetzt die Son­ne, das Glück beug­te sein Haupt un­ter der nie­de­ren Tür und trat lä­chelnd her­ein, bei­de Hän­de of­fen zum Gruß dar­bie­tend. Es war hohe Freu­de über die Ge­burt des Soh­nes bei den El­tern, dem Schus­ter Un­wirrsch und sei­ner Frau, wel­che so lan­ge dar­auf ge­war­tet hat­ten, dass sie nahe dar­an wa­ren, sol­che Hoff­nung gänz­lich auf­zu­ge­ben.
Und nun war er doch ge­kom­men, ge­kom­men eine Stun­de vor dem Fei­er­abend! Die gan­ze Kröp­pel­stra­ße wuss­te be­reits um das Er­eig­nis, und selbst zum Meis­ter Ni­ko­laus Grü­ne­baum, dem Bru­der der Wöch­ne­rin, wel­cher ziem­lich am an­de­ren Ende der Stadt wohn­te, war die fro­he Bot­schaft ge­drun­gen. Ein grin­sen­der Schus­ter­jun­ge, der sei­ne Pan­tof­feln, um schnel­ler lau­fen zu kön­nen, un­ter den Arm ge­nom­men hat­te, brach­te die Nach­richt da­hin und schrie sie atem­los dem Meis­ter in das we­ni­ger tau­be Ohr, was zur Fol­ge hat­te, dass der gute Mann wäh­rend fünf Mi­nu­ten viel düm­mer aus­sah, als er war. Jetzt aber war er be­reits auf dem Wege zur Kröp­pel­stra­ße, und da er als Bür­ger, Haus­be­sit­zer und an­säs­si­ger Meis­ter die Pan­tof­feln nicht un­ter den Arm neh­men konn­te, so war da­von die Fol­ge, dass ihn der eine treu­los an ei­ner Stra­ßen­e­cke ver­ließ, um das Le­ben auf ei­ge­ne Hand oder viel­mehr auf ei­ge­ner Soh­le an­zu­fan­gen.
Als der Oheim Grü­ne­baum in dem Hau­se sei­nes Schwa­gers an­kam, fand er da­selbst so vie­le gute Nach­ba­rin­nen mit Ratschlä­gen und Mei­nungs­äu­ße­run­gen vor, dass er sich in sei­ner jam­mer­haf­ten Ei­gen­schaft als al­ter Jung­ge­sell und aus­ge­spro­che­ner Wei­ber­has­ser höchst über­flüs­sig er­schei­nen muss­te. Er er­schi­en sich auch in sol­chem Lich­te und wäre bei­na­he um­ge­kehrt, wenn ihn nicht der Ge­dan­ke an den in dem »Lärm­sal« elen­dig ver­las­se­nen Schwa­ger und Hand­werks­ge­nos­sen doch dazu ge­bracht hät­te, sei­ne Ge­füh­le zu be­meis­tern. Brum­mend und grun­zend dräng­te er sich durch das Frau­en­volk und fand end­lich rich­tig den Schwa­ger in ei­ner auch nicht sehr be­nei­dens­wer­ten und leuch­ten­den Lage und Stel­lung.
Man hat­te den Ar­men voll­stän­dig bei­sei­te ge­scho­ben. Aus der Kam­mer der Wöch­ne­rin hat­te ihn die Frau Tie­bus hin­aus­ge­maß­re­gelt; in der Stu­be un­ter den Nach­ba­rin­nen war er auch voll­kom­men über­flüs­sig; der Ge­vat­ter Grü­ne­baum ent­deck­te ihn end­lich küm­mer­lich in ei­nem Win­kel, wo er zu­sam­men­ge­drückt auf ei­nem Sche­mel saß und Teil­nah­me nur an der Haus­kat­ze fand, die sich an sei­nen Bei­nen rieb. Aber in sei­nen Au­gen war noch im­mer je­ner Glanz, der aus ei­ner an­de­ren Welt zu stam­men scheint: der Meis­ter Un­wirrsch hör­te nichts von dem Flüs­tern und Schnat­tern der Wei­ber, er sah nichts von ih­rem Durchein­an­der, er sah auch den Schwa­ger nicht, bis die­ser ihn an den Schul­tern pack­te und ihn auf nicht sehr sanf­te Art ins Be­wusst­sein zu­rück­schüt­tel­te.
»Gib ’n Zei­chen, dass du noch beis la­ben­di­ge Da­sein bist, An­ton!« brumm­te der Meis­ter Grü­ne­baum. »Sei ’n Mensch und ’n Mann, wirf die Weibs­leu­te ’raus, alle, bis auf – bis auf die Base Schlot­ter­beck dort. Denn ob­schonst der Dei­bel die Gra­den und die Un­gra­den nimmt, so ist das doch die ein­zigs­te drun­ter, die ’nen Men­schen we­nigs­tens alle Stun­de ein­mal zu Wor­te kom­men lässt. Willst du nicht? Kannst du nicht? Darfst du nicht? Auch gut, so fass hin­ten mei­ne Ja­cke, dass ich dich si­cher aus dem Tu­mult brin­ge; komm die Trep­pe her­auf und lass es ge­hen, wie es will. Also der Jun­ge ist da? Na, gott­lob! Ich dach­te schon, wir hät­ten wie­der ver­geb­lich ge­lau­ert.«
Durch die Wei­ber scho­ben sich seit­wärts die bei­den Hand­werks­ge­nos­sen, ge­lang­ten mit Mühe auf den Haus­flur und stie­gen die enge, knar­ren­de Trep­pe hin­auf, wel­che in das obe­re Stock­werk des Hau­ses führ­te, all­wo die Base Schlot­ter­beck ein Stüb­chen, eine Kam­mer und eine Kü­che ge­mie­tet hat­te und wo also die Fa­mi­lie Un­wirrsch nur noch über ein Ge­mach ge­bot, wel­ches so mit Ge­gen­stän­den von al­ler­lei Art voll­ge­pfropft war, dass für die bei­den eh­ren­wer­ten Gil­de­brü­der kaum noch der nö­ti­ge Platz zum Nie­der­ho­cken und See­len­aus­tausch üb­rig­b­lieb. Kis­ten und Kas­ten, Kräu­ter­bün­del, Mais­kol­ben, Le­der­bün­del, Zwie­bel­bün­del, Schin­ken, Würs­te, un­end­li­che Rum­pe­lei­en wa­ren hier mit wahr­haft ge­nia­ler Ge­schick­lich­keit ne­ben-, un­ter-, über-, vor- und zwi­schen­ein­an­der­ge­drängt, -ge­hängt, -ge­stellt, -ge­stopft und -ge­wor­fen, und kein Wun­der war’s, wenn der Schwa­ger Grü­ne­baum hier sei­nen zwei­ten Pan­tof­fel ver­lor.
Aber die letz­ten Strah­len der Son­ne fie­len durch die bei­den nied­ri­gen Fens­ter in den Raum; vor den Nach­ba­rin­nen und der Frau Tie­bus war man in Si­cher­heit. Auf zwei Kis­ten setz­ten sich die bei­den Meis­ter ein­an­der ge­gen­über nie­der, reich­ten sich die Hän­de und schüt­tel­ten sie wäh­rend wohl­ge­zähl­ter fünf Mi­nu­ten.
»Gra­tu­la­bum­dum, An­ton!« sag­te Ni­ko­laus Grü­ne­baum.
»Ich dan­ke dir, Ni­ko­laus!« sag­te An­ton Un­wirrsch.
»Vi­vat, er ist da! Vi­vat, er lebe hoch! – noch­mals, ab –« schrie aus vol­lem Hal­se der Meis­ter Grü­ne­baum, brach aber ab, als ihm der Schwa­ger die Hand auf den Mund drück­te.
»Nicht so laut, um Got­tes Wil­len nicht so laut, Ni­klas! Die Frau liegt hier ge­ra­de un­ter uns und hat so schon ihre lie­be Not mit den Wei­bern.«
Die Faust ließ der neue On­kel auf sei­ne Knie fal­len:
»Hast recht, Bru­der­herz; der Dei­bel hole die Gra­den und die Un­gra­den. Aber nun geh mal los, Al­ter, wie ist dir denn zu­mu­te? Al­le­we­ge ganz und gar nicht wie sons­ten? Hoho! Wie sieht denn die Krö­te aus? Al­les an die rech­te Stel­le? Nase, Mund, Arm und Bein? Nichts ver­mal­hört? Al­les in Ord­nung: Strip­pen und Schäf­te, Ober­le­der, Spann, Ha­cken und Soh­le? Gut ver­picht, ver­na­gelt und adrett ge­wichst?«
»Al­les, wie es sein muss, Bru­der­herz!« rief der glück­li­che Va­ter, die Hän­de an­ein­an­der rei­bend. »Ein Staats­jun­ge! Gott seg­ne uns in ihm. O Ni­klas, tau­sen­der­lei wollt ich dir sa­gen, aber es würgt mich zu sehr in der Keh­le; al­les geht rund mit mir um –«
»Lass es ge­hen, wie’s will; wenn die Kat­ze vom Dach ge­wor­fen ist, muss sie sich erst be­sin­nen«, sag­te der Schwa­ger Grü­ne­baum, »Die Frau ist doch wohl­auf?«
»Gott sei’s ge­dankt. Sie hat sich ge­hal­ten wie eine Hel­din; kei­ne Kai­se­rin hät­t’s bes­ser ge­macht.«
»Sie ist eine Grü­ne­baum«, sag­te Ni­ko­laus mit Selbst­be­wusst­sein, »und die Grü­ne­bäu­me kön­nen im Not­fall die Zäh­ne zu­sam­men­bei­ßen. Auf was für ’n Na­men willst du den Jun­gen ge­hen las­sen, An­ton?«
Mit der ha­ge­ren Hand fuhr der Va­ter des Neu­ge­bo­re­nen über die hohe, fur­chen­rei­che Stirn und starr­te ei­ni­ge Au­gen­bli­cke durch das Fens­ter ins Wei­te. Dann sag­te er:
»Ge­tauft soll er wer­den auf drei Hand­werks­ge­nos­sen. Jo­han­nes soll er hei­ßen wie der Poe­te in Nürn­berg und Ja­kob wie der hoch­ge­lob­te Phi­lo­so­phus von Gör­litz, und wie zwei Flü­gel sol­len ihm die bei­den Na­men sein, dass er da­mit auf­stei­ge von der Erde zum blau­en Him­mel und sein Teil Licht neh­me. Aber zum drit­ten will ich ihn Ni­ko­laus nen­nen, da­mit er im­mer wis­se, dass er auf der Erde einen treu­en Freund und Für­sor­ger habe, an wel­chen er sich hal­ten kann, wenn ich nicht mehr vor­han­den bin.«
»Das nenn ich ’nen Satz mit ’nem Kopf von Sinn und Ver­stand und ’nem di­cken, un­sin­ni­gen Schwanz. Die Na­men gib ihm, und es soll für uns alle drei Per­scho­nen ’ne Ehre sein; aber mit den al­ten, när­ri­schen To­des­schrul­len bleib mir vom Lei­be. Fett bist du nicht, und ’nen Och­sen schlägst du auch ge­ra­de nicht mit der blo­ßen Faust nie­der; aber den Pech­draht kannst du noch manch hüb­sches Jähr­lein zie­hen, du al­ter, spin­ti­sie­ren­der Bü­cher­ha­se.«
Der Meis­ter Un­wirrsch schüt­tel­te den Kopf und brach­te die Rede auf was an­de­res, und man­cher­lei spra­chen die bei­den Schwä­ger noch mit­ein­an­der, bis es voll­stän­dig dun­kel in der Rum­pel­kam­mer ge­wor­den war.
Es klop­fe je­mand an die Tür, und der Meis­ter Grü­ne­baum rief:
»Wer ist mich da? Wei­ber­volk wird nicht her­ein­ge­las­sen!«
»Ich bin’s«, rief eine Stim­me drau­ßen.
»Wer?«
»Iche!«
»’s ist die Base Schlot­ter­beck«, sag­te Un­wirrsch. »Schieb nur den Rie­gel zu­rück; wir ha­ben lan­ge ge­nug hier oben ge­ses­sen; viel­leicht darf ich die Frau noch ein­mal se­hen.«
Brum­mend ge­horch­te der Schwa­ger, und die Base leuch­te­te mit ih­rer Lam­pe in die Kam­mer.
»Rich­tig, da sit­zen sie. Na, kommt nur, ihr Hel­den; die Nach­ba­rin­nen sind fort. Kriecht her­vor! Eure Frau, Meis­ter Un­wirrsch? Ja, die ist wohl­be­ra­ten; sie schläft, und Ihr dürft sie nicht stö­ren; aber ’ne Neu­ig­keit sollt Ihr wis­sen und Gott dan­ken. Drü­ben über der Gas­se beim Ju­den Freu­den­stein ist’s heu­te auch so ge­gan­gen wie in die­sem Hau­se, aber nicht ganz so. Das Kind ist da – auch ein Jun­ge, aber ’s Blüm­chen Freu­den­stein ist tot, und großes Weh­kla­gen ist drü­ben. Lo­bet Gott den Herrn, Meis­ter Un­wirrsch; Ihr aber, Meis­ter Grü­ne­baum, macht Euch fort nach Haus. Nun, nun, Un­wirrsch, steht nicht so be­trof­fen da, der Tod tritt ein oder geht vor­bei nach Got­tes Be­fehl. Ich bin wie ge­rä­dert und will ins Bett krie­chen. Gute Nacht, Ge­vat­tern.«
Die Base Schlot­ter­beck ver­schwand hin­ter ih­rer Tür, die bei­den Meis­ter schli­chen auf den Fuß­spit­zen die Trep­pe hin­ab, und der Oheim Grü­ne­baum hat­te an die­sem Abend in sei­ner Stamm­knei­pe zum Ro­ten Bock viel we­ni­ger das große Wort in Po­li­tik, Stadt­an­ge­le­gen­hei­ten und an­de­ren An­ge­le­gen­hei­ten als sonst. Der Meis­ter Un­wirrsch lag die gan­ze Nacht, ohne ein Auge zu­zu­tun; der Neu­ge­bo­re­ne schrie mäch­tig, und es war kein Wun­der, dass die­se un­ge­wohn­ten Töne den Va­ter wach er­hiel­ten und ein wir­beln­des Heer von hof­fen­den und sor­gen­den Ge­dan­ken auf­stör­ten und in wil­der Jagd durch Herz und Hirn trie­ben. –
Es ist nicht leicht, eine gute Pre­digt zu ma­chen; aber leicht ist es auch nicht, einen gu­ten Stie­fel zu ver­fer­ti­gen. Zu bei­den ge­hört Ge­schick, viel Ge­schick, und Pfu­scher und Stüm­per soll­ten zum Bes­ten ih­rer Mit­menschen lie­ber ganz da­von­blei­ben. Ich für mein Teil habe eine un­ge­mei­ne Vor­lie­be für die Schus­ter, so­wohl in der Ge­samt­heit bei ih­ren fei­er­li­chen Auf­zü­gen wie auch in ih­rer Ei­gen­schaft als In­di­vi­du­en. Es ist, wie das Volk sagt, eine »spin­ti­sie­ren­de Na­ti­on«, und kein an­de­res Hand­werk bringt so treff­li­che und ku­rio­se Ei­gen­tüm­lich­kei­ten bei sei­nen Gil­de­glie­dern her­vor. Der nied­ri­ge Ar­beit­s­tisch, der nied­ri­ge Sche­mel, die was­ser­ge­füll­te Glas­ku­gel, wel­che das Licht der klei­nen Öl­lam­pe auf­fängt und glän­zen­der wie­der zu­rück­wirft, der schar­fe Duft des Le­ders und des Pechs müs­sen not­wen­di­ger­wei­se eine nach­hal­ti­ge Wir­kung auf die mensch­li­che Na­tur aus­üben, und sie tun es auch mäch­tig. Was für ori­gi­nel­le Käu­ze hat die­ses vor­treff­li­che Hand­werk her­vor­ge­bracht! – eine gan­ze Biblio­thek könn­te man über »merk­wür­di­ge Schus­ter« zu­sam­men­schrei­ben, ohne den Stoff im min­des­ten zu er­schöp­fen! Das Licht, wel­ches durch die schwe­ben­de Glas­ku­gel auf den Ar­beit­s­tisch fällt, ist das Reich fan­tas­ti­scher Geis­ter; es füllt die Ein­bil­dungs­kraft wäh­rend der nach­denk­li­chen Ar­beit mit wun­der­li­chen Ge­stal­ten und Bil­dern und gibt den Ge­dan­ken eine Fär­bung, wie sie ih­nen kei­ne an­de­re Lam­pe, pa­ten­tiert oder nicht pa­ten­tiert, ver­lei­hen kann. Auf al­ler­lei Rei­me, selt­sa­me Mär­lein, Wun­der­ge­schich­ten und lus­ti­ge und trau­ri­ge Welt­be­ge­ben­hei­ten ver­fällt man da­bei, wor­über die Nach­barn sich ver­wun­dern, wenn man sie mit schwer­fäl­li­ger Hand zu Pa­pier ge­bracht hat, wo­bei die Frau lacht oder sich fürch­tet, wenn man sie in der Däm­me­rung mit halb­lau­ter Stim­me summt. Oder aber man fängt an, noch tiefer zu grü­beln, und »Not« wird uns, »zu ent­sin­nen des Le­bens An­fang«. Im­mer tiefer se­hen wir in die leuch­ten­de Ku­gel, und in dem Gla­se se­hen wir das Uni­ver­sum in all sei­nen Ge­stal­ten und Na­tu­ren: durch die Pfor­ten al­ler Him­mel tre­ten wir frei und er­ken­nen sie mit all ih­ren Ster­nen und Ele­men­ten; höchs­te Ah­nun­gen ge­hen uns auf und nie­der­schrei­ben wir, wäh­rend der Pas­tor Pri­ma­ri­us Rich­ter von der Kan­zel den Pö­bel ge­gen uns auf­hetzt und der Büt­tel von Gör­litz, der uns ins Ge­fäng­nis brin­gen soll, vor der Tür steht:
»Denn das ist der Ewig­keit Recht und ewig Be­ste­hen, dass sie nur ei­nen Wil­len hat. Wenn sie de­ren zwee­ne hät­te, so zer­brä­che ei­ner den an­de­ren und wäre Streit. Sie ste­het wohl in viel Kraft und Wun­dern; aber ihr Le­ben ist nur bloß al­lein die Lie­be, aus wel­cher Licht und Ma­je­stät aus­ge­het. Alle Krea­tu­ren im Him­mel ha­ben ei­nen Wil­len, und der ist ins Her­ze Got­tes ge­rich­tet und ge­het in Got­tes Geist, wohl im cen­tro der Viel­heit, im Wach­sen und Blü­hen, aber Got­tes Geist ist das Le­ben in al­len Din­gen, cen­trum na­tu­rae gibt We­sen, Ma­je­stät und Kraft, und der Hei­li­ge Geist ist Füh­rer.«
Viel se­hen wir in der glän­zen­den Ku­gel, durch wel­che die schlech­te Lam­pe so ar­mes Licht wirft, dass wir da­bei kaum zu Pa­pier brin­gen kön­nen, was wir sa­hen; aber nichts­de­sto­we­ni­ger kön­nen wir un­ter das vollen­de­te Ma­nu­skrip­tum schrei­ben:
»Ge­schrie­ben nach gött­li­cher Er­leuch­tung durch Ja­kob Böh­me, sons­ten auch Teu­to­ni­cus ge­nannt.«
Wer ge­gen die Schus­ter was hat und ihre Treff­lich­keit im ein­zel­nen wie im All­ge­mei­nen nicht nach Ge­bühr zu schät­zen weiß, der blei­be mir vom Lei­be....

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
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  6. Abu Telfan
  7. Alte Nester
  8. Altershausen
  9. Auf dem Altenteil
  10. Christoph Pechlin
  11. Das Horn von Wanza
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  30. Drei Federn
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  49. Prinzessin Fisch
  50. Sankt Thomas
  51. Stopfkuchen
  52. Theklas Erbschaft oder die Geschichte eines schwülen Tages
  53. Unruhige Gäste
  54. Verworrenes Leben
  55. Vom alten Proteus
  56. Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
  57. Wunnigel
  58. Zum wilden Mann
  59. Literaturverzeichnis
  60. Index
  61. Das weitere Verlagsprogramm