Schreib das auf, Kisch!
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Schreib das auf, Kisch!

Das Kriegstagebuch

  1. 408 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Schreib das auf, Kisch!

Das Kriegstagebuch

Über dieses Buch

Fassung in aktueller Rechtschreibung

Kisch, der "rasende Reporter", wie er auch genannt wurde, schildert buchstäblich und hautnah, wie es ihm zwischen Schützengräben, Feuergefechten und Märschen ergangen ist.

Wer das liest, versteht, warum der Erste Weltkrieg auch "Urkatastrophe" Europas genannt wird. Niemals zuvor war der Mensch so sehr seiner Würde beraubt, wurde er ein Spielball der Mächtigen: geschunden, ermordet und als Kanonenfutter missbraucht.

Die Tagebuchaufzeichnungen beginnen am 31. Juli 1914 und enden am 22. März 1915 mit Kischs Rückkehr aus dem Krieg. Dazwischen erlebt und berichtet er von Gewaltexzessen, sinnlosen Gefechten, Schikanen und Materialschlachten um wenige Meter Frontgewinne.

Null Papier Verlag

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Information

August 1914

Sams­tag, den 1. Au­gust 1914.
Ich habe den Abend bei ei­nem Kauf­mann ver­bracht, den ich aus der Zeit ken­ne, da er in Prag Funk­tio­när der So­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei war. Er be­wir­te­te mich und prahl­te vor sei­ner Frau mit sei­nen Be­zie­hun­gen zur Li­te­ra­tur, wozu er mich als Zeu­gen an­rief. Er er­zähl­te, dass er vor drei oder vier Jah­ren jede Nacht mit Hugo Sa­lus durch­ge­bum­melt und ihm in ei­nem Bor­dell 20 Kro­nen ge­borgt habe; Sa­lus habe das Geld ver­sof­fen, aber nicht zu­rück­be­zahlt. Gu­ter Sa­lus! Du hast wohl in dei­nem gan­zen Le­ben noch nie 20 Kro­nen ver­sof­fen, am al­ler­we­nigs­ten aber aus­ge­lie­he­ne! – Die Frau des Kauf­manns ängs­tig­te sich, dass ihr Mann als Land­sturm­mann in den Krieg zie­hen wer­de. Er selbst be­stärk­te sie durch ab­sicht­lich un­ge­schick­te Trös­tun­gen in ih­rer Be­sorg­nis, um sich als Krie­ger groß­zu­tun und ihre Lie­be durch Be­fürch­tung zu stär­ken. So hat­te ich die miss­li­che Auf­ga­be, die Frau trös­ten und – um des Man­nes wil­len – gleich­zei­tig her­vor­he­ben zu müs­sen, dass ihm Ge­fahr dro­he.
Des Mor­gens fass­te ich in der Kom­pa­nie mein Ge­wehr und die Pa­tro­nen­ta­schen. Ich häng­te nun den Tor­nis­ter und die üb­ri­ge Rüs­tung um und wank­te un­ter der Last. Da­bei sind die schar­fen Pa­tro­nen noch gar nicht ver­packt! Auch eine Le­gi­ti­ma­ti­ons­kap­sel, das Ver­band­päck­chen und ein Säck­chen mit Salz er­hiel­ten wir.
Vor­mit­tags wur­den wir ran­giert; ich bin Flü­gel­mann des vier­ten Zu­ges, zwei­tes Glied, und Kom­man­dant des vier­ten Schwar­mes. Zwölf Leu­te sind mei­ner Füh­rung un­ter­stellt. Nach­mit­tags er­hielt je­der Mann zwei­hun­dert schar­fe Pa­tro­nen, ich als Schwarm­füh­rer nur vier­zig. Ich emp­fin­de dies jetzt als Glück, denn ich weiß nicht, wie ich die­se blei­er­ne Last zu mei­nen an­de­ren Las­ten ge­tra­gen hät­te.
In Pi­sek starb ein Fähn­rich vom Train auf dem Markt­platz an Herz­schlag. Ein Sol­dat von der Land­wehr hat sich er­schos­sen, ein Ka­dett von der Ar­til­le­rie, töd­lich an­ge­schos­sen, liegt im Spi­tal. Die Gat­tin ei­nes Re­ser­vis­ten in Purk­ra­ditz ist wahn­sin­nig ge­wor­den. Ob­wohl wir sol­ches er­fah­ren, sind wir in bes­ter Lau­ne. Es ist we­ni­ger Gal­gen­hu­mor als Leicht­sinn und viel­leicht Un­kennt­nis der Sach­la­ge. Auch hier be­rührt sich die Wir­kung der höchs­ten Dumm­heit mit der der höchs­ten Klug­heit: was kann man Bes­se­res tun als sorg­los sein? Und es ist ein Glück, dass die gute Stim­mung an­ste­ckend wirkt. Die aus­ge­ge­be­nen Kaf­fee­kon­ser­ven wer­den von uns an die Dorf­ju­gend ver­teilt. Den stei­ner­nen Zwie­back und die Fleisch­kon­ser­ven pa­cken wir in die Brot­sä­cke, mit dem Kom­mis­sta­bak wird von den Nicht­rau­chern ein schwung­haf­ter Han­del ge­trie­ben. Di­stink­ti­ons­ster­ne sind in Pi­sek nicht er­hält­lich, die Char­gen ha­ben sie sich des­halb mit Krei­de oder Blei­stift auf die Ega­li­sie­rung1 ge­malt. Ho­te­lier Selt­mann aus Prag, der eben mit dem Au­to­mo­bil hier an­ge­kom­men ist, er­zählt, dass Jau­res we­gen sei­ner Kriegs­geg­ner­schaft er­mor­det und dass der Lo­včen von den Ös­ter­rei­chern im drit­ten Sturm ge­nom­men wor­den sei. Ich kann die­se Nach­rich­ten nicht glau­ben.
Auf dem Markt war um 7 Uhr Ve­rei­di­gung. Der Platz konn­te die Men­schen nicht fas­sen; wie in ei­nem He­rings­fass war man ge­drängt. Oberst­leut­nant Ha­lus­ka um­arm­te sei­ne al­ten Kom­pa­nie­sol­da­ten, aus den Fens­tern des Rat­hau­ses wur­den Blu­men ge­streut, und je­der der ar­men Re­ser­vis­ten, die ges­tern ver­zwei­felt von Weib und Kind fort­ge­zo­gen sind, be­zog die Kuss­hän­de der ele­gan­ten Da­men nur auf sich und er­wi­der­te sie. Als die Re­gi­ments­fah­ne un­ter den Klän­gen der Volks­hym­ne auf den Platz ge­tra­gen wur­de, stieg die Er­re­gung, und in der Pau­se zwi­schen den bei­den Be­feh­len »Zum Ge­bet« und »Vom Ge­bet« sand­te ge­wiss fast je­der ein Stoß­ge­bet zum Him­mel, ob­wohl bei den hun­dert­fa­chen Wie­der­ho­lun­gen die­ser Übung auf den Ex­er­zier­fel­dern nie­man­dem je­mals ge­sagt wor­den war, dass die­ser Zeit­raum für ein Ge­bet ver­wen­det wer­den sol­le. Nach kur­z­er Mes­se las Haupt­mann Tur­ner mit Schwung, Pa­thos und er­staun­li­chem Or­gan den Schwur deutsch für die deut­sche Mann­schaft, die ihn wie­der­hol­te; dann kam der tsche­chi­sche Schwur. Es war falsch or­ga­ni­siert, dass man nicht aus den Deut­schen ein Ba­tail­lon for­miert hat­te, das ge­trennt von den an­de­ren ge­schwo­ren hät­te. So stand bei je­dem Schwur die Mann­schaft der nicht­be­tei­lig­ten Na­ti­on be­deck­ten Haup­tes in »Ruht«-Stel­lung da­bei. Die Wor­te der Schwur­for­mel sind über­dies in jäm­mer­li­chem Stil ab­ge­fasst, die Zä­su­ren un­sin­nig, die Spra­che ist phra­sen­haft und ge­schwol­len. Es folg­te eine an Hand des kai­ser­li­chen Ma­ni­fes­tes aus­ge­ar­bei­te­te Rede des neu­en Re­gi­ments­kom­man­dan­ten, des Obers­ten Karl Wo­k­oun, die vom Ma­jor Lašek ins Tsche­chi­sche über­setzt wur­de. Hier­auf brach­te der Oberst ein Hur­ra auf den Kai­ser aus, die Mann­schaft schwenk­te die Kap­pen, die Of­fi­zie­re zück­ten die Sä­bel, das Pub­li­kum in den Fens­tern wink­te mit Hü­ten und Ta­schen­tü­chern. Nach­dem noch vom Bür­ger­meis­ter die Fah­ne mit ei­nem rot-wei­ßen Band ge­schmückt wor­den war, be­gann der Ab­marsch, Blu­men reg­ne­te es aus man­chen Fens­tern, Frau­en und alte Män­ner im Pub­li­kum wein­ten, und die Er­re­gung pflanz­te sich auf die Mann­schaft fort, die sich müh­te, die Rüh­rung un­ter Zy­nis­men zu ver­ber­gen.
Sonn­tag, den 2. Au­gust 1914.
Heu­te Nacht ist ein ehe­ma­li­ger Frei­wil­li­ger des Re­gi­ments, ein Ser­bo-Kroa­te, der sich frei­wil­lig zur Dienst­leis­tung ge­mel­det hat­te, un­ter Spio­na­ge­ver­dacht fest­ge­nom­men und ver­hört wor­den. Es wur­de ihm bis jetzt nichts nach­ge­wie­sen. Um 2 Uhr nachts ist die ers­te Kom­pa­nie mit dem Zug über Ta­bor süd­wärts ab­ge­gan­gen. Wir an­de­ren lun­gern vor der Ka­ser­ne her­um. Die einen er­zäh­len, dass es be­stimmt ge­gen Russ­land gehe, aber Of­fi­zie­re und Bahn­be­am­te glau­ben aus ver­schie­de­nen An­zei­chen schlie­ßen zu kön­nen, dass wir ge­gen Ser­bi­en be­stimmt sind.
Mit­tags wur­de die Löh­nung ver­teilt. An­geb­lich wur­de ein Mann ver­haf­tet, des­sen Bu­ckel nicht echt war, son­dern ein Pa­ket von Gif­ten – was die Leu­te so er­zäh­len! Um halb 6 Uhr abends for­mier­ten wir uns auf der Stra­ße zum Ab­marsch. Wir wur­den mit Blu­men be­schenkt, eine alte Frau ver­teil­te an die Sol­da­ten bro­schier­te Exem­pla­re des Evan­ge­li­um Jo­han­ni, und die Ab­schied­neh­men­den und die Zu­rück­blei­ben­den be­kreu­zig­ten ein­an­der. Wir for­mier­ten uns in vier Kom­pa­ni­en (die drei an­de­ren Ba­tail­lo­ne sind be­reits im Lau­fe des Ta­ges ab­ge­gan­gen), der Ba­tail­lons­kom­man­dant ließ die Stra­ße ab­sper­ren und die Zi­vi­lis­ten ver­ja­gen, wo­bei er laut und er­regt schimpf­te, weil die Frau­en sich nicht vom An­blick ih­rer ab­zie­hen­den Män­ner los­rei­ßen konn­ten. Die Maß­re­gel schi­en mir nicht op­por­tun und nicht un­be­dingt not­wen­dig; den Re­ser­vis­ten tra­ten die Trä­nen in die Au­gen, als sie ihre Frau­en da­von­ge­jagt sa­hen. Wa­ren nicht auch die drei an­de­ren Ba­tail­lo­ne ohne Ab­sper­rungs­maß­re­geln ord­nungs­ge­mäß ab­ge­reist? Über­dies klet­ter­ten ei­ni­ge Re­ser­vis­ten­frau­en durch die Fens­ter wie­der in un­ser Kar­ree und brach­ten den Sol­da­ten Was­ser, von Neu­em ihre Män­ner un­ter herz­zer­rei­ßen­dem Schluch­zen um­ar­mend.
Bis halb 12 Uhr nachts sa­ßen und stan­den wir in der Ein­tei­lung. Ei­ni­ge Sän­ger hat­ten sich zu­sam­men­ge­tan und lie­ßen Cho­rä­le und Volks­lie­der er­tö­nen, meh­re­re Sol­da­ten spiel­ten auf Pflan­zen­blät­tern hüb­sche Lie­der. Man­che hat­ten sich be­sof­fen, die Of­fi­zie­re über­sa­hen dies im All­ge­mei­nen. Dann mar­schier­ten wir, von we­ni­gen Men­schen be­glei­tet, durch die ster­nen­lo­se Nacht an ei­nem Teich vor­bei, der matt schim­mer­te, zum Bahn­hof.
Mon­tag, den 3. Au­gust 1914.
Um Mit­ter­nacht stie­gen wir in den Mi­li­tär­zug, die Wag­g­ons sa­hen in die­ser um­wölk­ten Nacht schwarz aus, und mir fiel ein, dass ich noch nie im In­nern ei­nes Gü­ter­wa­gens ge­we­sen war. »Für 40 Män­ner oder 6 Pfer­de« stand auf dem Wag­gon, drei­und­drei­ßig Mann nah­men dar­in Platz, und un­ser Raum war knapp ge­nug be­mes­sen. Durch die Längs­mit­te lie­fen zwei Bän­ke mit ge­mein­sa­mer Rücken­leh­ne, an den bei­den Längs­wän­den war je eine Bank, nur die Mit­te des Wag­g­ons war zum Ein- und Aus­s­tei­gen frei ge­las­sen. Wir leg­ten Ge­wehr, Tor­nis­ter und Brot­sack un­ter die Bank und schlos­sen die Au­gen.
Ich saß in ei­ner Ecke, an mei­nen hilfs­be­rei­ten Waf­fen­übungs­ka­me­ra­den Wen­zel Ma­rek, Kanal­ar­bei­ter aus Pi­sek, ge­lehnt, und ver­such­te ein­zu­schla­fen. Aber wir drück­ten ein­an­der zu sehr, jede Be­we­gung des einen stör­te den an­de­ren. Des­halb bet­te­ten wir uns auf den Bo­den zwi­schen die Mit­tel­bank und die Bank an der Wand. Es war nicht leicht, denn auch der Bo­den war von Men­schen voll­kom­men be­legt. Die schwe­ren Tor­nis­ter wa­ren in der Dun­kel­heit und räum­li­chen Be­schränkt­heit nicht von der Stel­le zu schie­ben – so muss­te man Rumpf und Bei­ne in die vor­han­de­nen Lücken pres­sen. Aber man schlief in die­ser Stel­lung ei­nes Schlan­gen­menschen im­mer­hin ein. Durch klei­ne ver­git­ter­te Fens­ter hoch oben im Wag­gon, die den Lu­ken ei­nes Po­li­zei­wa­gens äh­neln, schau­ten ei­ni­ge Pi­se­ker den Lich­tern nach, die in der Stadt brann­ten. Sie ver­such­ten sich zu ori­en­tie­ren und frag­ten ein­an­der trüb­se­lig, was wohl die­ser oder je­ner Bür­ger, die­ses oder je­nes Mäd­chen eben ma­chen möge.
Mor­gens um 7 Uhr hielt der Zug in Ta­bor. Dort wur­den Erin­ne­run­gen an­de­rer Na­tur laut. Im Vor­jahr hat­ten wir hier im Kai­ser­ma­nö­ver fried­lich ge­kämpft, vie­le – dar­un­ter auch ich – in der Über­zeu­gung, dass sie zum letz­ten Male Ba­jo­nett und Tor­nis­ter trü­gen. Und Kom­man­dant war der Erz­her­zog Franz Fer­di­nand ge­we­sen.
Wir ka­men an Hüt­ten vor­über, an Wächt­er­häus­chen und an Dorf­bahn­hö­fen, an Bahn­schran­ken, Fel­dern; über­all stan­den Leu­te am Bahn­damm und seg­ne­ten den Zug, Wei­ber ran­gen die Hän­de und schri­en vor Leid. An man­chen Stel­len Gat­tin­nen un­se­rer Re­ser­vis­ten, sie wa­ren her­bei­ge­kom­men und hat­ten stun­den­lang den Zug er­war­tet (wann er kom­men wer­de, konn­te ja nie­mand wis­sen), nur um ih­ren vor­bei­fah­ren­den Män­nern ein Wort der Lie­be zu­ru­fen zu kön­nen. Um 9 Uhr fand in Ve­se­li-Me­zi­mos­ti die Kaf­fee­ver­tei­lung statt. Der Kaf­fee war auf den fla­chen, un­ge­deck­ten Wag­g­ons ge­kocht wor­den, auf de­nen je drei Fahr­kü­chen die gan­ze Nacht hin­durch ge­dampft hat­ten klei­ne Lo­ko­mo­ti­ven mit­ten im Ei­sen­bahn­zug. Ich ver­zich­te­te auf den elen­den Kom­miss­kaf­fee und woll­te mir im Bahn­hofs­re­stau­rant einen bes­se­ren kau­fen. Aber der Schank­tisch war voll von Sol­da­ten, die Sem­meln er­ste­hen woll­ten, so­dass ich nüch­ter­nen Ma­gens den Zug wie­der be­stei­gen muss­te.
In Wit­tin­gau wur­de wie­der Sta­ti­on ge­macht, dort er­zähl­ten uns die Leu­te, dass Russ­land auf die be­fris­te­te An­fra­ge über den Zweck der rus­si­schen Rüs­tun­gen mit der Kriegs­er­klä­rung geant­wor­tet habe. Die Sol­da­ten sind sich im All­ge­mei­nen der Trag­wei­te die­ser Mit­tei­lung nicht be­wusst, die nicht viel an­de­res zu be­deu­ten scheint als einen großen eu­ro­päi­schen Krieg, einen Welt­krieg.
Um halb 10 Uhr wa­ren wir in Chlu­metz. Auf dem Bahn­hof stand der klei­ne Her­zog Max von Ho­hen­berg mit der jüngs­ten Schwes­ter sei­ner Mut­ter, der Grä­fin Hen­ri­et­te Cho­tek, und ei­nem jun­gen Geist­li­chen. Er sah aus, als ob er sei­nem Va­ter, dem Erz­her­zog Franz Fer­di­nand, aus dem Ge­sicht ge­schnit­ten wäre. Der Prinz war aus dem Schloss Chlu­metz her­bei­ge­kom­men, um den Ge­ne­ral­ma­jor Pr­zi­borski, einen Freund des erz­her­zog­li­chen Hau­ses, bei der er­war­te­ten Durch­fahrt der 21. Land­wehr­di­vi­si­on zu be­grü­ßen. Da die­se nicht kam, be­trach­te­te er mit In­ter­es­se die aus­stei­gen­den Trup­pen un­se­res Re­gi­ments und freu­te sich, dass man ihn um­stand. Dann be­stieg er das Auto, das – man kann dies als sym­bo­lisch be­zeich­nen – der Geist­li­che lenk­te. Die Of­fi­zie­re und ei­ni­ge Sol­da­ten rie­fen Hoch, und der Bub dank­te im Weg­fah­ren durch be­geis­ter­tes Schwen­ken sei­ner Ma­tro­sen­müt­ze den Trup­pen, die aus­zo­gen, um den Mord an sei­nen El­tern zu rä­chen.
Bei der Sta­ti­on Erd­weiß ver­lie­ßen wir Böh­men und wa­ren um halb 12 Uhr in Gmünd. Da nur den Of­fi­zie­ren der Be­such des Bahn­hofs­re­stau­rants ge­stat­tet war, ver­such­te ich zum ers­ten Mal die Me­na­ge zu es­sen, ohne Er­folg. In Sig­munds­her­berg hör­ten wir von der Er­mor­dung Poin­carés und von den ers­ten Kämp­fen an der rus­si­schen Gren­ze. In Eg­gen­burg ver­teil­ten Rote-Kreuz-Da­men Li­kö­re und Apri­ko­sen an die Of­fi­zie­re, Zi­ga­ret­ten und Bier an uns.
Bei Tulln wur­de die Do­nau pas­siert, und ei­ni­ge In­fan­te­ris­ten beug­ten sich aus dem Fens­ter, um zu se­hen, wo – Bel­grad lie­ge. Mir wur­de elen­dig­lich schlecht. Mein zim­per­li­cher Ma­gen, das un­re­gel­mä­ßi­ge Sto­ßen und Rat­tern des Gü­ter­zu­ges, eine Er­käl­tung, die ich mir beim Wa­schen auf dem mor­gen­kal­ten Bahn­hof zu­ge­zo­gen hat­te, die Un­mög­lich­keit, Wä­sche zu wech­seln, und an­de­re Un­be­quem­lich­kei­ten be­wirk­ten, dass ich un­ter Kopf­schmer­zen er­brach, und mei­ne Ka­me­ra­den schüt­tel­reim­ten: »Ihr wer­det ihn noch ster­ben se­hen, be­vor wir vor den Ser­ben ste­hen.«
Diens­tag, den 4. Au­gust 1914.
Es war 6 Uhr früh, als wir auf dem Wie­ner Ost­bahn­hof lan­de­ten. Drei­ßig Stun­den ha­ben wir zur Fahrt von Pi­sek nach Wien ge­braucht. Nach ei­ner hal­b­en Stun­de ging’s wei­ter, durch Flo­rids­dorf, rechts und links lach­te auf al­len Bäu­men der Au­gust mit Blü­ten und Früch­ten. Klei­ne Bau­ern­häu­ser nah­men sich selt­sam aus an­ge­sichts der rie­si­gen Gas­an­stal­ten, Schlo­te, Kup­peln und Tür­me im Hin­ter­grund. Wir fuh­ren über Brücken, vor de­nen grau­bär­ti­ge Land­stür­mer mit Auf­schlä­gen der Deutschmeis­ter Wa­che hiel­ten; sie hat­ten Werndl­ge­weh­re mit dem lan­gen Ba­jo­nett und wink­ten uns mit den Müt­zen zu. Um halb 10 Uhr wa­ren wir in Press­burg, wo Me­na­ge ein­ge­nom­men wur­de. Im Schau­fens­ter der Bahn­hofs­buch­hand­lung, in der wir ein ser­bisch-deut­sches Kon­ver­sa­ti­ons­büch­lein kauf­ten, sa­hen wir den »Mäd­chen­hirt«. Auch Zei­tun­gen wur­den ge­kauft, in de­nen wir den Be­ginn des deutsch-fran­zö­si­schen Krie­ges und die Be­set­zung von Czen­sto­chau und Ka­lisch durch die Deut­schen la­sen.
Viel zu schö­ne Mä­dels schenk­ten uns in al­len Sta­tio­nen Zi­ga­ret­ten, Schnaps, Feld­post­kar­ten. In Nagy­ma­ros brach­ten uns Jü­din­nen (Som­mer­frisch­le­rin­nen) Blu­men, Zi­ga­ret­ten und Obst an die Bahn und sand­ten uns Küs­se nach, in Wai­zen be­sorg­ten Pfad­fin­der un­se­re Be­wir­tung, kurz, die Stre­cke durch Un­garn glich ei­ner Via tri­um­pha­lis. Die­se Vor­aus­zah­lung stimm­te mich trüber als die Trä­nen der Zu­rück­blei­ben­den in Böh­men. Wird man uns ver­höh­nen, um­ju­beln oder be­dau­ern, wenn wir zu­rück­fah­ren, oder wer­den wir nicht mehr zu­rück­keh­ren? Um 9 Uhr wa­ren wir in Bu­da­pest, kauf­ten dort et­was Sala­mi und tran­ken Bier. Ge­gen halb 11 Uhr fuh­ren wir wei­ter.
Mitt­woch, den 5. Au­gust 1914.
In der Nacht an Moor­land­schaf­ten vor­über, in de­nen sich der Mond spie­gel­te. Der Kom­pass be­lehr­te uns, dass un­se­re Fahrtrich­tung die süd­li­che ist. Also, es steht fest: wir zie­hen ge­gen Ser­bi­en. Ku­ku­ruz­kol­ben, Ta­bak­stau­den und Hop­fen­ran­ken stan­den rechts und links von uns. Der ehe­ma­li­ge (de­gra­dier­te) Kor­po­ral Val­ta, ein Pra­ger Striz­zi, sang Bän­kel, ein Vor­rei­ter un­se­res Trains, im Zi­vil­ver­hält­nis Zir­kus­ar­tist, pro­du­zier­te sich in un­se­rem Wag­gon als Feu­er­fres­ser und Ent­fes­se­lungs­künst­ler, aus ei­nem Trän­kei­mer hol­te er mit dem Mun­de Zwan­zig-Hel­ler-Stücke her­aus. In Tom­bo­racs, Sü­dun­garn, be­ka­men wir um halb 1 Uhr nach­mit­tags Me­na­ge. In Csas­var-Ma­sor tra­fen wir einen Zug mit Ka­det­ten­schü­lern aus Te­mes­vár, dann Züge mit Ei­sen­ma­te­ri­al, mit Ka­no­nen, mit Mu­ni­ti­on.
Die­se kriegs­ge­mä­ßen Trans­por­te scho­ben sich zwi­schen uns und eine Land­schaft von bib­li­schem Frie­den und herr­li­cher Fül­le. Die Son­ne leuch­te­te über die sanf­ten Hö­hen, die Son­ne leuch­te­te über die grü­nen Rü­ben­blät­ter und ro­ten Mohn­blü­ten, die Son­ne leuch­te­te über das rei­fe Obst und über die Wein­ran­ken an den Bäu­men, die Son­ne leuch­te­te. Wird die Son­ne je­doch so leuch­ten, wenn wir mar­schie­ren wer­den, so trifft uns alle der Hitz­schlag.
Man fühlt nicht mehr, dass man schon drei Tage in der Ei­sen­bahn steckt, man ist schon im­mu­ni­siert ge­gen das Rat­tern, die Leu­te ha­ben die Zelt­blät­ter von Fens­ter zu Fens­ter ge­spannt und lie­gen dar­in wie in Hän­ge­mat­ten, die Ta­schen­tü­cher müs­sen den Dienst von Mos­ki­to­net­zen ver­se­hen, denn die Stech­mücken ha­ben kei­nen von uns mit ih­ren Sti­chen ver­schont. Nie­mand denkt mehr an die Wol­lust des Bet­tes da­heim. In Hi­das-Bony­had wur­den wir von Deut­schen mit Wein be­wir­tet. Es wa­ren Be­woh­ner der Sprachin­sel »Dol­na­er Hüt­te«. Ein Rie­sen­tun­nel folg­te mit Lärm und Rauch, und Ruß flog uns in die Au­gen. In den Sta­tio­nen über­all deut­sche Bau­ern und Bäue­rin­nen. Sie spre­chen bay­ri­sche Mund­art und ha­ben schwä­bi­sche Na­men, tra­gen schwar­ze Sti­cke­rei­en von kost­ba­rer Schön­heit.
In Moragy er­zähl­te man uns von Spio­na­ge und Spio­na­ge­ver­dacht, aber auf al­len Wag­g­ons der Trup­pen­trans­por­te sind ge­krit­zel­te Auf­schrif­ten zu le­sen: »Es lebe das 28. Land­wehr­re­gi­ment«, »Hoch die Pra­ger Sa­ni­täts­sol­da­ten«, »Drum san mer Lands­leut, Leit­me­rit­zer Bu­ben« usw.
In Ba­tas­zek me­na­gier­ten wir und hör­ten vom Sta­ti­ons­vor­stand, dass ein rus­si­sches Luft­schiff mit zwei Of­fi­zie­ren ges­tern her­un­ter­ge­schos­sen und die Pi­lo­ten ge­fan­gen­ge­nom­men wor­den sei­en. In Baja (dem al­ten Ba­jae) tra­fen wir mit un­se­rem drit­ten Ba­tail­lon zu­sam­men.
Don­ners­tag, den 6. Au­gust 1914.
An ei­nem Zaun, an dem sich die Ran­ken ei­nes Le­bens­baums em­por­streck­ten, sah ich, als der Zug abends im Frei­en hielt, einen Jun­gen, mit dem ich ins Ge­spräch kam. Er stand schon die zwei­te Nacht drau­ßen und sah den Mi­li­tär­zü­gen nach. Volk­mann Jo­sef spricht nicht Un­ga­risch, aber er ver­steht es und kann es le­sen, denn er hat es in der Schu­le ge­lernt. Deutsch kann er je­doch nicht le­sen, ob­wohl er ein Deut­scher ist, denn er hat es in der Schu­le nicht ge­lernt.
Um 8 Uhr früh fuh­ren wir über die stark­be­wach­te Do­nau­brücke. Im Was­ser stan­den bi­zar­re Bäu­me und selt­sa­me Insel­for­ma­tio­nen. Al­les ist hier Über­schwem­mungs­ge­biet. Die Leu­te am Ufer tru­gen ser­bi­sche Trach­ten und rie­fen uns in ser­bi­scher Spra­che Se­gens­wün­sche auf den Weg nach. Die Brücke mün­det in Er­dut, al­les ist be­reits dop­pel­spra­chig: un­ga­risch und kroa­tisch. In Dalj lie­ßen sich alle Sol­da­ten auf der au­to­ma­ti­schen Waa­ge, die am Per­ron stand, wie­gen. Ich wog 74 Kilo ohne Aus­rüs­tung. Wir sand­ten An­sichts­kar­ten ab. Man darf nicht schrei­ben, wo man ist und wo­hin man fährt. Man darf nur schrei­ben: »Mir geht es gut, was macht Ma­rie­chen?« Und auch das nur auf of­fe­nen Kar­ten. Aber alle hiel­ten die Hän­de über ihr Ge­krit­zel, da­mit nie­mand er­fah­re, was sie ih­rem Mä­del für wich­ti­ge Ge­heim­nis­se mit­tei­len.
Eng­land soll an Deutsch­land den Krieg er­klärt ha­ben, Ja­pan an Russ­land – wer weiß, ob’s wahr ist.
In Neu-Dalj, ei­ner Mi­li­tär­sta­ti­on, 2 km von uns ent­fernt, sind ges­tern um 6 Uhr früh durch einen Zug­zu­sam­men­stoß (?) zwei Mi­li­tär­zü­ge ent­gleist. 16 Tote und 47 Ver­letz­te vom 62. In­fan­te­rie­re­gi­ment aus Un­garn. Wir pas­sier­ten auf der Wei­ter­fahrt die Un­glücks­stät­te, schreck­lich zer­trüm­mer­te Wag­g­ons, die Puf­fer ver­bo­gen wie al­tes Blech, die Rä­der auf­wärts ge­streckt wie die Bei­ne ei­nes ver­reck­ten Hun­des, die Wän­de sind Spä­ne ge­wor­den.
Durch die­se Ka­ta­stro­phe wird sich un­ser Auf­marsch um min­des­tens zwei Tage ver­zö­gern.
Ba­ja­er deut­sche Schnit­ter ka­men von der Puß­ta Sla­wo­ni­ens, wo sie Ern­te­diens­te ver­rich­tet hat­ten. Bos­ni­sche Re­ser­vis­ten, man­che mit ös­ter­rei­chi­schen Mi­li­tär­me­dail­len, sa­h...

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