
- 408 Seiten
- German
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eBook - ePub
Über dieses Buch
Fassung in aktueller Rechtschreibung
Kisch, der "rasende Reporter", wie er auch genannt wurde, schildert buchstäblich und hautnah, wie es ihm zwischen Schützengräben, Feuergefechten und Märschen ergangen ist.
Wer das liest, versteht, warum der Erste Weltkrieg auch "Urkatastrophe" Europas genannt wird. Niemals zuvor war der Mensch so sehr seiner Würde beraubt, wurde er ein Spielball der Mächtigen: geschunden, ermordet und als Kanonenfutter missbraucht.
Die Tagebuchaufzeichnungen beginnen am 31. Juli 1914 und enden am 22. März 1915 mit Kischs Rückkehr aus dem Krieg. Dazwischen erlebt und berichtet er von Gewaltexzessen, sinnlosen Gefechten, Schikanen und Materialschlachten um wenige Meter Frontgewinne.
Null Papier Verlag
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Information
August 1914
Samstag, den 1. August 1914.
Ich habe den Abend bei einem Kaufmann verbracht, den ich aus der Zeit kenne, da er in Prag Funktionär der Sozialdemokratischen Partei war. Er bewirtete mich und prahlte vor seiner Frau mit seinen Beziehungen zur Literatur, wozu er mich als Zeugen anrief. Er erzählte, dass er vor drei oder vier Jahren jede Nacht mit Hugo Salus durchgebummelt und ihm in einem Bordell 20 Kronen geborgt habe; Salus habe das Geld versoffen, aber nicht zurückbezahlt. Guter Salus! Du hast wohl in deinem ganzen Leben noch nie 20 Kronen versoffen, am allerwenigsten aber ausgeliehene! – Die Frau des Kaufmanns ängstigte sich, dass ihr Mann als Landsturmmann in den Krieg ziehen werde. Er selbst bestärkte sie durch absichtlich ungeschickte Tröstungen in ihrer Besorgnis, um sich als Krieger großzutun und ihre Liebe durch Befürchtung zu stärken. So hatte ich die missliche Aufgabe, die Frau trösten und – um des Mannes willen – gleichzeitig hervorheben zu müssen, dass ihm Gefahr drohe.
Des Morgens fasste ich in der Kompanie mein Gewehr und die Patronentaschen. Ich hängte nun den Tornister und die übrige Rüstung um und wankte unter der Last. Dabei sind die scharfen Patronen noch gar nicht verpackt! Auch eine Legitimationskapsel, das Verbandpäckchen und ein Säckchen mit Salz erhielten wir.
Vormittags wurden wir rangiert; ich bin Flügelmann des vierten Zuges, zweites Glied, und Kommandant des vierten Schwarmes. Zwölf Leute sind meiner Führung unterstellt. Nachmittags erhielt jeder Mann zweihundert scharfe Patronen, ich als Schwarmführer nur vierzig. Ich empfinde dies jetzt als Glück, denn ich weiß nicht, wie ich diese bleierne Last zu meinen anderen Lasten getragen hätte.
In Pisek starb ein Fähnrich vom Train auf dem Marktplatz an Herzschlag. Ein Soldat von der Landwehr hat sich erschossen, ein Kadett von der Artillerie, tödlich angeschossen, liegt im Spital. Die Gattin eines Reservisten in Purkraditz ist wahnsinnig geworden. Obwohl wir solches erfahren, sind wir in bester Laune. Es ist weniger Galgenhumor als Leichtsinn und vielleicht Unkenntnis der Sachlage. Auch hier berührt sich die Wirkung der höchsten Dummheit mit der der höchsten Klugheit: was kann man Besseres tun als sorglos sein? Und es ist ein Glück, dass die gute Stimmung ansteckend wirkt. Die ausgegebenen Kaffeekonserven werden von uns an die Dorfjugend verteilt. Den steinernen Zwieback und die Fleischkonserven packen wir in die Brotsäcke, mit dem Kommisstabak wird von den Nichtrauchern ein schwunghafter Handel getrieben. Distinktionssterne sind in Pisek nicht erhältlich, die Chargen haben sie sich deshalb mit Kreide oder Bleistift auf die Egalisierung1 gemalt. Hotelier Seltmann aus Prag, der eben mit dem Automobil hier angekommen ist, erzählt, dass Jaures wegen seiner Kriegsgegnerschaft ermordet und dass der Lovčen von den Österreichern im dritten Sturm genommen worden sei. Ich kann diese Nachrichten nicht glauben.
Auf dem Markt war um 7 Uhr Vereidigung. Der Platz konnte die Menschen nicht fassen; wie in einem Heringsfass war man gedrängt. Oberstleutnant Haluska umarmte seine alten Kompaniesoldaten, aus den Fenstern des Rathauses wurden Blumen gestreut, und jeder der armen Reservisten, die gestern verzweifelt von Weib und Kind fortgezogen sind, bezog die Kusshände der eleganten Damen nur auf sich und erwiderte sie. Als die Regimentsfahne unter den Klängen der Volkshymne auf den Platz getragen wurde, stieg die Erregung, und in der Pause zwischen den beiden Befehlen »Zum Gebet« und »Vom Gebet« sandte gewiss fast jeder ein Stoßgebet zum Himmel, obwohl bei den hundertfachen Wiederholungen dieser Übung auf den Exerzierfeldern niemandem jemals gesagt worden war, dass dieser Zeitraum für ein Gebet verwendet werden solle. Nach kurzer Messe las Hauptmann Turner mit Schwung, Pathos und erstaunlichem Organ den Schwur deutsch für die deutsche Mannschaft, die ihn wiederholte; dann kam der tschechische Schwur. Es war falsch organisiert, dass man nicht aus den Deutschen ein Bataillon formiert hatte, das getrennt von den anderen geschworen hätte. So stand bei jedem Schwur die Mannschaft der nichtbeteiligten Nation bedeckten Hauptes in »Ruht«-Stellung dabei. Die Worte der Schwurformel sind überdies in jämmerlichem Stil abgefasst, die Zäsuren unsinnig, die Sprache ist phrasenhaft und geschwollen. Es folgte eine an Hand des kaiserlichen Manifestes ausgearbeitete Rede des neuen Regimentskommandanten, des Obersten Karl Wokoun, die vom Major Lašek ins Tschechische übersetzt wurde. Hierauf brachte der Oberst ein Hurra auf den Kaiser aus, die Mannschaft schwenkte die Kappen, die Offiziere zückten die Säbel, das Publikum in den Fenstern winkte mit Hüten und Taschentüchern. Nachdem noch vom Bürgermeister die Fahne mit einem rot-weißen Band geschmückt worden war, begann der Abmarsch, Blumen regnete es aus manchen Fenstern, Frauen und alte Männer im Publikum weinten, und die Erregung pflanzte sich auf die Mannschaft fort, die sich mühte, die Rührung unter Zynismen zu verbergen.
Sonntag, den 2. August 1914.
Heute Nacht ist ein ehemaliger Freiwilliger des Regiments, ein Serbo-Kroate, der sich freiwillig zur Dienstleistung gemeldet hatte, unter Spionageverdacht festgenommen und verhört worden. Es wurde ihm bis jetzt nichts nachgewiesen. Um 2 Uhr nachts ist die erste Kompanie mit dem Zug über Tabor südwärts abgegangen. Wir anderen lungern vor der Kaserne herum. Die einen erzählen, dass es bestimmt gegen Russland gehe, aber Offiziere und Bahnbeamte glauben aus verschiedenen Anzeichen schließen zu können, dass wir gegen Serbien bestimmt sind.
Mittags wurde die Löhnung verteilt. Angeblich wurde ein Mann verhaftet, dessen Buckel nicht echt war, sondern ein Paket von Giften – was die Leute so erzählen! Um halb 6 Uhr abends formierten wir uns auf der Straße zum Abmarsch. Wir wurden mit Blumen beschenkt, eine alte Frau verteilte an die Soldaten broschierte Exemplare des Evangelium Johanni, und die Abschiednehmenden und die Zurückbleibenden bekreuzigten einander. Wir formierten uns in vier Kompanien (die drei anderen Bataillone sind bereits im Laufe des Tages abgegangen), der Bataillonskommandant ließ die Straße absperren und die Zivilisten verjagen, wobei er laut und erregt schimpfte, weil die Frauen sich nicht vom Anblick ihrer abziehenden Männer losreißen konnten. Die Maßregel schien mir nicht opportun und nicht unbedingt notwendig; den Reservisten traten die Tränen in die Augen, als sie ihre Frauen davongejagt sahen. Waren nicht auch die drei anderen Bataillone ohne Absperrungsmaßregeln ordnungsgemäß abgereist? Überdies kletterten einige Reservistenfrauen durch die Fenster wieder in unser Karree und brachten den Soldaten Wasser, von Neuem ihre Männer unter herzzerreißendem Schluchzen umarmend.
Bis halb 12 Uhr nachts saßen und standen wir in der Einteilung. Einige Sänger hatten sich zusammengetan und ließen Choräle und Volkslieder ertönen, mehrere Soldaten spielten auf Pflanzenblättern hübsche Lieder. Manche hatten sich besoffen, die Offiziere übersahen dies im Allgemeinen. Dann marschierten wir, von wenigen Menschen begleitet, durch die sternenlose Nacht an einem Teich vorbei, der matt schimmerte, zum Bahnhof.
Montag, den 3. August 1914.
Um Mitternacht stiegen wir in den Militärzug, die Waggons sahen in dieser umwölkten Nacht schwarz aus, und mir fiel ein, dass ich noch nie im Innern eines Güterwagens gewesen war. »Für 40 Männer oder 6 Pferde« stand auf dem Waggon, dreiunddreißig Mann nahmen darin Platz, und unser Raum war knapp genug bemessen. Durch die Längsmitte liefen zwei Bänke mit gemeinsamer Rückenlehne, an den beiden Längswänden war je eine Bank, nur die Mitte des Waggons war zum Ein- und Aussteigen frei gelassen. Wir legten Gewehr, Tornister und Brotsack unter die Bank und schlossen die Augen.
Ich saß in einer Ecke, an meinen hilfsbereiten Waffenübungskameraden Wenzel Marek, Kanalarbeiter aus Pisek, gelehnt, und versuchte einzuschlafen. Aber wir drückten einander zu sehr, jede Bewegung des einen störte den anderen. Deshalb betteten wir uns auf den Boden zwischen die Mittelbank und die Bank an der Wand. Es war nicht leicht, denn auch der Boden war von Menschen vollkommen belegt. Die schweren Tornister waren in der Dunkelheit und räumlichen Beschränktheit nicht von der Stelle zu schieben – so musste man Rumpf und Beine in die vorhandenen Lücken pressen. Aber man schlief in dieser Stellung eines Schlangenmenschen immerhin ein. Durch kleine vergitterte Fenster hoch oben im Waggon, die den Luken eines Polizeiwagens ähneln, schauten einige Piseker den Lichtern nach, die in der Stadt brannten. Sie versuchten sich zu orientieren und fragten einander trübselig, was wohl dieser oder jener Bürger, dieses oder jenes Mädchen eben machen möge.
Morgens um 7 Uhr hielt der Zug in Tabor. Dort wurden Erinnerungen anderer Natur laut. Im Vorjahr hatten wir hier im Kaisermanöver friedlich gekämpft, viele – darunter auch ich – in der Überzeugung, dass sie zum letzten Male Bajonett und Tornister trügen. Und Kommandant war der Erzherzog Franz Ferdinand gewesen.
Wir kamen an Hütten vorüber, an Wächterhäuschen und an Dorfbahnhöfen, an Bahnschranken, Feldern; überall standen Leute am Bahndamm und segneten den Zug, Weiber rangen die Hände und schrien vor Leid. An manchen Stellen Gattinnen unserer Reservisten, sie waren herbeigekommen und hatten stundenlang den Zug erwartet (wann er kommen werde, konnte ja niemand wissen), nur um ihren vorbeifahrenden Männern ein Wort der Liebe zurufen zu können. Um 9 Uhr fand in Veseli-Mezimosti die Kaffeeverteilung statt. Der Kaffee war auf den flachen, ungedeckten Waggons gekocht worden, auf denen je drei Fahrküchen die ganze Nacht hindurch gedampft hatten kleine Lokomotiven mitten im Eisenbahnzug. Ich verzichtete auf den elenden Kommisskaffee und wollte mir im Bahnhofsrestaurant einen besseren kaufen. Aber der Schanktisch war voll von Soldaten, die Semmeln erstehen wollten, sodass ich nüchternen Magens den Zug wieder besteigen musste.
In Wittingau wurde wieder Station gemacht, dort erzählten uns die Leute, dass Russland auf die befristete Anfrage über den Zweck der russischen Rüstungen mit der Kriegserklärung geantwortet habe. Die Soldaten sind sich im Allgemeinen der Tragweite dieser Mitteilung nicht bewusst, die nicht viel anderes zu bedeuten scheint als einen großen europäischen Krieg, einen Weltkrieg.
Um halb 10 Uhr waren wir in Chlumetz. Auf dem Bahnhof stand der kleine Herzog Max von Hohenberg mit der jüngsten Schwester seiner Mutter, der Gräfin Henriette Chotek, und einem jungen Geistlichen. Er sah aus, als ob er seinem Vater, dem Erzherzog Franz Ferdinand, aus dem Gesicht geschnitten wäre. Der Prinz war aus dem Schloss Chlumetz herbeigekommen, um den Generalmajor Prziborski, einen Freund des erzherzoglichen Hauses, bei der erwarteten Durchfahrt der 21. Landwehrdivision zu begrüßen. Da diese nicht kam, betrachtete er mit Interesse die aussteigenden Truppen unseres Regiments und freute sich, dass man ihn umstand. Dann bestieg er das Auto, das – man kann dies als symbolisch bezeichnen – der Geistliche lenkte. Die Offiziere und einige Soldaten riefen Hoch, und der Bub dankte im Wegfahren durch begeistertes Schwenken seiner Matrosenmütze den Truppen, die auszogen, um den Mord an seinen Eltern zu rächen.
Bei der Station Erdweiß verließen wir Böhmen und waren um halb 12 Uhr in Gmünd. Da nur den Offizieren der Besuch des Bahnhofsrestaurants gestattet war, versuchte ich zum ersten Mal die Menage zu essen, ohne Erfolg. In Sigmundsherberg hörten wir von der Ermordung Poincarés und von den ersten Kämpfen an der russischen Grenze. In Eggenburg verteilten Rote-Kreuz-Damen Liköre und Aprikosen an die Offiziere, Zigaretten und Bier an uns.
Bei Tulln wurde die Donau passiert, und einige Infanteristen beugten sich aus dem Fenster, um zu sehen, wo – Belgrad liege. Mir wurde elendiglich schlecht. Mein zimperlicher Magen, das unregelmäßige Stoßen und Rattern des Güterzuges, eine Erkältung, die ich mir beim Waschen auf dem morgenkalten Bahnhof zugezogen hatte, die Unmöglichkeit, Wäsche zu wechseln, und andere Unbequemlichkeiten bewirkten, dass ich unter Kopfschmerzen erbrach, und meine Kameraden schüttelreimten: »Ihr werdet ihn noch sterben sehen, bevor wir vor den Serben stehen.«
Dienstag, den 4. August 1914.
Es war 6 Uhr früh, als wir auf dem Wiener Ostbahnhof landeten. Dreißig Stunden haben wir zur Fahrt von Pisek nach Wien gebraucht. Nach einer halben Stunde ging’s weiter, durch Floridsdorf, rechts und links lachte auf allen Bäumen der August mit Blüten und Früchten. Kleine Bauernhäuser nahmen sich seltsam aus angesichts der riesigen Gasanstalten, Schlote, Kuppeln und Türme im Hintergrund. Wir fuhren über Brücken, vor denen graubärtige Landstürmer mit Aufschlägen der Deutschmeister Wache hielten; sie hatten Werndlgewehre mit dem langen Bajonett und winkten uns mit den Mützen zu. Um halb 10 Uhr waren wir in Pressburg, wo Menage eingenommen wurde. Im Schaufenster der Bahnhofsbuchhandlung, in der wir ein serbisch-deutsches Konversationsbüchlein kauften, sahen wir den »Mädchenhirt«. Auch Zeitungen wurden gekauft, in denen wir den Beginn des deutsch-französischen Krieges und die Besetzung von Czenstochau und Kalisch durch die Deutschen lasen.
Viel zu schöne Mädels schenkten uns in allen Stationen Zigaretten, Schnaps, Feldpostkarten. In Nagymaros brachten uns Jüdinnen (Sommerfrischlerinnen) Blumen, Zigaretten und Obst an die Bahn und sandten uns Küsse nach, in Waizen besorgten Pfadfinder unsere Bewirtung, kurz, die Strecke durch Ungarn glich einer Via triumphalis. Diese Vorauszahlung stimmte mich trüber als die Tränen der Zurückbleibenden in Böhmen. Wird man uns verhöhnen, umjubeln oder bedauern, wenn wir zurückfahren, oder werden wir nicht mehr zurückkehren? Um 9 Uhr waren wir in Budapest, kauften dort etwas Salami und tranken Bier. Gegen halb 11 Uhr fuhren wir weiter.
Mittwoch, den 5. August 1914.
In der Nacht an Moorlandschaften vorüber, in denen sich der Mond spiegelte. Der Kompass belehrte uns, dass unsere Fahrtrichtung die südliche ist. Also, es steht fest: wir ziehen gegen Serbien. Kukuruzkolben, Tabakstauden und Hopfenranken standen rechts und links von uns. Der ehemalige (degradierte) Korporal Valta, ein Prager Strizzi, sang Bänkel, ein Vorreiter unseres Trains, im Zivilverhältnis Zirkusartist, produzierte sich in unserem Waggon als Feuerfresser und Entfesselungskünstler, aus einem Tränkeimer holte er mit dem Munde Zwanzig-Heller-Stücke heraus. In Tomboracs, Südungarn, bekamen wir um halb 1 Uhr nachmittags Menage. In Csasvar-Masor trafen wir einen Zug mit Kadettenschülern aus Temesvár, dann Züge mit Eisenmaterial, mit Kanonen, mit Munition.
Diese kriegsgemäßen Transporte schoben sich zwischen uns und eine Landschaft von biblischem Frieden und herrlicher Fülle. Die Sonne leuchtete über die sanften Höhen, die Sonne leuchtete über die grünen Rübenblätter und roten Mohnblüten, die Sonne leuchtete über das reife Obst und über die Weinranken an den Bäumen, die Sonne leuchtete. Wird die Sonne jedoch so leuchten, wenn wir marschieren werden, so trifft uns alle der Hitzschlag.
Man fühlt nicht mehr, dass man schon drei Tage in der Eisenbahn steckt, man ist schon immunisiert gegen das Rattern, die Leute haben die Zeltblätter von Fenster zu Fenster gespannt und liegen darin wie in Hängematten, die Taschentücher müssen den Dienst von Moskitonetzen versehen, denn die Stechmücken haben keinen von uns mit ihren Stichen verschont. Niemand denkt mehr an die Wollust des Bettes daheim. In Hidas-Bonyhad wurden wir von Deutschen mit Wein bewirtet. Es waren Bewohner der Sprachinsel »Dolnaer Hütte«. Ein Riesentunnel folgte mit Lärm und Rauch, und Ruß flog uns in die Augen. In den Stationen überall deutsche Bauern und Bäuerinnen. Sie sprechen bayrische Mundart und haben schwäbische Namen, tragen schwarze Stickereien von kostbarer Schönheit.
In Moragy erzählte man uns von Spionage und Spionageverdacht, aber auf allen Waggons der Truppentransporte sind gekritzelte Aufschriften zu lesen: »Es lebe das 28. Landwehrregiment«, »Hoch die Prager Sanitätssoldaten«, »Drum san mer Landsleut, Leitmeritzer Buben« usw.
In Bataszek menagierten wir und hörten vom Stationsvorstand, dass ein russisches Luftschiff mit zwei Offizieren gestern heruntergeschossen und die Piloten gefangengenommen worden seien. In Baja (dem alten Bajae) trafen wir mit unserem dritten Bataillon zusammen.
Donnerstag, den 6. August 1914.
An einem Zaun, an dem sich die Ranken eines Lebensbaums emporstreckten, sah ich, als der Zug abends im Freien hielt, einen Jungen, mit dem ich ins Gespräch kam. Er stand schon die zweite Nacht draußen und sah den Militärzügen nach. Volkmann Josef spricht nicht Ungarisch, aber er versteht es und kann es lesen, denn er hat es in der Schule gelernt. Deutsch kann er jedoch nicht lesen, obwohl er ein Deutscher ist, denn er hat es in der Schule nicht gelernt.
Um 8 Uhr früh fuhren wir über die starkbewachte Donaubrücke. Im Wasser standen bizarre Bäume und seltsame Inselformationen. Alles ist hier Überschwemmungsgebiet. Die Leute am Ufer trugen serbische Trachten und riefen uns in serbischer Sprache Segenswünsche auf den Weg nach. Die Brücke mündet in Erdut, alles ist bereits doppelsprachig: ungarisch und kroatisch. In Dalj ließen sich alle Soldaten auf der automatischen Waage, die am Perron stand, wiegen. Ich wog 74 Kilo ohne Ausrüstung. Wir sandten Ansichtskarten ab. Man darf nicht schreiben, wo man ist und wohin man fährt. Man darf nur schreiben: »Mir geht es gut, was macht Mariechen?« Und auch das nur auf offenen Karten. Aber alle hielten die Hände über ihr Gekritzel, damit niemand erfahre, was sie ihrem Mädel für wichtige Geheimnisse mitteilen.
England soll an Deutschland den Krieg erklärt haben, Japan an Russland – wer weiß, ob’s wahr ist.
In Neu-Dalj, einer Militärstation, 2 km von uns entfernt, sind gestern um 6 Uhr früh durch einen Zugzusammenstoß (?) zwei Militärzüge entgleist. 16 Tote und 47 Verletzte vom 62. Infanterieregiment aus Ungarn. Wir passierten auf der Weiterfahrt die Unglücksstätte, schrecklich zertrümmerte Waggons, die Puffer verbogen wie altes Blech, die Räder aufwärts gestreckt wie die Beine eines verreckten Hundes, die Wände sind Späne geworden.
Durch diese Katastrophe wird sich unser Aufmarsch um mindestens zwei Tage verzögern.
Bajaer deutsche Schnitter kamen von der Pußta Slawoniens, wo sie Erntedienste verrichtet hatten. Bosnische Reservisten, manche mit österreichischen Militärmedaillen, sah...
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