Der rasende Reporter
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Der rasende Reporter

  1. 445 Seiten
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Der rasende Reporter

Über dieses Buch

Fassung in aktueller Rechtschreibung

Mit einem Vorwort von Kurt Tucholsky

Egon Erwin Kisch gilt als einer der bedeutendsten Reporter in der Geschichte des Journalismus. Nach dem Titel eines seiner Reportagebände wurde er auch als "der rasende Reporter" bekannt. "Schreib das auf, Kisch!" wurde zum geflügelten Wort in den 1920ern.

Lesen Sie hier 48 seiner gelungensten Reportagen und Essays.

"Reportage ist eine sehr ernste, sehr schwierige, ungemein anstrengende Arbeit, die einen ganzen Kerl erfordert. Kisch ist so einer." [Kurt Tucholsky]

Mit 238 Fußnoten

Null Papier Verlag

Häufig gestellte Fragen

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Information

Die Weltumseglung der ›A. Lanna 8‹1

I. Von Prag nach Pressburg über die Nordsee

An Bord der ›A. Lan­na 8‹, auf ho­her See, 8° 30' ö. L.; 53° 58' n. B.; 6. Okt. 1920
Press­burg liegt süd­öst­lich von Prag. Also muss man, wenn man von Prag nach Press­burg will, zu­erst nörd­lich fah­ren, im­mer nörd­lich, bis dort­hin, wo der eu­ro­päi­sche Kon­ti­nent auf­hört, Kon­ti­nent zu sein, hin­ter Ham­burg, hin­ter Cux­ha­ven, noch im­mer nörd­li­cher bis in die Nord­see. Und dann nach Wes­ten, auf Kanä­len und Flüs­sen un­aus­ge­setzt nach Wes­ten, über die We­ser bis zur deutsch-hol­län­di­schen Gren­ze und wei­ter bis zum Rhein … Das ist so die Lo­gik der Was­ser­stra­ßen …
Press­burg liegt 350 Ki­lo­me­ter von Prag ent­fernt, etwa 250 von Bud­weis. Die Moldau hat (bei Ho­hen­furt) einen Ab­stand von bloß 35 Ki­lo­me­tern von der Do­nau (bei Linz). Aber will man von der Moldau auf die Do­nau, so muss man 2170 Ki­lo­me­ter fah­ren, ›bis Ba­bitz‹, sechs Wo­chen lang, acht Wo­chen lang – ich weiß noch selbst nicht, wie das al­les wer­den soll. Mo­ritzl, wo hast du dein lin­kes Ohr?
Der Ten­der »A. Lan­na 8«, der bis­her be­schau­lich im Hol­le­scho­wit­zer Ha­fen oder am Fran­ti­schek lag oder Elb­käh­ne für die Moldau­re­gu­lie­rung schlepp­te oder Koh­len­käh­ne aus Aus­sig am Gän­gel­band schleif­te, ward plötz­lich zu Hö­he­rem aus­er­se­hen: Zu Bag­ge­rungs­ar­bei­ten muss er nach Bra­tis­la­va. Dort soll ein Ha­fen für zwei Mil­lio­nen Ton­nen aus­ge­baut wer­den, und für die Ar­bei­ten braucht man die Mold­auf­lot­til­le. Wie sie hin­kommt? Die tsche­cho­slo­wa­ki­schen Ei­sen­bahn­be­hör­den ga­ben die Aus­kunft: »Per Bahn geht das nicht.« So fuhr »A. Lan­na 8« – als ers­tes Schiff der Re­pu­blik, das von Prag nach Press­burg auf dem Was­ser­we­ge ab­ge­ht – am Don­ners­tag, dem 23. Sep­tem­ber 1920, um sie­ben Uhr früh, vom Hol­le­scho­wit­zer Ha­fen mit sechs Ton­nen Koh­le ab. Es ging bis Mir­scho­witz, dann Lo­bo­sitz und wei­ter nach Aus­sig, wo vier Tage Auf­ent­halt war, bis wir end­lich am 30. einen Wag­gon Koh­le von Pet­schek neh­men konn­ten. Auch ein Haup­ter kam hier an Bord, der um 1400 Mark un­ser Schiff nach Dres­den, Cos­wig, Wer­ben, Lau­en­burg führ­te. Am 4. Ok­to­ber, um zehn Uhr vor­mit­tags, leg­ten wir in Ham­burg am Zoll­ka­nal an.
Vom Kai des Do­wen­fleth und von der Wan­drahm­brücke schau­ten die Mäd­chen in kur­z­en Rö­cken in­ter­es­siert auf den nied­ri­gen Damp­fer mit den neu­en Far­ben. Und wir, wir schau­ten vom nied­ri­gen Damp­fer mit den neu­en Far­ben nicht min­der in­ter­es­siert zu den Mäd­chen in kur­z­en Rö­cken auf dem Kai des Do­wen­fleth und auf der Wan­drahm­brücke hin­auf.
Ein neu­er Lot­se kam an Bord, der uns für 1300 Mark über das Wat­ten­meer nach Wil­helms­ha­ven füh­ren soll, und an der Lan­dungs­brücke stand wie­der ein Fluss­lot­se, der uns in Wil­helms­ha­ven er­war­ten und durch die Kanä­le und über Rhein und Main auf die Do­nau brin­gen wird; der kriegt 8000 Mark. Der See­lot­se be­sah un­sern Kas­ten mit un­ver­hoh­le­nem Miss­trau­en. Aber schließ­lich (1300 Mark sind viel Geld!) sag­te er, es wer­de schon ge­hen, und traf ei­ni­ge Si­cher­heits­maß­nah­men. Eine Ab­fluss­gat­te für Meer­was­ser, das bei See­gang auf Deck schla­gen könn­te, müs­se her­ge­rich­tet wer­den; der her­bei­ge­hol­te Schlos­ser ver­lang­te da­für 300 Mark, wor­auf­hin wir uns die Ab­fluss­gat­te selbst in die Bord­wand hack­ten. Das Ret­tungs­boot, bis­her frei auf den Klam­pen ru­hend, wur­de mit Ket­ten see­fest ge­macht. Der Ka­min wird durch Tros­sen ge­stützt wer­den müs­sen, aber vor­läu­fig schie­ben wir die­se Ar­beit noch auf, da wir Elb­brücken zu pas­sie­ren ha­ben. Wir nah­men vier Ton­nen Stein­koh­le, ein Kom­pass wur­de ein­ge­schifft, die große See­kar­te auf dem Ka­pi­täns­stand auf­ge­spannt.
Mitt­woch, den 6. Ok­to­ber, zehn Uhr fünf­und­drei­ßig Mi­nu­ten vor­mit­tags, sta­chen wir, ers­tes Schiff tsche­cho­slo­wa­ki­scher Flag­ge, von Ham­burg aus in See. Durch den Bin­nen­ha­fen und den Nie­der­ha­fen fuh­ren wir, rechts Sankt-Pau­li-Lan­dungs­brücken, die Hal­len des Elb­tun­nels, der Rie­sen-Bis­marck schaut vom Posta­ment auf den Ten­der mit der rot-blau-wei­ßen Flag­ge, dann sind wir en face2 der Da­vid­stra­ße, Al­to­na, ges­tern Abend wa­ren wir dar­in, in ih­ren Sei­ten­stra­ßen, Hein­rich­stra­ße, Ma­ri­en­stra­ße, Fried­rich­stra­ße bis zur Ree­per­bahn, Lu­pa­nar3 an Lu­pa­nar, eine Welt, in der sich un­ter dem Schrei­en von Mu­sik­au­to­ma­ten in Rie­sen­schau­keln und Ka­rus­sels und Ki­nos und Hip­po­dro­men und Schen­ken und Schau­bu­den und Tanz­rä­dern der tolls­te Welt­groß­han­del der Se­xua­li­tät voll­zieht. Steu­er­bords bleibt hin­ter un­se­rem Schiff der Stein­wär­der zu­rück mit dem ver­öde­ten Ha­pagha­fen; die Schif­fe sind ab­ge­lie­fert, da­vor aber se­hen wir gleich­zei­tig ein ei­ser­nes Fir­ma­ment von tau­send­fach in­ein­an­der­ge­scho­be­nen Gerüs­ten und Ge­stän­gen, die Werft »Bl­ohm und Voß«, Hel­lin­ge und Docks sind be­setzt, Kra­ne fah­ren auf­wärts und seit­wärts, Häm­mer dröh­nen, und auf der Vul­kan­werft ist es nicht an­ders.
An He­rings­log­gern aus Rü­gen fah­ren wir vor­über, an Is­land­fi­schern von Cux­ha­ven, an Se­gel­schif­fen, die das wei­ße Kreuz auf ro­tem Grund tra­gen, wenn sie aus Dä­ne­mark, und das gel­be Kreuz auf blau­em Feld, wenn sie aus Schwe­den sind, ein ame­ri­ka­ni­scher Kar­go­damp­fer über­holt uns bei Blan­ke­ne­se, fast im­mer ei­len die Ma­tro­sen an die Re­ling, ru­fen ihre Of­fi­zie­re her­bei und zer­bre­chen sich sicht­lich die Köp­fe über das Li­li­pu­ta­ner­schiff mit un­be­kann­ten Far­ben.
Von ei­nem deut­schen Drei­mast­scho­ner wer­den wir durch das Sprach­rohr an­ge­preit: »Hal­lo! Was ha­ben S’ da für Flag­gen?«
Wir ha­ben lei­der kein Sprach­rohr an Bord, kön­nen kei­ne Ant­wort ge­ben, und der Drei­mas­ter fährt mit un­be­frie­dig­ter Neu­gier von dan­nen.
Auf Fin­ken­wär­der ar­bei­tet die Deut­sche Werft, weit rück­wärts ist ein Kom­ma auf dem Ho­ri­zont: der Kirch­turm von Bux­te­hu­de; dort übt ein Schmied von al­ters her sein Ge­wer­be aus und ist so po­pu­lär, dass tem­pe­ra­ment­vol­le Frau­en ih­ren schlapp­schwän­zi­gen Ehe­gat­ten die Ver­wün­schung zu­zu­ru­fen pfleg­ten, sie mö­gen sich vom Bux­te­hu­der Schmied eine Ei­sen­stüt­ze zur Stär­kung ih­rer Ener­gie an­schmie­den las­sen. Aus die­ser ehe­li­chen Ver­wün­schung ist dann die Re­dens­art »Geh nach Bux­te­hu­de« ge­wor­den und in Ge­gen­den ge­drun­gen, von wo der Weg in die­ses »Ei­sen­ach« (die­ses Wort ist in Ana­lo­gie zu »Stein­ach« ge­bil­det) zu weit wäre! Back­bords und steu­er­bords wird das Land im­mer kah­ler und fla­cher, es passt sich gleich­sam in sei­ner Form dem Mee­re an, und schließ­lich sieht die Hei­de nicht bloß wie er­starr­te See aus, son­dern sie ist noch wel­len­lo­ser als die­se. Nur hie und da dreht eine Wind­müh­le ihr Ha­ken­kreuz, als win­ke sie uns zu, »hier ist noch deut­scher Bo­den«. Punk­tiert sind schma­le Sand­bän­ke von ras­ten­den Mö­wen. Un­se­re Stra­ße ist von ro­ten und schwar­zen Bo­jen mar­kiert – wir brau­chen den Kom­pass nicht zur Steue­rung.
Hin­ter den Ke­gel­schlo­ten der Bruns­büt­te­ler Ze­ment­fa­brik (»Hier sieht’s wie in Po­dol aus«, sagt Stru­ha, der alte Ma­schi­nist.) fah­ren wir an der Mün­dung des Kai­ser-Wil­helm-Kanals vor­über, er führt nach Kiel, in die Ost­see. Links Han­no­ver. Rechts rückt die schles­wig-hol­stei­ni­sche Küs­te im­mer wei­ter und wei­ter. Mit dem Glas luge ich nach den Hel­go­län­der Fel­sen aus. Aber ein Moldau­ten­der ist kein Aus­sichts­punkt.
Die Elbe ist hier schon meer­haft. So weit sind die Ufer! Grün­lich wird das Was­ser. Der Nord­west­wind lässt das Schiff rol­len. Der Tag macht sei­ne Pols­ter zu­recht und blin­zelt schläf­rig.
Gas­flam­men auf Leucht­bo­jen, die auch tags­über bren­nen, wer­den sicht­bar. Die Flut schlägt uns ent­ge­gen, ver­zö­gert das Tem­po der »A. Lan­na 8«. Sal­zig und nass ist die Käl­te, die sich uns in Mund und Po­ren drängt. Man­che Leucht­tür­me sind ru­hi­gen Blicks, an­de­re zu­cken un­un­ter­bro­chen mit den Wim­pern. Um sechs Uhr fah­ren wir den großen Kai von Cux­ha­ven ent­lang. Vor sechs Jah­ren habe ich ihn auch ge­se­hen, den großen Kai von Cux­ha­ven. Da war er schwarz von Men­schen, von ju­beln­den Zehn­tau­sen­den, die den größ­ten Damp­fer der Welt se­hen woll­ten. Ich stand oben auf dem Pro­me­na­den­deck, elf Stock­werk hoch, und nur durch den Zeiß konn­te ich die Ge­sich­ter da un­ten un­ter­schei­den. Die Bord­ka­pel­le spiel­te: »Muss i denn, muss i denn zum Städ­te­le hin­aus …«, un­se­re schwim­men­de Stadt fuhr ab, Tü­cher­schwen­ken.
Weh­mü­ti­ger als da­mals die Ab­fahrt muss mich heu­te die An­kunft stim­men. Von un­ten bli­cke ich zum Molo4 em­por. Und kein Mensch ist auf dem herb­sta­bend­li­chen Stein­wall zu se­hen. Nein, es ist nicht mehr das größ­te Schiff der größ­ten Flot­te, auf dem ich da bin. 8 Ton­nen hat »A. Lan­na 8«, 55.000 hat­te die »Va­ter­land«. Kei­nes ih­rer Ret­tungs­boo­te war so klein wie un­ser heu­ti­ges Ve­hi­kel. 1200 Mann Be­sat­zung und 4080 Pas­sa­gie­re – un­ser Dampf­boot hat drei Mann Be­sat­zung für sei­ne See­fahrt und nur einen Pas­sa­gier, mich.
Und für den Zeu­gen die­ser bei­den Er­eig­nis­se von glei­cher Be­griffs­ka­te­go­rie und un­ge­heu­rem Di­men­si­ons­un­ter­schied er­gibt sich bei den Ver­glei­chen, die er un­sin­ni­ger­wei­se an­stellt, nichts an­de­res als das, was je­dem Men­schen un­se­rer Zeit über­all und stünd­lich ein­fällt: dass es nie einen grö­ße­ren Di­vi­sor ge­ge­ben hat als die­se sechs Jah­re.

II. Der Moldaudampfer im Seesturm des Wattenmeeres

An Bord »A. Lan­na 8«, Ems-Jade-Kanal, am 8. Ok­to­ber 1920
Schon am Abend der An­kunft in Cux­ha­ven war der Lot­se, den wir in Ham­burg für die Fahrt übers Meer ge­heu­ert hat­ten, an Land ge­gan­gen und gleich dar­auf an Bord zu­rück­ge­kehrt: Er habe eben aus Ham­burg die te­le­gra­fi­sche Nach­richt be­kom­men, sein Schwie­ger­va­ter sei ge­stor­ben. Hof­fent­lich fin­de er einen Kol­le­gen, der uns von der Elb­mün­dung über das Meer füh­ren wer­de.
Als wir mor­gens aus den all­zu eng in die Wand ge­schnit­te­nen Ko­jen der »A. Lan­na 8« krall­ten, brach­te er den Kol­le­gen und emp­fahl sich von uns, »zum Be­gräb­nis des Schwie­ger­va­ters«. Dem Stell­ver­tre­ter hat­te er al­ler­dings die­ses Mär­chen nicht auf­ge­bun­den, son­dern ihm auf­rich­tig ge­sagt, er traue sich nicht mit un­se­rem Süß­was­ser­kas­ten über eine be­weg­te See. We­ni­ger ehr­lich war er in sei­ner Aus­kunft über den Füh­rer­lohn ge­we­sen; nach lan­gem Zö­gern hat­te er für die Stell­ver­tre­tung 400 Mark be­wil­ligt und hin­zu­ge­fügt, jetzt blei­be ihm nichts mehr als das Rei­se­geld für die Rück­fahrt nach Ham­burg. (Wir er­fuh­ren dies frei­lich erst auf ho­her See von dem Er­satz­mann, der nicht we­nig un­ge­hal­ten dar­über war, nun von uns zu hö­ren, dass sein Kol­le­ge mor­gen in Ham­burg für die Füh­rung 1300 Mark ein­strei­chen wird.)
Un­ser neu­er Lot­se, ein Krab­ben­fi­scher, kennt sich auf dem Wat­ten­meer so ge­nau aus wie in den Ta­schen sei­ner tran­ge­tränk­ten Hose – je­doch kann er nicht in die­se Ta­schen, da sei­ne Was­sers­tie­fel bis zum Schritt rei­chen. Auch er be­sieht un­sern Ma­schi­nen­raum nicht be­sorg­nis­los, denn einen Damp­fer ohne Süß­was­ser­re­ser­voir und ohne De­stil­la­tor für Salz­was­ser hat er wohl noch nie in sei­nem lan­gen See­le­ben ge­se­hen. Mit die­ser Nuss­scha­le soll man über den Ozean? Er lugt auf Ven­ti­la­tor und Glas­stän­der, klopft Röh­ren und Kon­den­sa­tor ab; auf un­se­rer Fahrt durch das Brack­was­ser hat sich noch nicht viel Salz an­ge­setzt, und un­se­re Kes­sel könn­ten auch drei Tage durch Salz aus­hal­ten, ent­schei­det er. Die Tros­sen, mit de­nen Ka­min und Ret­tungs­boot fest­ge­macht sind, prüft er noch­mals.
Um neun Uhr mor­gens (7. Ok­to­ber) stach T. M. S. »Lan­na 8« in See, die »Alte Lie­be«, den Mo­lo­kopf von Cux­ha­ven, run­dend. Fort Ku­gel­ba­ke, so­zu­sa­gen der Grenz­stein zwi­schen Elbe und Welt­meer, liegt erst vor uns, aber wir spü­ren das Jen­seits schon jetzt. Luft ist wie Meer: sal­zig und nass. – Und der Wind lässt uns tau­meln. – Der alte Ma­schi­nist Stru­ha, seit sech­zehn Jah­ren haust er da un­ten im Kes­sel­raum von »A. Lan­na 8«, hat kein Ver­trau­en zu dem flüs­si­gen Salz, das auch den Spei­se­röh­ren sei­nes Kes­sels gar nicht schme­cken will. Pods­kal hat kei­nen Molo und Pelc-Ti­rol­ka kei­nen Leucht­turm – hier aber steckt al­les voll von sol­chen Kin­ker­litz­chen (sra­cicky), und Kom­pass und Rie­sen­see­kar­te sind auch nicht dazu an­ge­tan, be­ru­hi­gend zu stim­men: Wie soll man sich auf dem Was­ser aus­ken­nen, wo kei­ne be­kann­ten Ufer, ja über­haupt kei­ne Ufer und kei­ne be­kann­ten Gast­häu­ser, ja über­haupt kei­ne Wirts­häu­ser sind? Beim Wen­za Ku­ce­ra im Ha­fen­wirts­haus in Hol­le­scho­witz wäre uns al­len woh­ler, ob­wohl der ein al­ter Gro­bi­an ist.
»Wenn’s sa­kra­men­tisch wird«, so macht der alte Stru­ha sein Te­sta­ment, »wenn’s sa­kra­men­tisch wird, dann ver­kriech ich mich im Ma­schi­nen­raum, dass es mich nicht hin­aus­wer­fen kann …«
Der Kom­man­da­to­re von »A. Lan­na 8«, Herr Jirsch, war Zug­füh­rer bei den Pio­nie­ren und hat die Tag­lia­men­to­mün­dung be­fah­ren, und der Boots­mann, der Fran­ta Cihlarík, ist sehr stolz auf sei­ne Kar­rie­re bei der k. u. k. Kriegs­ma­ri­ne. »Já byl5 Boots­manns­maat-Tor­pe­do­in­spek­tor pane!«6
An »Elbe V« kom­men wir vor­über, dem ers­ten der fünf Leucht­schif­fe, die die Ha­fen­aus­fahrt flan­kie­ren; die Be­man­nung die­ser Si­gnal­schif­fe ist sechs Wo­chen an Bord, dann vier­zehn Tage auf Ur­laub an Land, jahraus, jahrein. Ein Mo­tor­boot jagt hin­ter uns her und preit uns an: »Reichs­was­ser­schutz! Halt!« Die Po­li­zis­ten sprin­gen auf Deck und las­sen sich un­se­re Pa­pie­re vor­wei­sen; es er­gibt sich, dass wir kei­ne Schie­ber sind, die un­ter frem­der Flag­ge ein deut­sches Schiff ins Aus­land ver­scha­chern wol­len, wir ha­ben bloß in Un­kennt­nis der Ver­hält­nis­se es un­ter­las­sen, das Du­pli­kat der Aus­fahrts­be­wil­li­gung, vom Reichs­ver­kehrs­mi­nis­te­ri­um (Schiff­fahrts­ab­tei­lung) aus­ge­stellt, ab­zu­ge­ben.
Gut brennt die Son­ne, aber die Luft ist mis­tig. Rechts ist ein Leucht­turm zu se­hen, es scheint, als rage er di­rekt aus dem Was­ser. Je­doch er steht auf ei­ner In­sel, zu der man bei Ebbe vom Fest­land aus im Wa­gen fah­ren kann: In­sel Neu­werk, Schlupf­win­kel und Flot­ten­stütz­punkt Klaus Stör­te­be­kers, des hei­li­gen See­räu­bers und Fein­des der Han­sa­schie­ber. Je­des Watt, je­des Tief, je­des Riff birgt hier die Erin­ne­rung an ihn und sei­ne Ta­ten. Von Duh­nen aus hat­te Klaus Stör­te­be­ker einen un­ter­ir­di­schen Gang an­ge­legt bis in sei­ne Fes­te Rüt­ze­büt­tel, die wir ges­tern in Cux­ha­ven sa­hen. Die heu­ti­gen Be­woh­ner Neu­werks, fünf Bau­ern, ein Schul­leh­rer und zwei Leucht­turm­wäch­ter, so er­zählt un­ser Lot­se, füh­len sich als Stör­te­be­kers Er­ben: Sie räu­bern, was das Zeug hält, ste­cken Mas­sen von Strand­gut ein (über­all se­hen wir Wracks, und wenn uns nicht oh­ne­hin schon übel zu­mu­te wäre, die­se Me­men­ta mori könn­ten uns das Gru­seln leh­ren!) und sche­ren sich den Teu­fel um die Ob­rig­keit. Die Bau­ern sind al­le­samt schwe­re Mil­lio­näre, zwei oder drei sind auch ade­lig; das Ho­tel »Zur Mee­res­wo­ge« hat saf­ti­ge Prei­se, die Schu­le wird von neun Kin­dern be­sucht. Die ge­sam­te männ­li­che Be­völ­ke­rung von Neu­werk, der Schul­meis­ter ein­be­grif­fen, bil­det die Be­man­nung des Ret­tungs­boo­tes. Bei den Si­gnal­ra­ke­ten blei­ben nur die Frau­en.
Vor Hun­de-Bal­je, elf Uhr vor­mit­tags, ist ein See­hund­fi­scher ver­an­kert; be­reits vor­her ha­ben wir et­li­che See­hun­de auf­tau­chen und die neue Flag­ge anglot­zen se­hen. Scharf dreht der Wind nach Süd. Er reißt rück­sichts­los un­ser Schrau­ben­damp­fer­chen her­um. Der Wind schau­kelt, und das Was­ser schau­kelt – wie wir schau­keln, mag man sich den­ken! Hochauf schla­gen Wel­len, sie gei­ßeln Deck und Deckauf­bau; be­vor wir die Ka­jü­ten­lu­ken ge­schlos­sen ha­ben, ist schöns­te Über­schwem­mung dar­in, und so­gar in das Ka­min­loch springt eine Woge.
Der Ka­min! Er ist le­bens­über­drüs­sig. Bald neigt er sich steu­er­bords, bald will er sich auf der lin­ken Sei­te in die feind­li­che Flüs­sig­keit schmei­ßen. Die Tros­sen zer­ren ihn, rei­ßen ihn zu­rück und stöh­nen ob der An­stren­gung.
Schwer ba­lan­ciert man auf Deck. Back­bords sieht man auf dem Watt von Schar­hörn Men­schen sich pla­cken; sie ber­gen Bal­ken. Vor drei Wo­chen ist hier ein Floß im Wer­te von 40.000.000 Mark ge­stran­det, das größ­te Floß der Welt. Von Schwe­den her kam es, von vier Schlep­pern ge­zo­gen, über das Wat­ten­meer und woll­te nach Ams­ter­dam; 13.500 Baum­stäm­me, man­che 15 Me­ter lang, in ei­ner Brei­te von 16 Me­tern ne­ben­ein­an­der und in ei­ner Höhe von 6 Me­tern über­ein­an­der ge­schich­tet, von Ket­ten zu­sam­men­ge­hal­ten. In Sp­lit­ter aber ris­sen die Wel­len die­se Stahl­ket­ten. 3000 Bal­ken wur­den in Cux­ha­ven ans Land ge­schwemmt, 3000 auf die In­sel Neu­werk, 5500 hier­her nach Schar­hörn. Je­der Bal­ken war auf 160 Mark ver­si­chert, und wer der As­se­ku­ranz­ge­sell­schaft in Cux­ha­ven einen der Stäm­me lie­fert, er­hält 100 Mark. Wir se­hen die Ar­men von Cux­ha­ven sich mü­hen, die Stäm­me ge­gen die See zu rol­len. Kommt un­ver­se­hens die Flut, kön­nen die Leu­te nicht mehr vom Mee­re zu­rück, sind ver­lo­ren … Un­ser Lot­se spuckt sei­ne Prie­me weit über Bord: »Böse Ar­beit, das!«
Wird es uns wie dem Floß er­ge­hen? Der Ma­gen nickt Be­ja­hung … Das Was­ser wäscht un­se­re Klei­der und das Deck wie­de...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Impressum
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Danke
  5. Newsletter abonnieren
  6. Der rasende Reporter
  7. Unter den Obdachlosen von Whitechapel
  8. Ein Spaziergang auf dem Meeresboden
  9. Wie der Einbrecher Breitwieser erschossen wurde
  10. Die Weltumseglung der ›A. Lanna 8‹
  11. Experiment mit einem hohen Trinkgeld
  12. Der Flohmarkt von Clignancourt
  13. Erkundungsflug über Venedig
  14. Totenfeier in Kopenhagen
  15. Versteigerung von Castans Panoptikum am 24. Februar 1922
  16. Ada Kaleh, Insel des Islam
  17. Meine Tätowierungen
  18. Eine Nacht beim Türmer von St. Stephan
  19. Elf Totenköpfe auf dem Katheder
  20. Shipping Exchange
  21. Das Nest der Kanonenkönige: Essen
  22. Mit Auswanderern durch Frankreich
  23. Bombardement und Basarbrand von Skutari
  24. Übungsplatz zukünftiger Clowns
  25. Die Hochschule für Taschenspieler
  26. Bei den Heizern des Riesendampfers
  27. Referat eines Verbrechers über die Polizeiausstellung
  28. Schweineschlachten am Roeskildefjord
  29. Erregte Debatte über Schiffskarten
  30. Nachforschungen nach Dürers Ahnen
  31. Geheimkabinett des anatomischen Museums
  32. Stahlwerk in Bochum, vom Hochofen aus gesehen
  33. Der Raubmord im Hotel Bristol
  34. Heringsfang
  35. Streifzug durch das dunkle London
  36. Fahrt unter Wasser
  37. Missgeburten des Porzellans
  38. Bürgerkrieg um die Festung Küstrin
  39. Luftbahnhof und Regenbogen
  40. Abenteuerliche Schicksale einer Königskrone
  41. Wallfahrtsort für Kriegshetzer
  42. Faschingskostüme
  43. Eines Scharfrichters Lebenslauf
  44. Elliptische Tretmühle
  45. Fürst Bolkonski am Grabe Trencks
  46. Prüfungssorgen, Prüfungssorgen
  47. Nachtleben auf dem Polesaner Kai
  48. Dies ist das Haus der Oper
  49. Generalversammlung der Schwerindustrie
  50. Das Fuchsloch des Herrn von Balsac
  51. Wat koofe ick mir for een Groschen?
  52. Jiddisches Literaturcafé
  53. Tote Matrosen stehen vor Gericht
  54. Mittwoch in Kaschau
  55. Das weitere Verlagsprogramm