
- 445 Seiten
- German
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eBook - ePub
Der rasende Reporter
Über dieses Buch
Fassung in aktueller Rechtschreibung
Mit einem Vorwort von Kurt Tucholsky
Egon Erwin Kisch gilt als einer der bedeutendsten Reporter in der Geschichte des Journalismus. Nach dem Titel eines seiner Reportagebände wurde er auch als "der rasende Reporter" bekannt. "Schreib das auf, Kisch!" wurde zum geflügelten Wort in den 1920ern.
Lesen Sie hier 48 seiner gelungensten Reportagen und Essays.
"Reportage ist eine sehr ernste, sehr schwierige, ungemein anstrengende Arbeit, die einen ganzen Kerl erfordert. Kisch ist so einer." [Kurt Tucholsky]
Mit 238 Fußnoten
Null Papier Verlag
Häufig gestellte Fragen
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Information
Die Weltumseglung der ›A. Lanna 8‹1
I. Von Prag nach Pressburg über die Nordsee
An Bord der ›A. Lanna 8‹, auf hoher See, 8° 30' ö. L.; 53° 58' n. B.; 6. Okt. 1920
Pressburg liegt südöstlich von Prag. Also muss man, wenn man von Prag nach Pressburg will, zuerst nördlich fahren, immer nördlich, bis dorthin, wo der europäische Kontinent aufhört, Kontinent zu sein, hinter Hamburg, hinter Cuxhaven, noch immer nördlicher bis in die Nordsee. Und dann nach Westen, auf Kanälen und Flüssen unausgesetzt nach Westen, über die Weser bis zur deutsch-holländischen Grenze und weiter bis zum Rhein … Das ist so die Logik der Wasserstraßen …
Pressburg liegt 350 Kilometer von Prag entfernt, etwa 250 von Budweis. Die Moldau hat (bei Hohenfurt) einen Abstand von bloß 35 Kilometern von der Donau (bei Linz). Aber will man von der Moldau auf die Donau, so muss man 2170 Kilometer fahren, ›bis Babitz‹, sechs Wochen lang, acht Wochen lang – ich weiß noch selbst nicht, wie das alles werden soll. Moritzl, wo hast du dein linkes Ohr?
Der Tender »A. Lanna 8«, der bisher beschaulich im Holleschowitzer Hafen oder am Frantischek lag oder Elbkähne für die Moldauregulierung schleppte oder Kohlenkähne aus Aussig am Gängelband schleifte, ward plötzlich zu Höherem ausersehen: Zu Baggerungsarbeiten muss er nach Bratislava. Dort soll ein Hafen für zwei Millionen Tonnen ausgebaut werden, und für die Arbeiten braucht man die Moldauflottille. Wie sie hinkommt? Die tschechoslowakischen Eisenbahnbehörden gaben die Auskunft: »Per Bahn geht das nicht.« So fuhr »A. Lanna 8« – als erstes Schiff der Republik, das von Prag nach Pressburg auf dem Wasserwege abgeht – am Donnerstag, dem 23. September 1920, um sieben Uhr früh, vom Holleschowitzer Hafen mit sechs Tonnen Kohle ab. Es ging bis Mirschowitz, dann Lobositz und weiter nach Aussig, wo vier Tage Aufenthalt war, bis wir endlich am 30. einen Waggon Kohle von Petschek nehmen konnten. Auch ein Haupter kam hier an Bord, der um 1400 Mark unser Schiff nach Dresden, Coswig, Werben, Lauenburg führte. Am 4. Oktober, um zehn Uhr vormittags, legten wir in Hamburg am Zollkanal an.
Vom Kai des Dowenfleth und von der Wandrahmbrücke schauten die Mädchen in kurzen Röcken interessiert auf den niedrigen Dampfer mit den neuen Farben. Und wir, wir schauten vom niedrigen Dampfer mit den neuen Farben nicht minder interessiert zu den Mädchen in kurzen Röcken auf dem Kai des Dowenfleth und auf der Wandrahmbrücke hinauf.
Ein neuer Lotse kam an Bord, der uns für 1300 Mark über das Wattenmeer nach Wilhelmshaven führen soll, und an der Landungsbrücke stand wieder ein Flusslotse, der uns in Wilhelmshaven erwarten und durch die Kanäle und über Rhein und Main auf die Donau bringen wird; der kriegt 8000 Mark. Der Seelotse besah unsern Kasten mit unverhohlenem Misstrauen. Aber schließlich (1300 Mark sind viel Geld!) sagte er, es werde schon gehen, und traf einige Sicherheitsmaßnahmen. Eine Abflussgatte für Meerwasser, das bei Seegang auf Deck schlagen könnte, müsse hergerichtet werden; der herbeigeholte Schlosser verlangte dafür 300 Mark, woraufhin wir uns die Abflussgatte selbst in die Bordwand hackten. Das Rettungsboot, bisher frei auf den Klampen ruhend, wurde mit Ketten seefest gemacht. Der Kamin wird durch Trossen gestützt werden müssen, aber vorläufig schieben wir diese Arbeit noch auf, da wir Elbbrücken zu passieren haben. Wir nahmen vier Tonnen Steinkohle, ein Kompass wurde eingeschifft, die große Seekarte auf dem Kapitänsstand aufgespannt.
Mittwoch, den 6. Oktober, zehn Uhr fünfunddreißig Minuten vormittags, stachen wir, erstes Schiff tschechoslowakischer Flagge, von Hamburg aus in See. Durch den Binnenhafen und den Niederhafen fuhren wir, rechts Sankt-Pauli-Landungsbrücken, die Hallen des Elbtunnels, der Riesen-Bismarck schaut vom Postament auf den Tender mit der rot-blau-weißen Flagge, dann sind wir en face2 der Davidstraße, Altona, gestern Abend waren wir darin, in ihren Seitenstraßen, Heinrichstraße, Marienstraße, Friedrichstraße bis zur Reeperbahn, Lupanar3 an Lupanar, eine Welt, in der sich unter dem Schreien von Musikautomaten in Riesenschaukeln und Karussels und Kinos und Hippodromen und Schenken und Schaubuden und Tanzrädern der tollste Weltgroßhandel der Sexualität vollzieht. Steuerbords bleibt hinter unserem Schiff der Steinwärder zurück mit dem verödeten Hapaghafen; die Schiffe sind abgeliefert, davor aber sehen wir gleichzeitig ein eisernes Firmament von tausendfach ineinandergeschobenen Gerüsten und Gestängen, die Werft »Blohm und Voß«, Hellinge und Docks sind besetzt, Krane fahren aufwärts und seitwärts, Hämmer dröhnen, und auf der Vulkanwerft ist es nicht anders.
An Heringsloggern aus Rügen fahren wir vorüber, an Islandfischern von Cuxhaven, an Segelschiffen, die das weiße Kreuz auf rotem Grund tragen, wenn sie aus Dänemark, und das gelbe Kreuz auf blauem Feld, wenn sie aus Schweden sind, ein amerikanischer Kargodampfer überholt uns bei Blankenese, fast immer eilen die Matrosen an die Reling, rufen ihre Offiziere herbei und zerbrechen sich sichtlich die Köpfe über das Liliputanerschiff mit unbekannten Farben.
Von einem deutschen Dreimastschoner werden wir durch das Sprachrohr angepreit: »Hallo! Was haben S’ da für Flaggen?«
Wir haben leider kein Sprachrohr an Bord, können keine Antwort geben, und der Dreimaster fährt mit unbefriedigter Neugier von dannen.
Auf Finkenwärder arbeitet die Deutsche Werft, weit rückwärts ist ein Komma auf dem Horizont: der Kirchturm von Buxtehude; dort übt ein Schmied von alters her sein Gewerbe aus und ist so populär, dass temperamentvolle Frauen ihren schlappschwänzigen Ehegatten die Verwünschung zuzurufen pflegten, sie mögen sich vom Buxtehuder Schmied eine Eisenstütze zur Stärkung ihrer Energie anschmieden lassen. Aus dieser ehelichen Verwünschung ist dann die Redensart »Geh nach Buxtehude« geworden und in Gegenden gedrungen, von wo der Weg in dieses »Eisenach« (dieses Wort ist in Analogie zu »Steinach« gebildet) zu weit wäre! Backbords und steuerbords wird das Land immer kahler und flacher, es passt sich gleichsam in seiner Form dem Meere an, und schließlich sieht die Heide nicht bloß wie erstarrte See aus, sondern sie ist noch wellenloser als diese. Nur hie und da dreht eine Windmühle ihr Hakenkreuz, als winke sie uns zu, »hier ist noch deutscher Boden«. Punktiert sind schmale Sandbänke von rastenden Möwen. Unsere Straße ist von roten und schwarzen Bojen markiert – wir brauchen den Kompass nicht zur Steuerung.
Hinter den Kegelschloten der Brunsbütteler Zementfabrik (»Hier sieht’s wie in Podol aus«, sagt Struha, der alte Maschinist.) fahren wir an der Mündung des Kaiser-Wilhelm-Kanals vorüber, er führt nach Kiel, in die Ostsee. Links Hannover. Rechts rückt die schleswig-holsteinische Küste immer weiter und weiter. Mit dem Glas luge ich nach den Helgoländer Felsen aus. Aber ein Moldautender ist kein Aussichtspunkt.
Die Elbe ist hier schon meerhaft. So weit sind die Ufer! Grünlich wird das Wasser. Der Nordwestwind lässt das Schiff rollen. Der Tag macht seine Polster zurecht und blinzelt schläfrig.
Gasflammen auf Leuchtbojen, die auch tagsüber brennen, werden sichtbar. Die Flut schlägt uns entgegen, verzögert das Tempo der »A. Lanna 8«. Salzig und nass ist die Kälte, die sich uns in Mund und Poren drängt. Manche Leuchttürme sind ruhigen Blicks, andere zucken ununterbrochen mit den Wimpern. Um sechs Uhr fahren wir den großen Kai von Cuxhaven entlang. Vor sechs Jahren habe ich ihn auch gesehen, den großen Kai von Cuxhaven. Da war er schwarz von Menschen, von jubelnden Zehntausenden, die den größten Dampfer der Welt sehen wollten. Ich stand oben auf dem Promenadendeck, elf Stockwerk hoch, und nur durch den Zeiß konnte ich die Gesichter da unten unterscheiden. Die Bordkapelle spielte: »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus …«, unsere schwimmende Stadt fuhr ab, Tücherschwenken.
Wehmütiger als damals die Abfahrt muss mich heute die Ankunft stimmen. Von unten blicke ich zum Molo4 empor. Und kein Mensch ist auf dem herbstabendlichen Steinwall zu sehen. Nein, es ist nicht mehr das größte Schiff der größten Flotte, auf dem ich da bin. 8 Tonnen hat »A. Lanna 8«, 55.000 hatte die »Vaterland«. Keines ihrer Rettungsboote war so klein wie unser heutiges Vehikel. 1200 Mann Besatzung und 4080 Passagiere – unser Dampfboot hat drei Mann Besatzung für seine Seefahrt und nur einen Passagier, mich.
Und für den Zeugen dieser beiden Ereignisse von gleicher Begriffskategorie und ungeheurem Dimensionsunterschied ergibt sich bei den Vergleichen, die er unsinnigerweise anstellt, nichts anderes als das, was jedem Menschen unserer Zeit überall und stündlich einfällt: dass es nie einen größeren Divisor gegeben hat als diese sechs Jahre.
II. Der Moldaudampfer im Seesturm des Wattenmeeres
An Bord »A. Lanna 8«, Ems-Jade-Kanal, am 8. Oktober 1920
Schon am Abend der Ankunft in Cuxhaven war der Lotse, den wir in Hamburg für die Fahrt übers Meer geheuert hatten, an Land gegangen und gleich darauf an Bord zurückgekehrt: Er habe eben aus Hamburg die telegrafische Nachricht bekommen, sein Schwiegervater sei gestorben. Hoffentlich finde er einen Kollegen, der uns von der Elbmündung über das Meer führen werde.
Als wir morgens aus den allzu eng in die Wand geschnittenen Kojen der »A. Lanna 8« krallten, brachte er den Kollegen und empfahl sich von uns, »zum Begräbnis des Schwiegervaters«. Dem Stellvertreter hatte er allerdings dieses Märchen nicht aufgebunden, sondern ihm aufrichtig gesagt, er traue sich nicht mit unserem Süßwasserkasten über eine bewegte See. Weniger ehrlich war er in seiner Auskunft über den Führerlohn gewesen; nach langem Zögern hatte er für die Stellvertretung 400 Mark bewilligt und hinzugefügt, jetzt bleibe ihm nichts mehr als das Reisegeld für die Rückfahrt nach Hamburg. (Wir erfuhren dies freilich erst auf hoher See von dem Ersatzmann, der nicht wenig ungehalten darüber war, nun von uns zu hören, dass sein Kollege morgen in Hamburg für die Führung 1300 Mark einstreichen wird.)
Unser neuer Lotse, ein Krabbenfischer, kennt sich auf dem Wattenmeer so genau aus wie in den Taschen seiner trangetränkten Hose – jedoch kann er nicht in diese Taschen, da seine Wasserstiefel bis zum Schritt reichen. Auch er besieht unsern Maschinenraum nicht besorgnislos, denn einen Dampfer ohne Süßwasserreservoir und ohne Destillator für Salzwasser hat er wohl noch nie in seinem langen Seeleben gesehen. Mit dieser Nussschale soll man über den Ozean? Er lugt auf Ventilator und Glasständer, klopft Röhren und Kondensator ab; auf unserer Fahrt durch das Brackwasser hat sich noch nicht viel Salz angesetzt, und unsere Kessel könnten auch drei Tage durch Salz aushalten, entscheidet er. Die Trossen, mit denen Kamin und Rettungsboot festgemacht sind, prüft er nochmals.
Um neun Uhr morgens (7. Oktober) stach T. M. S. »Lanna 8« in See, die »Alte Liebe«, den Molokopf von Cuxhaven, rundend. Fort Kugelbake, sozusagen der Grenzstein zwischen Elbe und Weltmeer, liegt erst vor uns, aber wir spüren das Jenseits schon jetzt. Luft ist wie Meer: salzig und nass. – Und der Wind lässt uns taumeln. – Der alte Maschinist Struha, seit sechzehn Jahren haust er da unten im Kesselraum von »A. Lanna 8«, hat kein Vertrauen zu dem flüssigen Salz, das auch den Speiseröhren seines Kessels gar nicht schmecken will. Podskal hat keinen Molo und Pelc-Tirolka keinen Leuchtturm – hier aber steckt alles voll von solchen Kinkerlitzchen (sracicky), und Kompass und Riesenseekarte sind auch nicht dazu angetan, beruhigend zu stimmen: Wie soll man sich auf dem Wasser auskennen, wo keine bekannten Ufer, ja überhaupt keine Ufer und keine bekannten Gasthäuser, ja überhaupt keine Wirtshäuser sind? Beim Wenza Kucera im Hafenwirtshaus in Holleschowitz wäre uns allen wohler, obwohl der ein alter Grobian ist.
»Wenn’s sakramentisch wird«, so macht der alte Struha sein Testament, »wenn’s sakramentisch wird, dann verkriech ich mich im Maschinenraum, dass es mich nicht hinauswerfen kann …«
Der Kommandatore von »A. Lanna 8«, Herr Jirsch, war Zugführer bei den Pionieren und hat die Tagliamentomündung befahren, und der Bootsmann, der Franta Cihlarík, ist sehr stolz auf seine Karriere bei der k. u. k. Kriegsmarine. »Já byl5 Bootsmannsmaat-Torpedoinspektor pane!«6
An »Elbe V« kommen wir vorüber, dem ersten der fünf Leuchtschiffe, die die Hafenausfahrt flankieren; die Bemannung dieser Signalschiffe ist sechs Wochen an Bord, dann vierzehn Tage auf Urlaub an Land, jahraus, jahrein. Ein Motorboot jagt hinter uns her und preit uns an: »Reichswasserschutz! Halt!« Die Polizisten springen auf Deck und lassen sich unsere Papiere vorweisen; es ergibt sich, dass wir keine Schieber sind, die unter fremder Flagge ein deutsches Schiff ins Ausland verschachern wollen, wir haben bloß in Unkenntnis der Verhältnisse es unterlassen, das Duplikat der Ausfahrtsbewilligung, vom Reichsverkehrsministerium (Schifffahrtsabteilung) ausgestellt, abzugeben.
Gut brennt die Sonne, aber die Luft ist mistig. Rechts ist ein Leuchtturm zu sehen, es scheint, als rage er direkt aus dem Wasser. Jedoch er steht auf einer Insel, zu der man bei Ebbe vom Festland aus im Wagen fahren kann: Insel Neuwerk, Schlupfwinkel und Flottenstützpunkt Klaus Störtebekers, des heiligen Seeräubers und Feindes der Hansaschieber. Jedes Watt, jedes Tief, jedes Riff birgt hier die Erinnerung an ihn und seine Taten. Von Duhnen aus hatte Klaus Störtebeker einen unterirdischen Gang angelegt bis in seine Feste Rützebüttel, die wir gestern in Cuxhaven sahen. Die heutigen Bewohner Neuwerks, fünf Bauern, ein Schullehrer und zwei Leuchtturmwächter, so erzählt unser Lotse, fühlen sich als Störtebekers Erben: Sie räubern, was das Zeug hält, stecken Massen von Strandgut ein (überall sehen wir Wracks, und wenn uns nicht ohnehin schon übel zumute wäre, diese Mementa mori könnten uns das Gruseln lehren!) und scheren sich den Teufel um die Obrigkeit. Die Bauern sind allesamt schwere Millionäre, zwei oder drei sind auch adelig; das Hotel »Zur Meereswoge« hat saftige Preise, die Schule wird von neun Kindern besucht. Die gesamte männliche Bevölkerung von Neuwerk, der Schulmeister einbegriffen, bildet die Bemannung des Rettungsbootes. Bei den Signalraketen bleiben nur die Frauen.
Vor Hunde-Balje, elf Uhr vormittags, ist ein Seehundfischer verankert; bereits vorher haben wir etliche Seehunde auftauchen und die neue Flagge anglotzen sehen. Scharf dreht der Wind nach Süd. Er reißt rücksichtslos unser Schraubendampferchen herum. Der Wind schaukelt, und das Wasser schaukelt – wie wir schaukeln, mag man sich denken! Hochauf schlagen Wellen, sie geißeln Deck und Deckaufbau; bevor wir die Kajütenluken geschlossen haben, ist schönste Überschwemmung darin, und sogar in das Kaminloch springt eine Woge.
Der Kamin! Er ist lebensüberdrüssig. Bald neigt er sich steuerbords, bald will er sich auf der linken Seite in die feindliche Flüssigkeit schmeißen. Die Trossen zerren ihn, reißen ihn zurück und stöhnen ob der Anstrengung.
Schwer balanciert man auf Deck. Backbords sieht man auf dem Watt von Scharhörn Menschen sich placken; sie bergen Balken. Vor drei Wochen ist hier ein Floß im Werte von 40.000.000 Mark gestrandet, das größte Floß der Welt. Von Schweden her kam es, von vier Schleppern gezogen, über das Wattenmeer und wollte nach Amsterdam; 13.500 Baumstämme, manche 15 Meter lang, in einer Breite von 16 Metern nebeneinander und in einer Höhe von 6 Metern übereinander geschichtet, von Ketten zusammengehalten. In Splitter aber rissen die Wellen diese Stahlketten. 3000 Balken wurden in Cuxhaven ans Land geschwemmt, 3000 auf die Insel Neuwerk, 5500 hierher nach Scharhörn. Jeder Balken war auf 160 Mark versichert, und wer der Assekuranzgesellschaft in Cuxhaven einen der Stämme liefert, erhält 100 Mark. Wir sehen die Armen von Cuxhaven sich mühen, die Stämme gegen die See zu rollen. Kommt unversehens die Flut, können die Leute nicht mehr vom Meere zurück, sind verloren … Unser Lotse spuckt seine Prieme weit über Bord: »Böse Arbeit, das!«
Wird es uns wie dem Floß ergehen? Der Magen nickt Bejahung … Das Wasser wäscht unsere Kleider und das Deck wiede...
Inhaltsverzeichnis
- Titel
- Impressum
- Inhaltsverzeichnis
- Danke
- Newsletter abonnieren
- Der rasende Reporter
- Unter den Obdachlosen von Whitechapel
- Ein Spaziergang auf dem Meeresboden
- Wie der Einbrecher Breitwieser erschossen wurde
- Die Weltumseglung der ›A. Lanna 8‹
- Experiment mit einem hohen Trinkgeld
- Der Flohmarkt von Clignancourt
- Erkundungsflug über Venedig
- Totenfeier in Kopenhagen
- Versteigerung von Castans Panoptikum am 24. Februar 1922
- Ada Kaleh, Insel des Islam
- Meine Tätowierungen
- Eine Nacht beim Türmer von St. Stephan
- Elf Totenköpfe auf dem Katheder
- Shipping Exchange
- Das Nest der Kanonenkönige: Essen
- Mit Auswanderern durch Frankreich
- Bombardement und Basarbrand von Skutari
- Übungsplatz zukünftiger Clowns
- Die Hochschule für Taschenspieler
- Bei den Heizern des Riesendampfers
- Referat eines Verbrechers über die Polizeiausstellung
- Schweineschlachten am Roeskildefjord
- Erregte Debatte über Schiffskarten
- Nachforschungen nach Dürers Ahnen
- Geheimkabinett des anatomischen Museums
- Stahlwerk in Bochum, vom Hochofen aus gesehen
- Der Raubmord im Hotel Bristol
- Heringsfang
- Streifzug durch das dunkle London
- Fahrt unter Wasser
- Missgeburten des Porzellans
- Bürgerkrieg um die Festung Küstrin
- Luftbahnhof und Regenbogen
- Abenteuerliche Schicksale einer Königskrone
- Wallfahrtsort für Kriegshetzer
- Faschingskostüme
- Eines Scharfrichters Lebenslauf
- Elliptische Tretmühle
- Fürst Bolkonski am Grabe Trencks
- Prüfungssorgen, Prüfungssorgen
- Nachtleben auf dem Polesaner Kai
- Dies ist das Haus der Oper
- Generalversammlung der Schwerindustrie
- Das Fuchsloch des Herrn von Balsac
- Wat koofe ick mir for een Groschen?
- Jiddisches Literaturcafé
- Tote Matrosen stehen vor Gericht
- Mittwoch in Kaschau
- Das weitere Verlagsprogramm