
- 218 Seiten
- German
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eBook - ePub
Geschichten aus sieben Ghettos
Über dieses Buch
Fassung in aktueller Rechtschreibung
Kisch, wieder unübertroffen in seinen Schilderungen von Menschen und Situationen – diesmal aber konzentriert auf Erlebnisse und Geschichten in jüdischen Ghettos.
Auch hier kümmert sich die Feder Kischs' um die Außenseiter unter den Verstoßenen: Die Hochstapler, die Tore, die merkwürdigen Gestalten, wie sie besonders in schwierigen Zeiten gedeihen. Und die Zeiten waren die Schwierigsten und die Orte nicht selten die Menschenunwürdigsten.
Mit 179 Fußnoten
Null Papier Verlag
Häufig gestellte Fragen
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Information
Der Tote Hund und der lebende Jude
Steif, von braun-runzliger Haut umhüllt, streckte sich den Knien der kleinen Kamilla ein menschlicher Nacken entgegen. Da sie plötzlich erschrak und ihr Kleid hinunterschob, sah ich diesen fremden Körper und habe ihn nie vergessen. Es ist lange her, seit diese Begegnung die ersten Regungen meiner Pubertät erschreckte. Das Jahrhundert hatte kaum begonnen. Die kleine Kamilla war fünfzehn Jahre alt, zwei oder drei Monate jünger als ich. Im Stadtpark, wo wir uns nach der Rückkehr aus der Sommerfrische zunächst unverabredet und dennoch nicht zufällig getroffen hatten, konnte man nicht küssen oder nur schwer, und im Paradiesgarten gab es zwar keine Mütter, Mitschülerinnen oder andere Bekannten, aber doch Erwachsene genug, die ein Liebespaar derart kleinen Formats impertinent belächelten.
Damals fanden wir uns den Judenfriedhof. Die Menschen hier belächelten und beklatschten schon lange niemanden mehr, sie waren tot, selbst die Würmer, die sich einst von ihnen genährt hatten, waren längst in Atome zerstäubt.
Äste, überhängend und verfitzt, geneigte Steine, Grabhügel und gemeißelte Sarkophage schlossen sich zu schützenden Verstecken zusammen. Im westlichen Teil, dem unwegsamsten, wirrsten der Totenstadt, stand eine Steinbank, auf der es sich besser sitzen ließ als auf der feuchten Friedhofserde oder den kalten Grabplatten. Dort haben die kleine Kamilla und ich das Gelöbnis der ewigen Treue mit primitivem Petschaft, den Küssen von Halbwüchsigen, besiegelt. »Lass mich fühlen, wie dein Herz klopft«, habe ich gesagt, weil diese Phrase in einem Roman vor einer Zeile vielsagender Gedankenstriche stand. Die Gedankenstriche in jenem Buche haben sicherlich entscheidendere Vorgänge angedeutet, aber anders als durch Gedankenstriche ließe sich auch das schwerlich erzählen, was zurzeit unserer Pubertät auf der versteckten Bank geschah.
Uns störten die Hände nicht, die die Grabsteine der Hohepriester entsetzt-abwehrend von sich streckten. Uns redeten die Steine nicht, nicht das Gebein darunter und nicht die Gottheit, die mit unverständlichen Zeichen beschworen war. Wir waren allein.
An jenem Tage mit der kleinen Kamilla war draußen Regen gewesen, und auf dem Friedhof war er noch. Er klammerte sich ans Gestrüpp und an die Dolden, bevor er den letzten Rest seines Sturzes tat, wenn ein Windhauch ihn anstieß, und vor den silbern schimmernden Grabsteinen starb er in die Erde. Pfützen verlegten unseren Weg, die Bank war nass, ich opferte mein Taschentuch, um sie zu trocknen, und meinen Paletot,1 damit Kamilla sich darauf setze.
Ein Baumstrunk, kaum zwei bis drei Schritte vor uns, blieb unbeachtet, wir begannen mit den Küssen, mit meiner Untersuchung ihrer Herztätigkeit, und meine Hand schob ihren kurzen Mädchenrock über das Knie und streichelte die Haut, als Kamilla zusammenfuhr und ihren Rock hinabzerrte, mit entsetzten Augen, deren Richtung die meinen folgten. Da sah ich den Nacken, diesen unflätigen Nacken mit der gebräunten, runzligen Haut, gerichtet auf Kamillas Knie. Der Baumstrunk war kein Baumstrunk, er war ein Mensch. Vor einem schwarzsteinernen Sarkophag, auf dessen Flächen das seichte Relief der Quadratschrift feucht schimmerte gleich flüssigem Zinn, stand er und betete. Jetzt hörte ich auch die fast lautlos gemurmelte Litanei; er unterbrach sein Gebet nicht, während er mit gerecktem Hals die jugendliche Frivolität eines Liebespaars belauerte, während sein Blick die Waden Kamillas abwärts strich und sich dann wieder emporriss. Kamilla sprang auf, ich hielt sie nieder, fortzulaufen kam mir dumm vor. Ich redete zu ihr, forciert und Belangloses, und schielte auf den Mann.
Sein weißes Haar, kleingelockt wie Wolle, stand unter dem schäbigen, flachen Velourhut ab. Kaum ein Drittel seines Gesichts war mir sichtbar, die gierige Pupille, die Wölbung eines Tränensacks, die Spitze der vorspringenden Nase und der zerzauste, ungestutzte Rand des grauen Spitzbarts auf gegerbter Wange. Wie aus Büffelleder war die Hand, die in den Rhythmen des Gebets schaukelte. Der Mann war ein Greis, aber sein Körper war nicht der eines Greises. Eine schwarze Tuchhose lag prall an seinen Schenkeln und glänzte tranig, unten steckte sie in hohen Stiefeln. Vom Rist bis zum Schritt schienen die Beine, sehnige, junge Beine, gleich breit, erst in der Höhe der Beckenknochen verjüngten sie sich unnatürlich, die Hüfte war schmal. Der Mann trug weder Kaftan noch Mantel, sein schwarzer Rock war ihm zu groß, selbst der Regen hatte ihn nicht an den Leib zu pressen vermocht; die Breite der Schultern gab dem Oberkörper die Form eines Dreiecks. In der linken Hand des Alten, die ich nicht sah, baumelte ein Ledersack. Kamilla und ich wollten warten, bis er gegangen war. Aber er betete vertieft. So gingen wir. Erst nach etwa zwanzig Schritten wagten wir, hinter einem Stein verborgen, uns nach ihm umzusehen: Er war wieder Baumstamm, der braune dürre Ast stand hart in der Richtung auf uns. Ich sah sein Gesicht. Die Lippen bewegten sich im Gebet.
Sooft nachher Kamilla und ich uns irgendwo im Freien niederließen, bat sie mit gespielter Scherzhaftigkeit: »Schau nach, ob der Baum dort wirklich ein Baum ist.«
Die Liebschaft ging vorbei und die Jahre, ich war doppelt so alt geworden, als ich an die Begegnung mit dem Alten erinnert wurde. Man schrieb Ende 1914, und das k. u. k. Infanterie-Regiment Nr. 11 lag in Ofutak bei Neusatz im Winterquartier. Von den Serben geschlagen und über die Donau zurückgejagt, sollten wir hier zu frischen Taten aufgepäppelt, neu ausgerüstet und diszipliniert werden. Allabendlich, ehe der diensthabende Offizier seinen Rundgang durch die Stadt machte, um Soldaten zu erwischen, die sich nach dem Zapfenstreich noch umhertrieben, nahm er einige Mann von der Bereitschaftswache zu seiner Bedeckung mit; einmal gehörte auch ich zur Patrouille.
Draußen, wo sich der Umriss der Ortschaft verlor, stand das »Kuppeleihaz«. Der Offizier stellte von außen fest, welche Zimmer beleuchtet waren, denn in dem Augenblick, da eine Inspektion das Haus betritt, verlöschen immer alle Lichter, das weiß jeder, der nicht zum ersten Mal Dienst macht. Diesmal war nur das rechte Eckzimmer hell, der Inspektionsoffizier trat mit uns ein, hörte nicht auf die Eide der Madame, dass kein Soldat im Hause sei, er klopfte an die Tür des rechten Eckzimmers. »Aufmachen! Inspektion!« Ein nacktes Mädchen schloss ungeniert auf, ihr Gast war ein Zivilist, ein steinalter Jude, den wir gestört hatten. Der Offizier schaute sich im Zimmer um, als suche er doch noch einen versteckten Soldaten.
»Wie schmierig das Bett ist«, sagte er, um etwas zu sagen.
»Ich habe auch nicht darin gelegen«, verwahrte sich der Alte, an den der Satz nicht gerichtet war.
»Was machen Sie hier?« herrschte ihn der Offizier an, besann sich aber, dass diese Frage ziemlich überflüssig sei, und fügte hinzu: »Sind Sie aus Ofutak?«
»Ich bin ein Hausierer, ich komm schon viele Jahre her … mich kennt jeder Mensch in Ofutak, ich …«
»Also schauen Sie, dass Sie nach Hause kommen«, schnitt der Offizier in seine Rede, »es ist Ausnahmezustand, nach zehn Uhr abends müssen alle Leute zu Hause sein, eigentlich sollte ich Sie verhaften.«
»Kann ich nicht noch einen Moment bleiben«, bat der Greis.
Der Offizier lachte. »Sie haben doch gesagt, dass Sie sich nicht in das schmierige Bett legen.«
»Kérem szépen,2 der da legt sich nie in Bett, wann er mit Madel beisamm’ ist«, bemerkte die Madame, die scheu an der hinter uns offengebliebenen Zimmertür lauerte. Wir setzten den Dienstgang fort.
Den ganzen Abend lang dachte ich nach, an wen mich der Alte erinnere, diese braungegerbte Gesichtshaut, Kopf, Wange und Kinn beklebt mit weißem Negerhaar, dieser Körperbau von der Form einer Sanduhr, die starken sehnigen Beine in unternehmungslustigen Reiterstiefeln.
Erst am Morgen kam mir der Gedanke, der gestrige Bordellgast sei mit dem Baumstrunk des Ghettofriedhofs aus meiner Pubertätszeit identisch. Unsinn! Was hätte ein südungarischer Dorfhausierer in Prag zu suchen gehabt, und wie könnte ich ihn wiedererkennen nach so vielen Jahren? Kamilla ist längst verheiratet und Mutter, und der Mann, der uns belauscht hatte, war schon damals ein Greis gewesen; nein, die Identität des betenden Friedhofsgastes mit dem geilen Bordellbesucher konnte nicht stimmen. Aber ich erinnerte mich des gesteiften Nackens, Stativ eines Blicks, der damals Kamillas Kleidchen emporzureißen schien. War nicht die gleiche Gier in dem Greis von heute Nacht? Unmittelbar nach fatalem Interruptus, unmittelbar nachdem er der Gefahr, verhaftet zu werden, entgangen war, bat er um die Bewilligung, sein Schäferstündchen zu vollenden.
Wäre ich in Ofutak dem Alten auf der Straße begegnet, hätte ich ihn angesprochen, aber es mussten wieder zehn Jahre vergehen, ehe ich ihn auf dem Prager Judenfriedhof wiedersah. Im ersten Augenblick glaubte ich an eine Halluzination. Er stand da und betete da, wo Kamilla und ich ihn vor einem Menschenalter stehen und beten gesehen. Ganz scharf schaute ich hin: Kein Zweifel, es war der Hausierer von Ofutak.
Ich ging wie zufällig an ihm vorbei und redete ihn an. »Ich wollte Sie nur aufmerksam machen, dass der Friedhof gleich gesperrt wird.« – »Ich werde schon hinauskommen, die Tür in den Hausflur bleibt offen.« Dennoch beendete er sein Gebet, wählte aus dem Sack, den er in der Hand trug, sorgsam ein Steinchen und legte es auf das dreihundertjährige Grab. »Ein Stein aus Jerusalem«, sagte er, mich musternd. »Das ist das Grab von Medigo del Kandia, nicht wahr?« – »Wieso wissen Sie das? Sind Sie von der Chewra?«
Nein, ich sei nicht von der Beerdigungsbrüderschaft.
»Woher wissen Sie also, wessen Grab das ist?« – »Ich interessiere mich für den Friedhof.« Da ich merkte, dass er mich wieder mit einer Frage nach meiner Zugehörigkeit zu irgendeiner religiösen Institution unterbrechen wollte, fügte ich hinzu: »Nur ganz privat.«
»Sind Sie ein Doktor?« Es schien mir einfacher, bejahend zu nicken, als meinen Beruf anzugeben, der ihn möglicherweise zu Misstrauen oder Zurückhaltung veranlassen könnte.
»Was wissen Sie von Medigo del Kandia?« Er fragte nicht wie einer, der prüfen will, sondern als wundere er sich, dass ein Fremder über seine Privatangelegenheiten unterrichtet sei: Wie kommst du dazu, meinen Toten zu kennen?
Das Grabmal sei doch eine Sehenswürdigkeit, sagte ich, und der Kretenser Medigo aus Büchern bekannt, »er war, glaube ich, Weltreisender, Mathematiker und Astronom, Schüler Galileo Galileis, ein Arzt und frommer Mann«.
»So? Sagen das die Bücher?« Er schien erstaunt.
»Ja. Steht das nicht auch hier auf dem Grabstein?« – »Auf Grabsteinen stehen lauter Lügen.« – »Also war Medigo kein Gelehrter? Nicht weitgereist?« – »Ob er gelehrt war! Ob er herumgekommen ist in der Welt! Vielleicht mehr als ich …« – »Und seine Frömmigkeit?« – »Er war frommer als alle, die hier liegen. Die wahre Frömmigkeit hat er gehabt, Rabbenu Jossef Schloime ben Eliahu.« – »Warum wundern Sie sich dann, dass das auch in Büchern steht?« – »Ja, nachher schreiben sie es in die Bücher. Wenn einer tot ist, dann lassen sie ihn leben.« – »Wer?« – »Wer? Die Menschen! Solang man lebt, wird man gehetzt von einem Ort zum anderen, unstet und flüchtig, und erst wenn einer tot ist, lässt man ihn leben. Nur ein Glück, glauben Sie mir das, junger Mann, nur ein Glück gibt es auf dieser Welt: zu sterben. Dann hat man seine Ruhe und seinen Frieden, bekommt einen Grabstein, und darauf schreiben sie, wie man war, trotzdem sie einen gerade deshalb angefeindet haben, weil man so war.« – »Aber Sie haben doch vorhin gesagt, Herr …, Herr …« – »Mein Name tut nichts zur Sache. Was habe ich vorhin gesagt?«
Er erwartete ruhig meinen Einwand, wie jemand, der sicher ist, sich in keinen Widerspruch verwickeln oder sich herausreden zu können, auch wenn er etwas Falsches gesagt hätte. Seine Art war nicht die eines Hausierers, Sprache und Wortschatz ließen auf einen gebildeten Rheinländer schließen, nur manchmal klang der Tonfall orientalisch, so als er die Segnung des Todes pries.
»Sie sagten doch vorhin, dass die Inschriften auf den Steinen lügen?« – »Ja, sie lügen! Mit steinernen Zungen lügen die Gräber. Lesen Sie, was hier über Jossef Schloime del Medigo steht!«
Er fuhr mit dem Finger über das längst plattgedrückte Relief der bemoosten Runen und übersetzte in unlogisch abgeteilten Wortgruppen, aber fließend den Panegyrikus3 auf den Toten: » … und es ist gegangen ein Wehklagen, ein großes, durch ganz Israel …«
Wie ein schlankes Haus, das einst frei stand und nun verschüttet ist bis zu den Giebeln und dem spitz zulaufenden Dach, war das Grab. Als der Alte sich über das Haus beugte, wirkte er groß, riesengroß. Seine Hand las weiter in der gemeißelten Trauerode. » … alle Gottesfürchtigen verehrten ihn …«
Unwillig wandte er sich von der Platte. »Wer hat ihn verehrt? Die da, die sich’s selbst in Stein kratzen, dass sie Gottesfürchtige sind? Vertrieben haben sie ihn aus Wilna, aus Grodek, aus Hamburg, aus Amsterdam, die Karäer4 haben ihn angefeindet, weil er die Kabbala verteidigt hat, die rabbinischen Juden haben ihn angefeindet, weil er den Sohar5 beschimpft haben soll, in Amsterdam haben sie ihm das Leben verbittert, in Frankfurt haben sie ihn wie einen Sträfling gehalten, überall hat er Not gelitten und Verfolgung – und nachher schreiben sie in den Stein, es ist gegangen ein Wehklagen durch ganz Israel, alle Gottesfürchtigen verehrten ihn … und was da alles steht.«
»Vielleicht hat man ihn in Prag anders aufgenommen?« – »In Prag? Weggejagt haben sie ihn von hier, einen sechzigjährigen Menschen, vier Jahre vor seinem Tod. Zu Fuß hat er fortmüssen aus dieser schwerreichen Gemeinde, eine Blase hat er auf der rechten Ferse gehabt, so groß …« – der Alte zeigte, Daumen und Zeigefinger rundend, das Ausmaß der Fußblase Medigos –, » … und seine Sandalen waren zerrissen. Zum Glück hat er bei Eger einen jüdischen Schuster getroffen, der hat ihm …«
Was wollte der Alte mit dem Schuster? Wollte er sich für den Mann ausgeben, der vor Jahrhunderten die Schuhe eines Wanderers besohlt hat?
Er merkte mein Misstrauen und fiel sich selbst ins Wort: » … irgendein Schuster aus der Umgebung von Eger vielleicht, ein junger Mensch, viel kleiner als ich, der hat ihm die Sohlen geflickt und die Bänder …«
»Aber Medigo ist doch in Prag gestorben, und man hat ihm dieses schöne Grabmal gesetzt.«
»Er hat dann nochmals nach Prag müssen und ist hier gestorben. Da haben sie ihm, auf Ehre, ein schönes Grabmal gemacht. Warum? Weil er berühmt war, Rabbenu Jossef Schloime ben Eliahu, und weil sie sich groß machen wollten, die Prager, was für bedeutende Leute bei ihnen beerdigt liegen. Die Fremdenführer können jetzt den Besuchern erzählen, wie geachtet und wie fromm und wie groß alle die Toten waren, die da liegen. Und in den Büchern steht auch solches Zeug.«
Der Alte sprang zur Vorderplatte des Grabmals, neigte sich wieder über das Dach, Hände und Augen suchten in dem Zement, mit dem der First renoviert war. » … Rabbiner von Hamburg … und in der Umgebung von Amsterdam … hafilosof elchi abir harofim – ein Philosoph des Göttlichen unter allen Weisen –, der stärkste unter den Ärzten, ein Astronom und Astrolog … sein Hauptwerk Taalimos lechochmo, die Geheimnisse der Weisheit …« Er wollte weiterlesen.
»Ist das alles nicht wahr?«
Des Alten Augenbrauen runzelten sich, er zischte: »Eine Wahrheit, die in einem Wust von Lügen steckt, ist tausendmal ärger als eine Lüge! Das ist ein Stück Fleisch in einer Falle. Das ist ein zerrissener Stiefel mit Schusterpech verklebt, statt geflickt. Das ist ein Buch, das einen Spruch Salomonis enthält und sonst Heuchelei predigt. Ich trete in keinen Sumpf, auch wenn sich darin die Sonne spiegelt. Ich will keine Wahrheit an einem Ort, wo lauter Lüge ist.«
Er lief zu einem Grab, dessen Stein schwarz und schräg dastand, moosüberwachsen und von Buchstaben durchfurcht. »Da haben Sie eine andere Lebensbeschreibung, und sie tat Gutes allen Armen …, und niemals fehlte sie bei der Morgenandacht … Aber es steht nicht da, was die fromme Frummet gemacht hat, als s...
Inhaltsverzeichnis
- Titel
- Impressum
- Inhaltsverzeichnis
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- Lobing, pensionierter Redakteur
- Romanze von den Bagdad-Juden
- Ex odio fidei …
- Die Messe des Jack Oplatka
- Dantons Tod und Poppers Neffe
- Des Parchkopfs Zähmung
- Der Kabbalistische Erzschelm
- Der Tote Hund und der lebende Jude
- Notizen aus dem Pariser Ghetto
- Den Golem wiederzuerwecken
- Das weitere Verlagsprogramm