Geschichten aus sieben Ghettos
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Geschichten aus sieben Ghettos

  1. 218 Seiten
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Geschichten aus sieben Ghettos

Über dieses Buch

Fassung in aktueller Rechtschreibung

Kisch, wieder unübertroffen in seinen Schilderungen von Menschen und Situationen – diesmal aber konzentriert auf Erlebnisse und Geschichten in jüdischen Ghettos.

Auch hier kümmert sich die Feder Kischs' um die Außenseiter unter den Verstoßenen: Die Hochstapler, die Tore, die merkwürdigen Gestalten, wie sie besonders in schwierigen Zeiten gedeihen. Und die Zeiten waren die Schwierigsten und die Orte nicht selten die Menschenunwürdigsten.

Mit 179 Fußnoten

Null Papier Verlag

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Information

Der Tote Hund und der lebende Jude

Steif, von braun-runz­li­ger Haut um­hüllt, streck­te sich den Kni­en der klei­nen Ka­mil­la ein mensch­li­cher Na­cken ent­ge­gen. Da sie plötz­lich er­schrak und ihr Kleid hin­un­ter­schob, sah ich die­sen frem­den Kör­per und habe ihn nie ver­ges­sen. Es ist lan­ge her, seit die­se Be­geg­nung die ers­ten Re­gun­gen mei­ner Pu­ber­tät er­schreck­te. Das Jahr­hun­dert hat­te kaum be­gon­nen. Die klei­ne Ka­mil­la war fünf­zehn Jah­re alt, zwei oder drei Mo­na­te jün­ger als ich. Im Stadt­park, wo wir uns nach der Rück­kehr aus der Som­mer­fri­sche zu­nächst un­ver­ab­re­det und den­noch nicht zu­fäl­lig ge­trof­fen hat­ten, konn­te man nicht küs­sen oder nur schwer, und im Pa­ra­dies­gar­ten gab es zwar kei­ne Müt­ter, Mit­schü­le­rin­nen oder an­de­re Be­kann­ten, aber doch Er­wach­se­ne ge­nug, die ein Lie­bes­paar der­art klei­nen For­mats im­per­ti­nent be­lä­chel­ten.
Da­mals fan­den wir uns den Ju­den­fried­hof. Die Men­schen hier be­lä­chel­ten und be­klatsch­ten schon lan­ge nie­man­den mehr, sie wa­ren tot, selbst die Wür­mer, die sich einst von ih­nen ge­nährt hat­ten, wa­ren längst in Ato­me zer­stäubt.
Äste, über­hän­gend und ver­fitzt, ge­neig­te Stei­ne, Grab­hü­gel und ge­mei­ßel­te Sar­ko­pha­ge schlos­sen sich zu schüt­zen­den Ver­ste­cken zu­sam­men. Im west­li­chen Teil, dem un­weg­sams­ten, wirrs­ten der To­ten­stadt, stand eine Stein­bank, auf der es sich bes­ser sit­zen ließ als auf der feuch­ten Fried­hofs­er­de oder den kal­ten Grab­plat­ten. Dort ha­ben die klei­ne Ka­mil­la und ich das Gelöb­nis der ewi­gen Treue mit pri­mi­ti­vem Pet­schaft, den Küs­sen von Halb­wüch­si­gen, be­sie­gelt. »Lass mich füh­len, wie dein Herz klopft«, habe ich ge­sagt, weil die­se Phra­se in ei­nem Ro­man vor ei­ner Zei­le viel­sa­gen­der Ge­dan­ken­stri­che stand. Die Ge­dan­ken­stri­che in je­nem Bu­che ha­ben si­cher­lich ent­schei­den­de­re Vor­gän­ge an­ge­deu­tet, aber an­ders als durch Ge­dan­ken­stri­che lie­ße sich auch das schwer­lich er­zäh­len, was zur­zeit un­se­rer Pu­ber­tät auf der ver­steck­ten Bank ge­sch­ah.
Uns stör­ten die Hän­de nicht, die die Grab­stei­ne der Ho­he­pries­ter ent­setzt-ab­weh­rend von sich streck­ten. Uns re­de­ten die Stei­ne nicht, nicht das Ge­bein dar­un­ter und nicht die Gott­heit, die mit un­ver­ständ­li­chen Zei­chen be­schwo­ren war. Wir wa­ren al­lein.
An je­nem Tage mit der klei­nen Ka­mil­la war drau­ßen Re­gen ge­we­sen, und auf dem Fried­hof war er noch. Er klam­mer­te sich ans Ge­strüpp und an die Dol­den, be­vor er den letz­ten Rest sei­nes Stur­zes tat, wenn ein Wind­hauch ihn an­s­tieß, und vor den sil­bern schim­mern­den Grab­stei­nen starb er in die Erde. Pfüt­zen ver­leg­ten un­se­ren Weg, die Bank war nass, ich op­fer­te mein Ta­schen­tuch, um sie zu trock­nen, und mei­nen Pa­le­tot,1 da­mit Ka­mil­la sich dar­auf set­ze.
Ein Baum­strunk, kaum zwei bis drei Schrit­te vor uns, blieb un­be­ach­tet, wir be­gan­nen mit den Küs­sen, mit mei­ner Un­ter­su­chung ih­rer Herz­tä­tig­keit, und mei­ne Hand schob ih­ren kur­z­en Mäd­chen­rock über das Knie und strei­chel­te die Haut, als Ka­mil­la zu­sam­men­fuhr und ih­ren Rock hin­ab­zerr­te, mit ent­setz­ten Au­gen, de­ren Rich­tung die mei­nen folg­ten. Da sah ich den Na­cken, die­sen un­flä­ti­gen Na­cken mit der ge­bräun­ten, runz­li­gen Haut, ge­rich­tet auf Ka­mil­las Knie. Der Baum­strunk war kein Baum­strunk, er war ein Mensch. Vor ei­nem schwarz­stei­ner­nen Sar­ko­phag, auf des­sen Flä­chen das seich­te Re­lief der Qua­drat­schrift feucht schim­mer­te gleich flüs­si­gem Zinn, stand er und be­te­te. Jetzt hör­te ich auch die fast laut­los ge­mur­mel­te Li­ta­nei; er un­ter­brach sein Ge­bet nicht, wäh­rend er mit ge­r­eck­tem Hals die ju­gend­li­che Fri­vo­li­tät ei­nes Lie­bes­paars be­lau­er­te, wäh­rend sein Blick die Wa­den Ka­mil­las ab­wärts strich und sich dann wie­der em­por­riss. Ka­mil­la sprang auf, ich hielt sie nie­der, fort­zu­lau­fen kam mir dumm vor. Ich re­de­te zu ihr, for­ciert und Be­lang­lo­ses, und schiel­te auf den Mann.
Sein wei­ßes Haar, klein­ge­lockt wie Wol­le, stand un­ter dem schä­bi­gen, fla­chen Ve­lour­hut ab. Kaum ein Drit­tel sei­nes Ge­sichts war mir sicht­bar, die gie­ri­ge Pu­pil­le, die Wöl­bung ei­nes Trä­nen­sacks, die Spit­ze der vor­sprin­gen­den Nase und der zer­zaus­te, un­ge­stutz­te Rand des grau­en Spitz­barts auf ge­gerb­ter Wan­ge. Wie aus Büf­fel­le­der war die Hand, die in den Rhyth­men des Ge­bets schau­kel­te. Der Mann war ein Greis, aber sein Kör­per war nicht der ei­nes Grei­ses. Eine schwar­ze Tuch­ho­se lag prall an sei­nen Schen­keln und glänz­te tra­nig, un­ten steck­te sie in ho­hen Stie­feln. Vom Rist bis zum Schritt schie­nen die Bei­ne, seh­ni­ge, jun­ge Bei­ne, gleich breit, erst in der Höhe der Be­cken­kno­chen ver­jüng­ten sie sich un­na­tür­lich, die Hüf­te war schmal. Der Mann trug we­der Kaftan noch Man­tel, sein schwar­zer Rock war ihm zu groß, selbst der Re­gen hat­te ihn nicht an den Leib zu pres­sen ver­mocht; die Brei­te der Schul­tern gab dem Ober­kör­per die Form ei­nes Drei­ecks. In der lin­ken Hand des Al­ten, die ich nicht sah, bau­mel­te ein Le­der­sack. Ka­mil­la und ich woll­ten war­ten, bis er ge­gan­gen war. Aber er be­te­te ver­tieft. So gin­gen wir. Erst nach etwa zwan­zig Schrit­ten wag­ten wir, hin­ter ei­nem Stein ver­bor­gen, uns nach ihm um­zu­se­hen: Er war wie­der Baum­stamm, der brau­ne dür­re Ast stand hart in der Rich­tung auf uns. Ich sah sein Ge­sicht. Die Lip­pen be­weg­ten sich im Ge­bet.
Sooft nach­her Ka­mil­la und ich uns ir­gend­wo im Frei­en nie­der­lie­ßen, bat sie mit ge­spiel­ter Scherz­haf­tig­keit: »Schau nach, ob der Baum dort wirk­lich ein Baum ist.«
Die Lieb­schaft ging vor­bei und die Jah­re, ich war dop­pelt so alt ge­wor­den, als ich an die Be­geg­nung mit dem Al­ten er­in­nert wur­de. Man schrieb Ende 1914, und das k. u. k. In­fan­te­rie-Re­gi­ment Nr. 11 lag in Ofutak bei Neu­satz im Win­ter­quar­tier. Von den Ser­ben ge­schla­gen und über die Do­nau zu­rück­ge­jagt, soll­ten wir hier zu fri­schen Ta­ten auf­ge­päp­pelt, neu aus­ge­rüs­tet und dis­zi­pli­niert wer­den. Al­l­abend­lich, ehe der dienst­ha­ben­de Of­fi­zier sei­nen Rund­gang durch die Stadt mach­te, um Sol­da­ten zu er­wi­schen, die sich nach dem Zap­fen­streich noch um­her­trie­ben, nahm er ei­ni­ge Mann von der Be­reit­schafts­wa­che zu sei­ner Be­de­ckung mit; ein­mal ge­hör­te auch ich zur Pa­trouil­le.
Drau­ßen, wo sich der Um­riss der Ort­schaft ver­lor, stand das »Kup­pe­lei­haz«. Der Of­fi­zier stell­te von au­ßen fest, wel­che Zim­mer be­leuch­tet wa­ren, denn in dem Au­gen­blick, da eine In­spek­ti­on das Haus be­tritt, ver­lö­schen im­mer alle Lich­ter, das weiß je­der, der nicht zum ers­ten Mal Dienst macht. Dies­mal war nur das rech­te Eck­zim­mer hell, der In­spek­ti­ons­of­fi­zier trat mit uns ein, hör­te nicht auf die Eide der Ma­da­me, dass kein Sol­dat im Hau­se sei, er klopf­te an die Tür des rech­ten Eck­zim­mers. »Auf­ma­chen! In­spek­ti­on!« Ein nack­tes Mäd­chen schloss un­ge­niert auf, ihr Gast war ein Zi­vi­list, ein stein­al­ter Jude, den wir ge­stört hat­ten. Der Of­fi­zier schau­te sich im Zim­mer um, als su­che er doch noch einen ver­steck­ten Sol­da­ten.
»Wie schmie­rig das Bett ist«, sag­te er, um et­was zu sa­gen.
»Ich habe auch nicht dar­in ge­le­gen«, ver­wahr­te sich der Alte, an den der Satz nicht ge­rich­tet war.
»Was ma­chen Sie hier?« herrsch­te ihn der Of­fi­zier an, be­sann sich aber, dass die­se Fra­ge ziem­lich über­flüs­sig sei, und füg­te hin­zu: »Sind Sie aus Ofutak?«
»Ich bin ein Hau­sie­rer, ich komm schon vie­le Jah­re her … mich kennt je­der Mensch in Ofutak, ich …«
»Also schau­en Sie, dass Sie nach Hau­se kom­men«, schnitt der Of­fi­zier in sei­ne Rede, »es ist Aus­nah­me­zu­stand, nach zehn Uhr abends müs­sen alle Leu­te zu Hau­se sein, ei­gent­lich soll­te ich Sie ver­haf­ten.«
»Kann ich nicht noch einen Mo­ment blei­ben«, bat der Greis.
Der Of­fi­zier lach­te. »Sie ha­ben doch ge­sagt, dass Sie sich nicht in das schmie­ri­ge Bett le­gen.«
»Kérem szé­pen,2 der da legt sich nie in Bett, wann er mit Ma­del bei­sam­m’ ist«, be­merk­te die Ma­da­me, die scheu an der hin­ter uns of­fen­ge­blie­be­nen Zim­mer­tür lau­er­te. Wir setz­ten den Dienst­gang fort.
Den gan­zen Abend lang dach­te ich nach, an wen mich der Alte er­in­ne­re, die­se braun­ge­gerb­te Ge­sichts­haut, Kopf, Wan­ge und Kinn be­klebt mit weißem Ne­ger­haar, die­ser Kör­per­bau von der Form ei­ner Sand­uhr, die star­ken seh­ni­gen Bei­ne in un­ter­neh­mungs­lus­ti­gen Rei­ters­tie­feln.
Erst am Mor­gen kam mir der Ge­dan­ke, der gest­ri­ge Bor­dell­gast sei mit dem Baum­strunk des Ghet­to­fried­hofs aus mei­ner Pu­ber­täts­zeit iden­tisch. Un­sinn! Was hät­te ein sü­dun­ga­ri­scher Dorf­hau­sie­rer in Prag zu su­chen ge­habt, und wie könn­te ich ihn wie­der­er­ken­nen nach so vie­len Jah­ren? Ka­mil­la ist längst ver­hei­ra­tet und Mut­ter, und der Mann, der uns be­lauscht hat­te, war schon da­mals ein Greis ge­we­sen; nein, die Iden­ti­tät des be­ten­den Fried­hofs­gas­tes mit dem gei­len Bor­dell­be­su­cher konn­te nicht stim­men. Aber ich er­in­ner­te mich des ge­steif­ten Na­ckens, Sta­tiv ei­nes Blicks, der da­mals Ka­mil­las Kleid­chen em­por­zu­rei­ßen schi­en. War nicht die glei­che Gier in dem Greis von heu­te Nacht? Un­mit­tel­bar nach fa­ta­lem In­ter­rup­tus, un­mit­tel­bar nach­dem er der Ge­fahr, ver­haf­tet zu wer­den, ent­gan­gen war, bat er um die Be­wil­li­gung, sein Schä­fer­stünd­chen zu vollen­den.
Wäre ich in Ofutak dem Al­ten auf der Stra­ße be­geg­net, hät­te ich ihn an­ge­spro­chen, aber es muss­ten wie­der zehn Jah­re ver­ge­hen, ehe ich ihn auf dem Pra­ger Ju­den­fried­hof wie­der­sah. Im ers­ten Au­gen­blick glaub­te ich an eine Hal­lu­zi­na­ti­on. Er stand da und be­te­te da, wo Ka­mil­la und ich ihn vor ei­nem Men­schen­al­ter ste­hen und be­ten ge­se­hen. Ganz scharf schau­te ich hin: Kein Zwei­fel, es war der Hau­sie­rer von Ofutak.
Ich ging wie zu­fäl­lig an ihm vor­bei und re­de­te ihn an. »Ich woll­te Sie nur auf­merk­sam ma­chen, dass der Fried­hof gleich ge­sperrt wird.« – »Ich wer­de schon hin­aus­kom­men, die Tür in den Haus­flur bleibt of­fen.« Den­noch be­en­de­te er sein Ge­bet, wähl­te aus dem Sack, den er in der Hand trug, sorg­sam ein Stein­chen und leg­te es auf das drei­hun­dert­jäh­ri­ge Grab. »Ein Stein aus Je­ru­sa­lem«, sag­te er, mich mus­ternd. »Das ist das Grab von Me­di­go del Kan­dia, nicht wahr?« – »Wie­so wis­sen Sie das? Sind Sie von der Che­wra?«
Nein, ich sei nicht von der Be­er­di­gungs­brü­der­schaft.
»Wo­her wis­sen Sie also, wes­sen Grab das ist?« – »Ich in­ter­es­sie­re mich für den Fried­hof.« Da ich merk­te, dass er mich wie­der mit ei­ner Fra­ge nach mei­ner Zu­ge­hö­rig­keit zu ir­gend­ei­ner re­li­gi­ösen In­sti­tu­ti­on un­ter­bre­chen woll­te, füg­te ich hin­zu: »Nur ganz pri­vat.«
»Sind Sie ein Dok­tor?« Es schi­en mir ein­fa­cher, be­ja­hend zu ni­cken, als mei­nen Be­ruf an­zu­ge­ben, der ihn mög­li­cher­wei­se zu Miss­trau­en oder Zu­rück­hal­tung ver­an­las­sen könn­te.
»Was wis­sen Sie von Me­di­go del Kan­dia?« Er frag­te nicht wie ei­ner, der prü­fen will, son­dern als wun­de­re er sich, dass ein Frem­der über sei­ne Pri­vat­an­ge­le­gen­hei­ten un­ter­rich­tet sei: Wie kommst du dazu, mei­nen To­ten zu ken­nen?
Das Grab­mal sei doch eine Se­hens­wür­dig­keit, sag­te ich, und der Kre­ten­ser Me­di­go aus Bü­chern be­kannt, »er war, glau­be ich, Welt­rei­sen­der, Ma­the­ma­ti­ker und Astro­nom, Schü­ler Ga­li­leo Ga­li­leis, ein Arzt und from­mer Mann«.
»So? Sa­gen das die Bü­cher?« Er schi­en er­staunt.
»Ja. Steht das nicht auch hier auf dem Grab­stein?« – »Auf Grab­stei­nen ste­hen lau­ter Lü­gen.« – »Also war Me­di­go kein Ge­lehr­ter? Nicht weit­ge­reist?« – »Ob er ge­lehrt war! Ob er her­um­ge­kom­men ist in der Welt! Vi­el­leicht mehr als ich …« – »Und sei­ne Fröm­mig­keit?« – »Er war from­mer als alle, die hier lie­gen. Die wah­re Fröm­mig­keit hat er ge­habt, Rab­be­nu Jos­sef Schloi­me ben Elia­hu.« – »Wa­rum wun­dern Sie sich dann, dass das auch in Bü­chern steht?« – »Ja, nach­her schrei­ben sie es in die Bü­cher. Wenn ei­ner tot ist, dann las­sen sie ihn le­ben.« – »Wer?« – »Wer? Die Men­schen! So­lang man lebt, wird man ge­hetzt von ei­nem Ort zum an­de­ren, un­s­tet und flüch­tig, und erst wenn ei­ner tot ist, lässt man ihn le­ben. Nur ein Glück, glau­ben Sie mir das, jun­ger Mann, nur ein Glück gibt es auf die­ser Welt: zu ster­ben. Dann hat man sei­ne Ruhe und sei­nen Frie­den, be­kommt einen Grab­stein, und dar­auf schrei­ben sie, wie man war, trotz­dem sie einen ge­ra­de des­halb an­ge­fein­det ha­ben, weil man so war.« – »Aber Sie ha­ben doch vor­hin ge­sagt, Herr …, Herr …« – »Mein Name tut nichts zur Sa­che. Was habe ich vor­hin ge­sagt?«
Er er­war­te­te ru­hig mei­nen Ein­wand, wie je­mand, der si­cher ist, sich in kei­nen Wi­der­spruch ver­wi­ckeln oder sich her­aus­re­den zu kön­nen, auch wenn er et­was Fal­sches ge­sagt hät­te. Sei­ne Art war nicht die ei­nes Hau­sie­rers, Spra­che und Wort­schatz lie­ßen auf einen ge­bil­de­ten Rhein­län­der schlie­ßen, nur manch­mal klang der Ton­fall ori­en­ta­lisch, so als er die Seg­nung des To­des pries.
»Sie sag­ten doch vor­hin, dass die In­schrif­ten auf den Stei­nen lü­gen?« – »Ja, sie lü­gen! Mit stei­ner­nen Zun­gen lü­gen die Grä­ber. Le­sen Sie, was hier über Jos­sef Schloi­me del Me­di­go steht!«
Er fuhr mit dem Fin­ger über das längst platt­ge­drück­te Re­lief der be­moos­ten Ru­nen und über­setz­te in un­lo­gisch ab­ge­teil­ten Wort­grup­pen, aber flie­ßend den Pan­egy­ri­kus3 auf den To­ten: » … und es ist ge­gan­gen ein Weh­kla­gen, ein großes, durch ganz Is­rael …«
Wie ein schlan­kes Haus, das einst frei stand und nun ver­schüt­tet ist bis zu den Gie­beln und dem spitz zu­lau­fen­den Dach, war das Grab. Als der Alte sich über das Haus beug­te, wirk­te er groß, rie­sen­groß. Sei­ne Hand las wei­ter in der ge­mei­ßel­ten Trau­e­r­o­de. » … alle Got­tes­fürch­ti­gen ver­ehr­ten ihn …«
Un­wil­lig wand­te er sich von der Plat­te. »Wer hat ihn ver­ehrt? Die da, die sich’s selbst in Stein krat­zen, dass sie Got­tes­fürch­ti­ge sind? Ver­trie­ben ha­ben sie ihn aus Wil­na, aus Gro­dek, aus Ham­burg, aus Ams­ter­dam, die Karä­er4 ha­ben ihn an­ge­fein­det, weil er die Kab­ba­la ver­tei­digt hat, die rab­bi­ni­schen Ju­den ha­ben ihn an­ge­fein­det, weil er den So­har5 be­schimpft ha­ben soll, in Ams­ter­dam ha­ben sie ihm das Le­ben ver­bit­tert, in Frank­furt ha­ben sie ihn wie einen Sträf­ling ge­hal­ten, über­all hat er Not ge­lit­ten und Ver­fol­gung – und nach­her schrei­ben sie in den Stein, es ist ge­gan­gen ein Weh­kla­gen durch ganz Is­rael, alle Got­tes­fürch­ti­gen ver­ehr­ten ihn … und was da al­les steht.«
»Vi­el­leicht hat man ihn in Prag an­ders auf­ge­nom­men?« – »In Prag? Weg­ge­jagt ha­ben sie ihn von hier, einen sech­zig­jäh­ri­gen Men­schen, vier Jah­re vor sei­nem Tod. Zu Fuß hat er fort­müs­sen aus die­ser schwer­rei­chen Ge­mein­de, eine Bla­se hat er auf der rech­ten Fer­se ge­habt, so groß …« – der Alte zeig­te, Dau­men und Zei­ge­fin­ger run­dend, das Aus­maß der Fuß­bla­se Me­di­gos –, » … und sei­ne San­da­len wa­ren zer­ris­sen. Zum Glück hat er bei Eger einen jü­di­schen Schus­ter ge­trof­fen, der hat ihm …«
Was woll­te der Alte mit dem Schus­ter? Woll­te er sich für den Mann aus­ge­ben, der vor Jahr­hun­der­ten die Schu­he ei­nes Wan­de­rers be­sohlt hat?
Er merk­te mein Miss­trau­en und fiel sich selbst ins Wort: » … ir­gend­ein Schus­ter aus der Um­ge­bung von Eger viel­leicht, ein jun­ger Mensch, viel klei­ner als ich, der hat ihm die Soh­len ge­flickt und die Bän­der …«
»Aber Me­di­go ist doch in Prag ge­stor­ben, und man hat ihm die­ses schö­ne Grab­mal ge­setzt.«
»Er hat dann noch­mals nach Prag müs­sen und ist hier ge­stor­ben. Da ha­ben sie ihm, auf Ehre, ein schö­nes Grab­mal ge­macht. Wa­rum? Weil er be­rühmt war, Rab­be­nu Jos­sef Schloi­me ben Elia­hu, und weil sie sich groß ma­chen woll­ten, die Pra­ger, was für be­deu­ten­de Leu­te bei ih­nen be­er­digt lie­gen. Die Frem­den­füh­rer kön­nen jetzt den Be­su­chern er­zäh­len, wie ge­ach­tet und wie fromm und wie groß alle die To­ten wa­ren, die da lie­gen. Und in den Bü­chern steht auch sol­ches Zeug.«
Der Alte sprang zur Vor­der­plat­te des Grab­mals, neig­te sich wie­der über das Dach, Hän­de und Au­gen such­ten in dem Ze­ment, mit dem der First re­no­viert war. » … Rab­bi­ner von Ham­burg … und in der Um­ge­bung von Ams­ter­dam … ha­fi­lo­sof el­chi abir ha­ro­fim – ein Phi­lo­soph des Gött­li­chen un­ter al­len Wei­sen –, der stärks­te un­ter den Ärz­ten, ein Astro­nom und Astro­log … sein Haupt­werk Taa­li­mos lechoch­mo, die Ge­heim­nis­se der Weis­heit …« Er woll­te wei­ter­le­sen.
»Ist das al­les nicht wahr?«
Des Al­ten Au­gen­brau­en run­zel­ten sich, er zisch­te: »Eine Wahr­heit, die in ei­nem Wust von Lü­gen steckt, ist tau­send­mal är­ger als eine Lüge! Das ist ein Stück Fleisch in ei­ner Fal­le. Das ist ein zer­ris­se­ner Stie­fel mit Schus­ter­pech ver­klebt, statt ge­flickt. Das ist ein Buch, das einen Spruch Sa­lo­mo­nis ent­hält und sonst Heu­che­lei pre­digt. Ich tre­te in kei­nen Sumpf, auch wenn sich dar­in die Son­ne spie­gelt. Ich will kei­ne Wahr­heit an ei­nem Ort, wo lau­ter Lüge ist.«
Er lief zu ei­nem Grab, des­sen Stein schwarz und schräg da­stand, moos­über­wach­sen und von Buch­sta­ben durch­furcht. »Da ha­ben Sie eine an­de­re Le­bens­be­schrei­bung, und sie tat Gu­tes al­len Ar­men …, und nie­mals fehl­te sie bei der Mor­ge­n­an­dacht … Aber es steht nicht da, was die from­me Frum­met ge­macht hat, als s...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Impressum
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Danke
  5. Newsletter abonnieren
  6. Auswanderer, derzeit Amsterdam
  7. Schime Kosiner (Unhoscht) verkauft ein Grundstück
  8. Lobing, pensionierter Redakteur
  9. Romanze von den Bagdad-Juden
  10. Ex odio fidei …
  11. Die Messe des Jack Oplatka
  12. Dantons Tod und Poppers Neffe
  13. Des Parchkopfs Zähmung
  14. Der Kabbalistische Erzschelm
  15. Der Tote Hund und der lebende Jude
  16. Notizen aus dem Pariser Ghetto
  17. Den Golem wiederzuerwecken
  18. Das weitere Verlagsprogramm