III Praxisfelder der Kontinenzförderung
6 Zystektomie mit Anlage einer orthotopen Neoblase – Indikation, Patientenauswahl, Durchführung der Zystektomie, Komplikationen, postoperative Inkontinenz und deren Therapie
Robin Epplen und Axel Heidenreich
Einleitung
Im vorliegenden Kapitel möchten wir einen kurzen Überblick über die Zystektomie geben. Unter der Zystektomie versteht man die Entfernung der Harnblase mit einer regionalen Lymphknotenentfernung. Bei der Frau werden zusätzlich noch der Uterus, die Urethra und die vordere Vaginalwand entfernt. Beim Mann umfasst diese Operation neben der Entfernung der Harnblase die Entfernung der Prostata, der Ductus deferentes (Samenleiter) und der distalen Ureteren (Harnleiter). Nach Entfernung der Harnblase muss eine Art der Harnableitung rekonstruiert werden. Hierbei werden inkontinente (z. B. Ureterhautfistel, Ileumkonduit) von kontinenten Ableitungen (z. B. Pouch oder Neoblase aus Darm) unterschieden.
Besonderes Augenmerk wollen wir in diesem Kapitel auf die Zystektomie mit Anlage einer Neoblase legen. Die hierfür notwendige Patientenselektionskriterien und möglichen Komplikationen werden aufgezeigt und es wird insbesondere auf die postoperative Inkontinenz und deren Management/Therapieoptionen eingegangen.
6.1 (Kontra-)Indikation und Patientenauswahl zur Zystektomie
Klare Indikation zur Zystektomie ist ein muskelinvasives Blasenkarzinom sowie ein rezidivierendes oberflächliches Karzinom der Blase mit einer high-grade Differenzierung (histopathologisch schlecht differenziert) und begleitendem Carcinoma in Situ. Patienten sollten sorgfältig ausgewählt werden und ein Alter < 75 Jahre aufweisen.
Kontraindikationen für die operative Anlage einer Neoblase stellen Nierenfunktionsstörungen, bekannte Malabsorptionssyndrome (z. B. M. Crohn) des Dünndarms, bei geplanter Urethrektomie (Entfernung der Harnröhre) wegen eines Karzinombefalls, vorbekannte Belastungsinkontinenz nach TURP (transurethrale Resektion der Prostata) oder Prostatektomie, neurologische Erkrankungen (z. B. M. Parkinson, Multiple Sklerose), Paraplegie und die Nicht-Akzeptanz oder fehlende manuelle Fähigkeit eines Selbstkatheterismus (insbesondere bei Frauen) dar (Thüroff 2012).
6.2 Zysto-(prostat)ektomie
Bei der Zystektomie mit Anlage einer Neoblase der Frau gehört neben der Entfernung der Harnblase und regionalen Lymphadenektomie (Entfernung der Lymphknoten) standardmäßig die Hysterektomie (Entfernung der Gebärmutter) und beidseitige Ovarektomie dazu. Beim Mann umfasst die Zystektomie die Entfernung der Harnblase, die regionalen Lymphknoten und die Prostata (bei seltenen Indikationen kann diese geschont werden).
Zur Anlage einer Neoblase mit Ileum wird ein ca. 60 cm langes Stück Ileum aus der Kontinuität des Darms ausgeschaltet und dann zu einem kontinenten Reservoir gebildet. Hierbei haben sich zahlreiche unterschiedliche Verfahren entwickelt. Am bekanntesten dürfte die Techniken nach Studer, Hautmann oder Schreiter (Heidenreich & Albers 2005) sein (benannt nach ihrem Erstbeschreiber). Jedoch gibt es viele modifizierte Variationen dieser Techniken (Gakis & Stenzl 2010). Die Harnleiter werden in dieses Reservoir eingenäht, zum Schluss wird die Neoblase an die ursprüngliche Harnröhre im Bereich des Beckenbodens anastomosiert.
Ziel ist die Konstruktion eines Reservoirs aus Darmschlingen, welches ein ausreichend großes Volumen (ca. 400–500 ml) ohne hohe Reservoirdrücke, starke Resorption oder Reflux in die Nieren aufnehmen kann (Heidenreich & Albers 2005; Manski 2012).
6.3 Komplikationen bei der Anlage einer Neoblase
Zu den potenziellen Langzeitfolgen zählen Verschiebungen des Säure-Base-Haushalts (metabolische Azidose) aufgrund der Resorptionseigenschaft des Darmepithels, die saure Valenzen rückresorbiert. Des Weiteren kommen Infektionen des Harntraktes häufiger vor. Eine vermehrte Schleimbildung kann zu einer Verstopfung der Neoblase führen; eine regelmäßige Spülung dieser ist aus diesem Grund erforderlich. Schleimbildung und Infekte prädisponieren zur Entstehung von Blasensteinen. Potenziell kann durch den Verlust des terminalen Ileums ein Vitamin B-12-Mangel entstehen, der zu neurologischen Symptomen führen kann. Hinzu kommen funktionelle Komplikationen wie eine Enge der Implantationsstelle der Ureteren oder eine Anastomosenstriktur.
Frühkomplikationen (protrahierte Darmatonie bis hin zum Ileus; Nahtinsuffizienzen an Dünndarm, Neoblase, ureteroilealer Anastomose, Implantationsstenose des Ureters) nach Zystektomie werden aus erfahrenen Zentren in der Literatur in 19–24 % der Fälle beschrieben, Spätkomplikationen (s. o.) in 26–34 % der Fälle (Hautmann et al. 2006).
6.3.1 Beratung der Patienten bereits präoperativ erwünscht
Patienten, die zu einer operativen Entfernung der Harnblase (Zystektomie) mit Anlage einer Neoblase vorgesehen sind, sollten präoperativ durch ein interdisziplinäres Team beraten und aufgeklärt werden.
Zunächst sollte ein Arzt über die unmittelbaren Nebenwirkungen des operativen Eingriffs (s. o.) aufklären. Für die nachstationäre Phase muss weiterhin über die regelmäßig durchzuführenden Arztbesuche zur Kontrolle des Bluts inklusive Blutgasanalysen, Urinkontrollen und regelmäßigen Ultraschalluntersuchungen des Harntraktes informiert werden.
Ein Physiotherapeut kann die Übungen zur Beckenbodengymnastik bereits präoperativ anlernen und erklären. So kann der Patient eigenständig unmittelbar nach der Operation hiermit beginnen.
Fachlich ausgebildete Pflegekräfte können über den prä- und postoperativen Verlauf Auskunft geben und pflegerische Maßnahmen einleiten (Erklärung über die postoperativ einliegenden Katheter, deren Pflege, Wundmanagement, Ernährungstipps, eine Anleitung zum Selbstkatheterismus vermitteln etc.). Sobald im Verlauf des stationären Aufenthalts alle Katheter entfernt sind, sollte der Patient mindestens einmalig den Selbstkatheterismus zur Spülung der Neoblase unter Anleitung vollständig durchgeführt haben. Zur Prävention von Harnwegsinfektionen führt der Patient im weiteren Verlauf die Spülung regelmäßig fort.
Interdisziplinär sollten die psychologischen Folgen der Operation (verändertes Körperbild, Angst vor Komplikationen, Verlust der Sexualfunktion etc.) auch im Beisein der Ehepartner/Lebenspartner angesprochen werden.
Zusammenfassend kann den Patienten bereits jetzt eine Art »Leitfaden« bereitgestellt werden, damit präventive Maßnahmen zur Vermeidung von postoperativen Komplikationen eingeleitet werden können. Hinweise, dass der Hausarzt, der niedergelassene Urologe und die operative Klinik jederzeit zur Hilfe bereit sind und Auskunft geben, sollten selbstverständlich sein. Hilfreich in diesem Zusammenhang ist zudem der Hinweis auf Selbsthilfegruppen.
6.4 Harninkontinenz nach Anlage einer orthotopen Neoblase
6.4.1 Ursachen und Prävalenz
Bei der Inkontinenz nach Anlage einer Neoblase tagsüber handelt es sich meist um eine sogenannte Belastungsinkontinenz, die durch eine Insuffizienz des M. sphinkter externus verursacht ist. Daraus resultiert eine Harnröhrenverschlussinsuffizienz. Der intravesikale Druck übersteigt dabei den Verschlussdruck. Eine weitere Möglichkeit besteht in einer Überlaufinkontinenz.
Nachts wird die Inkontinenz wahrscheinlich durch einen fehlenden vesikourethralen Reflex verursacht, der für einen erhöhten Tonus im M. sphinkter externus sorgt, und dann der Füllungsdruck in der Neoblase den des Sphinkter externus übersteigt. Begleitend kommt die Peristaltik der Neoblase hinzu (Koraitim et al. 2006).
Angaben zur Häufigkeit einer Inkontinenz nach Anlage einer Neoblase sind aufgrund unterschiedlicher Definitionen des Begriffs »Inkontinenz« schwierig. Sofern die Definition von »jeglichem Urinverlust« ausgeht, wird eine Rate von bis zu 28 % angegeben. Zusätzlich ist die Kontinenzrate über Tag etwa 5–10 % besser (Türkölmez et al. 2004).
Die Prävalenz der nächtlichen Inkontinenz nach Anlage einer Neoblase wird in der Literatur zwischen 7–45 % angegeben (Hautmann et al. 1999; Studer et al. 2006; Madersbacher et al. 2003; Schröder et al. 2010). Das Alter der Patienten ist ein Risikofaktor für die Persistenz einer Inkontinenz, denn mit steigendem Alter tritt eher eine Sphinkterinsuffizienz auf.
Ein präoperativ bestehender Diabetes scheint einen negativen Einfluss auf das Erreichen einer postoperativen Kontinenz zu haben. Eine nervschonende Operation ist in der Literatur mit einem besseren funktionellen Ergebnis vergesellschaftet (Kessler et al. 2004).
6.4.2 Diagnostik bei persistierender Inkontinenz nach Anlage einer Neoblase
Das Füllungsvolumen der Neoblase kann bis zum zwölften postoperativen Monat zunehmen und sich hierüber das Ausmaß der Inkontinenz bessern. Sollte die Inkontinenz jedoch über diesen Zeitraum hinaus bestehen, muss eine umfassende Diagnostik eingeleitet werden. Zunächst beinhaltet dies eine ausführliche Anamnese (Vorlagenverbrauch, validierte Fragebögen wie der »incontinence impact questionnaire short form« (IIQ.SF)), eine körperliche Untersuchung, eine Urinkultur, Uroflow mit Restharnbestimmung zum Ausschluss einer Obstruktion mit Hinweis auf eine Überlaufinkontinenz und die Analyse eines Miktionstagebuchs. Ein standardisierter Pad-Test (z. B. nach Prof. Tage-Hald; Klarskov & Hald 1984) gibt Auskunft über den Schweregrad der Inkontinenz.
Weiterhin sollte bei entsprechendem Verdacht eine bildgebende Diagnostik eingeleitet werden. In der retrograden Urethrozystografie und dem Miktionszystourethrogramm können eine infravesikale Obstruktion, Fisteln und eine malkonfigurierte Neoblase ausgeschlossen werden. Mit der Urethrozystoskopie kann schließlich die Neoblase selbst und der Sphinkterschluss evaluiert werden (Soave et al. 2012).
6.4.3 Therapie
Bei der Therapie der Inkontinenz nach Zystektomie unterscheidet man konservative von invasiven/operativen Therapien.
Konservative Ansätze
Konservatives Management beinhaltet das Beckenbodentraining, welches bereits im Rahmen der Anschlussheilbehandlung poststationär eingeübt werden sollte (auf diese Therapieform wird ausführlich in ► Kapitel 7 eingegangen). Ein weiteres Standbein ist die medikamentöse Therapie. Hier wird »off-label« Duloxetin, ein Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, eingesetzt. Die Wirksamkeit (Abnahme des Vorlagenverbrauchs von 8/Tag auf 4,2/Tag) hat sich in einer Studie gezeigt, allerdings brachen 30 % der untersuchten Männer die Studie wegen der Nebenwirkungen (Müdigkeit, Übelkeit) ab (Schlenker et al. 2006).
Eine Kontinenzrate über Tag, definiert als ein Verbrauch von 0–1 Vorlagen/Tag, konnte mit konservativen Maßnahmen in 88–95 % der Patienten erreicht werden (Gburek et al. 1998; Steven & Poulsen 2000; Stenzl et al. 2001).
Operative Ansätze
Minimal-invasive Unterspritzung
Hierbei werden Kollagen oder Silikonpartikel in den Blasenhals bzw. im Bereich des Sphinkter externus in die Urethra injiziert, um die Urethra einzuengen. Die Studienergebnisse waren jedoch nicht zufriedenstellend. Daher hat man diese Art der Intervention wieder verlassen (Tchetgen et al. 2000).
Suburethrale Bänder
Das Prinzip beruht auf der Anhebung der hinteren Urethra in die natürliche Position (Gozzi et al. 2008). Diese Bänder bestehen aus einem Kunststoff und werden transobturatorisch oder transvaginal implantiert. Die Indikation zur Implantation eines Bandes bestehen bei einer leichtgradigen Belastungsinkontinenz (im Pad-Test < 150 g Urinverlust und komplette Schlussmöglichkeit der Harnröhre im Sphinkterelevationstest) (Soave et al. 2012). Insgesamt muss hier aber angeführt werden, dass nur wenige Studien zur Bandimplantation nach orthotopem Blasenersatz existieren. Die meisten Daten wurden bei Prostatektomiepatienten erhoben.
Artifizieller Sphinkter
Dieser Sphinkter besteht aus einer Manschette, die am Blasenhals oder um die Harnröhre (membranös oder bulbär) implantiert wird, einer Pumpe und einem Reservoir. Die Manschette füllt sich auf Knopfdruck auf der skrotal eingelegten Pumpe und verschließt hiermit die Urethra. Das Reservoir nimmt bei einer weiteren Aktivierung der Pumpe die Flüssigkeit der Manschette auf. Somit ist die Harnröhre frei und der Patient kann seine Blase entleeren.
Der Sphinkter hat sich in Studien sowohl bei Männern als auch Frauen bewährt. In einem rein männlichen Patientenkollektiv wurde eine Erfolgsrate von 100 % erreicht, in einer weiteren Studie bei Frauen erreichten 59 % eine vollständige Kontinenz (Verbrauch von...