Geschlechtsspezifische Psychiatrie und Psychotherapie
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Verfügbar bis 5 Dec |Weitere Informationen

Geschlechtsspezifische Psychiatrie und Psychotherapie

Ein Handbuch

  1. 634 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Geschlechtsspezifische Psychiatrie und Psychotherapie

Ein Handbuch

Über dieses Buch

Mit Beiträgen von Borwin Bandelow, Dieter F. Braus, Peter Falkai, Peter Fiedler, Sabine C. Herpertz, Anette Kersting, Andreas Marneros, Hertha Richter-Appelt, Anke Rohde, Manfred Spitzer u.a.In Forschung und Praxis wird zunehmend deutlich, dass es bei nahezu allen klinisch relevanten Gruppen psychischer Störungen Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt, zum Beispiel bei Epidemiologie, Symptomatik und Verlauf.Nachdem in der Vergangenheit meist "frauenspezifische" Aspekte beachtet wurden, bildet sich nun die Einsicht heraus, dass es konsequenter ist, "geschlechtsspezifische" Besonderheiten zu untersuchen und daraus Konsequenzen für Diagnostik und Therapie zu ziehen. Dieses Handbuch liefert erstmals eine systematische Zusammenstellung der entsprechenden Kategorien und Subspezialisierungen für die Psychiatrie und Psychotherapie.

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Information

Jahr
2006
ISBN drucken
9783170184510
eBook-ISBN:
9783170273047

A Störungen

1 Organisch psychische Störungen

Gabriela Stoppe

Einleitung

Das Kapitel F0 der ICD-10 sieht im Wesentlichen die Demenzen und die Delirien als Krankheitsbilder vor. Deshalb wird sich der folgende Artikel auf diese beiden Störungen beschränken. Eine Auseinandersetzung mit anderen organisch begründeten psychischen Störungsbildern, wie etwa katatonen oder auch depressiven Syndromen, würde den Rahmen sprengen. Hierbei wären nämlich jeweils die geschlechtsspezifische Problematik der zugrunde liegenden organischen Störungen einerseits und die der Syndrome andererseits zu diskutieren.
Sowohl Demenzen als auch Delirien kommen mit zunehmendem Alter immer häufiger vor. Generell gilt in der Altersmedizin, dass Zusammenhangsanalysen im besten Sinne „herausfordernd“ sind. Schließlich geht es darum, den Einfluss biopsychosozialer Variablen über den Lebenslauf hinweg unter Beachtung ihrer Dosis, Dauer und Interaktion zu bedenken. So können beispielsweise genetische Faktoren in verschiedenen Lebensabschnitten unterschiedliche Wirksamkeit entfalten, z. B. günstige in früheren, ungünstige in späteren Lebensabschnitten. Ein Kandidat hierfür könnte der derzeit wichtigste genetische Vulnerabilitätsfaktor, das Apolipoprotein E-4 sein (Farrer et al. 1997). Die Einflüsse von frühkindlicher Entwicklung, Erziehung, Ernährung, die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen ebenso wie z. B. Schadstoffexpositionen spielen eine Rolle. Jeder dieser Faktoren kann geschlechtsspezifisch variieren. Allein die Epidemiologie der wesentlichen Alterserkrankungen legt zudem nahe, dass wir es hier nie mit einer einzigen Ursache zu tun haben, sondern mit in ihrer Endstrecke zusammenlaufenden Prozessen, die Reparaturprozesse im Körper (selektiv) überfordern (Kirkwood 2005).

1 Demenzen

1.1 Epidemiologie

Epidemiologische Untersuchungen liegen bis heute vor allen Dingen für die zwei Hauptursachen für Demenzerkrankungen vor, nämlich die Demenz vom Alzheimertyp (DAT) und die vaskuläre Demenz (VaD). Für die selteneren Demenzformen, insbesondere die Lewy-Körper-Demenz (LBD), die frontotemporalen Degenerationen (FTD) oder die Creutzfeld-Jakob-Erkrankung (CJD), liegen bis heute nicht genügend aussagekräftige epidemiologische Feldstudien vor (McKeith et al. 2004, Ikeda et al. 2004). Die DAT macht allein zwei Drittel aller Demenzerkrankungen aus. Zusätzlich kommen etwa 20 % Mischformen aus VaD- und Alzheimerdemenz und eine komorbide Alzheimerpathologie bei vielen Fällen der Parkinsondemenz bzw. der LBD (McKeith et al. 2004, Knopman et al. 2003) vor.
Epidemiologische Untersuchungen zeigen sehr konsistent einen exponentiellen Anstieg der Erkrankungsprävalenz und -inzidenz vor allem der DAT mit zunehmendem Lebensalter. Die Prävalenz steigt von 1 % bei den 60- bis 64-Jährigen auf 35 % bei den über 90-Jährigen. Die Neuerkrankungsrate (Inzidenz) steigt ebenfalls von 3,6 pro 1000 Einwohner und Jahr bei den 60- bis 64-Jährigen auf 66,1 pro 1000 Einwohner und Jahr bei den über 90-Jährigen. Derzeit rechnet man in Deutschland mit etwa einer Million Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Bei Einbeziehung leichterer Formen (mit dann allerdings höherer diagnostischer Unsicherheit) liegen die Zahlen noch höher. Zwei Drittel der Demenzkranken in Deutschland sind weiblich (Bickel 2001). Geschlechtsunterschiede werden kontrovers diskutiert. Hauptursache für die höhere Prävalenz sind wohl die höhere Lebenserwartung von Frauen und ihre geringere Mortalität an kardio- und zerebrovaskulären Erkrankungen (Hebert et al. 2001, Ruitenberg et al. 2001). In neuesten Studien wird der Geschlechtseffekt dementsprechend erst jenseits des 85. Lebensjahres deutlicher (Wancata et al. 2003). Bei den Inzidenzstudien ist der Geschlechtsunterschied noch geringer ausgeprägt. Aktuelle europäische Untersuchungen zeigen – wenn überhaupt – einen Geschlechtseffekt dahingehend, dass die Inzidenz bei Frauen mit zunehmendem Lebensalter höher ist für die DAT, während in nahezu gleichem Umfang das Risiko für die VaD bei Männern höher ist (Ruitenberg et al. 2001, Di Carlo et al. 2002).

1.2 Ätiologie

Ätiologisch sind die degenerativen Demenzen, vor allem die DAT, noch nicht vollständig aufgeklärt. Es zeigt sich, dass neurodegenerative Prozesse relativ selektiv verschiedene Neuronenpopulationen betreffen. Hierbei spielen zwei Pathomechanismen eine wesentliche Rolle, die Amyloidablagerung und die Neurofibrillenbildung (Frölich et al. 2002, Braak und Braak 2002). Kürzlich berichtete eine Studie, dass bei gleicher neuropathologischer „Belastung“ Frauen eher an einer Demenz erkranken (Barnes et al. 2005), was allerdings in Anbetracht vorheriger negativer Befunde in dieser Richtung vorsichtig interpretiert werden sollte. Vaskuläre Demenzen sind als Folge einer gestörten Hirndurchblutung konzeptionalisiert, die ätiologisch auf unterschiedliche Faktoren zurückgeführt werden können (Wolf und Gertz 2004). Zu beachten ist noch, dass derzeit die Grundlagenforschung immer wieder auch Hinweise findet für geschlechtsdifferente Stoffwechselvorgänge, die in der Pathophysiologie von Demenzen eine Rolle spielen könnten (Schüssel et al. 2004, Yao et al. 2004).
Für beide Erkrankungen wurden eine Reihe von Risikofaktoren identifiziert, die wiederum jeweils eigene Geschlechtseffekte aufweisen.
Das höhere Lebensalter spielt insbesondere bei der DAT eine Rolle. Die eher länger lebenden Frauen sind deshalb in der Gruppe der DAT-Kranken überrepräsentiert. Weitere gesicherte Faktoren sind eine familiäre Belastung, wobei sich hier in entsprechenden Familienuntersuchungen leichte Geschlechtseffekte abbilden (Lautenschlager et al. 1996). Ein wichtiger Vulnerabilitätsfaktor ist das Apolipoprotein E-4, das in der kaukasischen Normalbevölkerung in weniger als 20 % homo- und heterozygot auftritt. Dieser Risikofaktor erklärt inzwischen etwa 40 % bis 60 % der gesamten genetischen Varianz für die DAT. Es ist auch ein Risikofaktor für andere Erkrankungen, insbesondere die koronare Herzkrankheit. Metaanalysen zeigten eine Interaktion zwischen Geschlecht und Apolipoprotein E-Status bezüglich des DAT-Risikos, wobei sich eine größere Relevanz bei Frauen zeigte (Bretsky et al. 1999). Aber auch andere Risikofaktoren interagieren mit dem Apolipoprotein E-Status, so z. B. der potentiell präventive Effekt geistiger und körperlicher Aktivität (Podewils et al. 2005). Bildung scheint die Demenzentstehung im Zeitverlauf zu verzögern, was auf Schwelleneffekte hinweist. Bezüglich den Ernährungsfaktoren zeigten neuere Untersuchungen, dass eine cholesterinreiche Ernährung nicht nur das Risiko für zerebrovaskuläre Ereignisse erhöht, sondern auch für die DAT (Engelhart et al. 2002). Zusätzlich erhöht vermehrter Alkoholkonsum das Risiko für eine Demenz (Lindsay et al. 2002). Andererseits finden sich erste Ergebnisse, dass die Einnahme von Psychopharmaka, z. B. von Benzodiazepinen, das Risiko ebenfalls erhöht (Lagnaoui et al. 2002). Während Alkoholabhängigkeit im Wesentlichen eine Erkrankung von Männern ist, ist der Benzodiazepinabusus eher ein weibliches Phänomen, so dass sich diese gegenläufigen Effekte in epidemiologischen Studien ausgleichen könnten. Bekanntermaßen finden sich ja auch bezüglich Ernährung, Gesundheitsbewusstsein und anderer hier genannten Parameter Geschlechtsunterschiede.
Immer wieder wurde im psychiatrischen Kontext auch die Rolle der Depression diskutiert, die ja häufiger Frauen betrifft. Hierbei zeigt sich jetzt zunehmend konsistenter, dass das Risiko für eine Demenz nur durch eine Depression mit Beginn in der zweiten Lebenshälfte erhöht wird. Dies spricht eher dafür, dass die beginnende hirnorganische Erkrankung die Vulnerabilität für eine Depression erhöht (Stoppe 2000).
Eine besondere Rolle haben in der Diskussion um die Vermeidung bzw. Prävention von Demenzen auch die Östrogene gespielt. Gestützt durch eine Vielfalt positiver Effekte von Östrogenen auf das zentrale Nervensystem und eine Reihe von Studien, die ein geringeres Risiko für eine Demenz bei jemals mit einer sogenannten „Hormonersatztherapie“ behandelten Patienten zeigten, wurde eine entsprechende Behandlung von älteren Frauen auch Jahre über die Menopause hinaus empfohlen, obgleich die Autorin dieses Beitrages ebenso wie andere auf die Mängel der entsprechenden Studien hinwies (Stoppe und Vedder 2000, Stoppe et al. 2000). Die Ergebnisse der WHI (Woman’s Health Initiative) Studie waren dann auch nur begrenzt überraschend. In dieser groß angelegten, von den Frauenverbänden in den USA geforderten Studie zur Hormontherapie, zeigte sich überraschend sogar eine Verdoppelung des Demenzrisikos unter Verum im Vergleich zu Placebo (Shumaker et al. 2004). Ein positiver Effekt auf Demenzerkrankungen blieb nicht nur aus, sondern es zeigte sich auch kein wirklich messbarer Effekt auf weitere, die Lebensqualität beeinflussende Faktoren, allenfalls noch für den Schlaf, was pathophysiologisch auch begründet werden könnte (Hays et al. 2003, Stoppe et al. 2000). Auch eine andere, davon unabhängige Untersuchung zeigte, dass Frauen mit höheren endogenen Östrogenspiegeln eher ein höheres Demenzrisiko haben, ein Zusammenhang, der sich bei Männern nicht fand (Geerlings et al. 2003).

1.3 Symptomatik

Die bisherige symptomatische Forschung bei den Demenzerkrankungen hat die Geschlechtsaspekte wenig mit einbezogen und fokussiert mehrheitlich auf die DAT. Der – wenn überhaupt – bestuntersuchte Befund scheint der einer potentiell unterschiedlichen Beeinträchtigung sprachlicher Funktionen bei DAT-Patienten zu sein. Allerdings sind diese Geschlechtsunterschiede einerseits klein, andererseits nicht konsistent nachgewiesen (McPherson et al. 1999, Bayles et al. 1999). Interessanterweise haben Östrogene, wenn überhaupt, kognitive Effekte auf die Sprachfunktion hysterektomierter Frauen (Henderson 1997, Stoppe und Vedder 2000).
Mehrere Studien – wiederum mit fraglichem Selektionsbias – berichteten über eine größere Gewalttätigkeit bei männlichen Demenzpatienten. Hier ist zu hinterfragen, ob Aggressionen bei Männern von den weiblichen Pflegepersonen möglicherweise weniger toleriert werden und damit eher zum Behandlungsproblem werden. Auch muss eine Fülle von Faktoren (prämorbide Aggressivität, sprachliche Kompetenz etc.) ursächlich diskutiert werden, die wiederum geschlechtsdifferent zu behandeln sind (Hall und O’Connor 2004). Kasuistiken berichteten über positive Effekte von Östrogenen auf Aggressionen bei männlichen Demenzpatienten (Shelton und Brooks 1999).

1.4 Diagnostik, Therapie, Verlauf und Prognose

In den vorliegenden Studien finden sich wenig Hinweise auf eine besondere Bedeutung des Geschlechts. So wurde in einer US-amerikanischen Untersuchung eine höhere Mortalität von männlichen DAT-Patienten im Pflegeheim beschrieben (n = 2.838 Männer und 6.385 Frauen; Lapane ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
  6. Vorwort
  7. A Störungen
  8. B Diagnostik
  9. C Therapie und Versorgung
  10. D Spezielle Aspekte
  11. E Forensische Psychiatrie
  12. Stichwortverzeichnis