1 Einführung
Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen bzw. Bezugspersonen stellen in unserer Gesellschaft eine zunehmend wichtiger werdende Zielgruppe für Berufe im Gesundheitswesen dar. Dies resultiert aus ihrer bereits aktuell hohen Anzahl im Vergleich zu anderen Erkrankungen, die prognostisch überproportional zunehmen wird. Doch nicht nur die reine Quantität bestimmt die hohe klinische Relevanz dieser Zielgruppe. Vielmehr handelt es sich in den meisten Fällen um langandauernde und komplexe Lebens- und Pflegesituationen, die vom betroffenen Menschen selbst, aber auch von dessen Bezugspersonen hohe Bewältigungsarbeiten und Anpassungsleistungen abfordern und mit einem multiplen Versorgungsbedarf verbunden sind.
Dies fordert das Gesundheitswesen heraus, in Zukunft entsprechende Versorgungsstrukturen und -konzepte auszubilden. Da nichtsdestotrotz Menschen mit Demenz derzeit vornehmlich durch Bezugspersonen wie Angehörige betreut und im eigenen Zuhause pflegerisch versorgt werden, geht mit diesem Szenario die Notwendigkeit der Entwicklung von Demenzkompetenz aufseiten von Fachpersonen und weiterem Betreuungspersonal einher. Diesem Anliegen ist das vorliegende Werk gewidmet, welches sich gleichermaßen sowohl an Pflegefachpersonen als auch an Betreuungspersonal richtet und damit unterschiedlichen Bildungsbedarfen gleichermaßen Rechnung trägt.
Zunächst werden im zweiten Kapitel die medizinischen Grundlagen der Demenz dargelegt. Denn die vielfältigen neuropathologischen Veränderungen infolge des neurologischen Defizits, die mit dem Krankheitsetikett »Demenz« bezeichnet werden, stellen den primären Zugang zur Aufschlüsselung der damit einhergehenden Pflegebedürftigkeit dar. Das zweite Kapitel dient auch dazu, zu verstehen, dass es sich um ein vielfältiges Krankheitsgeschehen mit den unterschiedlichsten Ausdrucksformen handelt, die im Rahmen einer fachlichen Bezugnahme einer systematischen Betrachtung und Einschätzung bedürfen.
Ein weiterer, nicht weniger wichtiger Zugang zum Verständnis von Lebens- und Pflegesituationen von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen bilden theoretische Betrachtungsweisen darüber, welche Bedürfnisse von einem von Demenz betroffenen Menschen in Anbetracht der konkret vorhandenen Symptomlage vorliegen können. Dazu werden im dritten Kapitel wichtige theoretische Positionen ausgehend von der personzentrierten Pflege herausgegriffen, die den aktuellen Stand der Pflegewissenschaft im Hinblick auf eine hochwertige, am Individuum und dessen sozialem Umfeld orientierte Pflege und Betreuung abbilden. Auf dieser Basis wird dargestellt, was Pflegebedürftigkeit infolge von Demenz bedeuten kann und in welcher Weise fachlich zu ihrer Bestimmung vorzugehen ist. Abgerundet wird dies mit der Betrachtung von Schwerpunkten des Pflegeprozesses, der die Systematik der pflegerischen Handlungsstrategie aufschlüsselt, damit Menschen mit einem entsprechenden Pflegebedarf in zielgerichteter und nachvollziehbarer Weise pflegefachliche Unterstützung erfahren.
Im Anschluss daran werden im vierten Kapitel rechtliche und fachliche Rahmenbedingungen und Voraussetzungen erläutert, die bei der Ausgestaltung fachlicher Pflege und Betreuung zu berücksichtigen sind, bevor dann im fünften Kapitel wichtige Pflege- und Betreuungskonzepte im Hinblick auf Demenz veranschaulicht werden, die auf die häufigsten und kritischsten Pflegeprobleme und Bedürfnisse der Zielgruppe bezogen sind.
Zur Erläuterung der vielfältigen Versorgungssettings werden im sechsten Kapitel die wichtigsten Konzepte im Hinblick auf ihre Vor- und Nachteile im Rahmen der Betreuung und pflegerischen Versorgung beleuchtet, bevor im siebten Kapitel der Schwerpunkt der Betrachtung auf die Situation und die Bedarfe der pflegenden Angehörigen gerichtet wird. Vertieft werden diese Ausführungen dann im achten Kapitel mit dem in der aktuellen Pflegegesetzgebung gestärkten Auftrag der Pflegeberatung und Unterstützung im Alltag, was die damit einhergehenden hohen fachlichen Anforderungen verdeutlicht. Beschlossen wird dieses Buch schließlich im neunten Kapitel mit einem häufig vernachlässigten und eher randständig bearbeiteten Gegenstand, nämlich die vielfältigen Ausdrucksformen von Gewalt in der Pflege und ihre Vermeidungsmöglichkeiten, die den Kreis zu den grundlegenden theoretischen Modellen der pflegefachlichen Versorgung und Betreuung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen schließen. In den Ausführungen ist soweit wie möglich eine neutrale Sprachform gewählt worden. Wurde ansonsten aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form verwendet, so ist dies geschlechterübergreifend gemeint.
2 Demenz als Krankheit
2.1 Demenzen aus biomedizinischer Perspektive
Bei der Einordnung des Begriffs Demenz gilt es, zunächst eine allgemeine Begriffsbestimmung von der medizinischen zu unterscheiden.
Auf allgemeiner Ebene bedeutet Demenz lateinisch übersetzt ›ohne Verstand‹ (Jahn & Werheid 2015; Falk 2015). Bereits diese (veraltete) Kennzeichnung ist nicht unproblematisch, können doch den von Demenz betroffenen Menschen nicht zwangsläufig Unverstand unterstellt werden.
2.1.1 Medizinische Einordnung des Begriffs Demenz
Demenzen zählen aus biomedizinischer Sicht zu den häufigsten neuropsychiatrischen Erkrankungen des höheren Lebensalters. Das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, steigt mit dem Lebensalter exponentiell an. In der Medizin wird somit das Lebensalter als der größte Risikofaktor für Demenz angesehen, weil im Alter generell die Wahrscheinlichkeit zu erkranken steigt und zugleich die Widerstandsfähigkeit des Gehirns sinkt (Karakaya et al. 2014; Fellgiebel 2013). Allgemein formuliert handelt es sich bei Demenz nach Förstl & Lang (2011, S. 4) um einen »schwerwiegenden Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit aufgrund einer ausgeprägten und lang andauernden Funktionsstörung des Gehirns.«
Die aktuellen Definitionen der Medizin zum Begriff der Demenz basieren auf den medizinischen Klassifikationen ICD-10 und DSM-IV (bald: 51).
Gedächtnisstörung als Leitsymptom
Bei der Erfassung des Begriffs Demenz ist zunächst deren allgemeine Bedeutung als Sammelbegriff von den spezifischen Formen der Demenz zu unterscheiden. Demenz als Sammelbegriff bezeichnet ein Syndrom einer mnestischen bzw. Gedächtnisstörung, wenn auch nicht alle Formen der Demenz dieses Leitkriterium als kleinsten gemeinsamen Nenner aufweisen.
Formen von Demenz sind auf unterschiedliche Ursachen (Krankheiten) zurückzuführen und unterscheiden sich damit in ihrem Erscheinungsbild, in ihrem Verlauf und anhand ihrer zeitlichen Perspektive. Aber auch die medizinischen Definitionen der oben erwähnten Klassifikationen sind uneinheitlich (Förstl & Lang 2011; Jahn & Werheid 2015).
Bei aller Unterschiedlichkeit in der medizinischen Terminologie können die folgenden Grundgemeinsamkeiten festgehalten werden: Demnach handelt es sich bei Demenz um ein psychopathologisches Syndrom. Die hierbei auftretenden krankhaften Veränderungen sind eine erworbene Störung von Gedächtnisfunktionen, was bedeutet, dass die Gedächtnisfunktion der davon betroffenen Menschen zuvor auf einem höheren Niveau lag.
Die Verwendung der Diagnose Demenz fordert aus medizinischer Sicht (ICD) mindestens noch eine weitere kognitive Einbuße in den Bereichen Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen (DGPPN & DGN 2009). Das DSM-IV-TR enthält demgegenüber die folgenden mit einer Demenzdiagnose verbundenen kognitiven Störungen: Aphasie, Apraxie, Agnosie und Störung der Exekutivfunktionen (Planen, Organisieren, Einhalten einer Reihenfolge, Abstrahieren) (Jahn & Werheid 2015).
Allein die Kombination dieser möglichen Symptome verdeutlicht, dass es sich bei der Demenz um ein komplexes Krankheitsbild handelt. Doch die medizinische Terminologie differenziert weiter, dass mit den zuvor bezeichneten Symptomen Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens und der Motivation des davon betroffenen Menschen einhergehen können.
Die ICD fordert für die Verwendung des Begriffs Demenz zudem eine Mindestdauer der Symptome von einem halben Jahr. Je nach der zugrundeliegenden Ursache der Demenz verlaufen diese kognitiven Beeinträchtigungen progredient (sich fortlaufend entwickelnd), gleichbleibend, treppenförmig, schwankend oder reversibel. Das bedeutet, dass seltenere Demenzformen durchaus heilbar sind, wohingegen der größte Teil der Demenzformen chronisch fortschreitender Natur und damit nicht heilbar ist.
Bei der Diagnose Demenz muss aber auszuschließen sein, dass es sich um ein Delir oder eine Depression handelt, die mit ähnlichen Krankheitszeichen einhergehen und daher leicht mit einer Demenz verwechselt werden können. Ausgeschlossen werden muss auch ein vorübergehender Verwirrtheitszustand und eine rasch einsetzende Bewusstseinstrübung (Förstl...