Die politische Artikulation der Gesellschaft. Politische Ordnung und Revolte in der Arabischen Welt
Christoph Schumann
1 Einleitung
Im Dezember 2010, also etwa zwei Jahre vor Abfassung dieses Beitrags, begann die Arabische Revolte mit der Selbstverbrennung des 26-jährigen Mohamed Bouazizi in der tunesischen Kreisstadt Sidi Bouzid. In der Folgezeit wurde die Region von einer politischen Dynamik erfasst, die Akteure und Beobachter gleichermaßen überraschte und die bis heute anhält. Vor Beginn der Revolte hatten zwanzig bleierne Jahre der Stagnation die Arabische Welt in Agonie versetzt. 1989/90 war nach dem Fall der Mauer und dem demokratischen Frühling in Osteuropa zunächst auch im Nahen Osten die Hoffnung groß gewesen. Viele hofften, die Welle der Demokratisierung könnte sich in den arabischen Staaten fortsetzen. Daneben stimulierte die Aussicht auf einen möglichen arabisch-israelischen Frieden die Phantasie von nahöstlichen Politikern und Intellektuellen. Shimon Peres hatte sogar einen „neuen Nahen Osten“ vor Augen (Peres 1993).
Aber der Hoffnung folgte bald die Ernüchterung. Holger Albrecht und Oliver Schlumberger sprachen 2004 mit Blick auf die autoritären Reformen, denen keine wirkliche Demokratisierung folgen wollte, vom ewigen „Warten auf Godot“. In den folgenden Jahren erfolgte in der Politikwissenschaft eine Neubewertung autoritärer Regime, die davon ausging, dass man die Instabilität derselben zu Gunsten einer erwarteten Demokratisierung nicht ohne Weiteres annehmen dürfe. Autokratien seien offensichtlich ein politischer Systemtypus sui generis, der durchaus dauerhaft stabil sein könne (Albrecht/Frankenberger 2010). Natürlich wurde diese Einschätzung zunächst durch die Ereignisse des Jahres 2011 erschüttert. Die bleierne Stabilität der letzten beiden Jahrzehnte war auf einmal dahin. Autoritarismusforscher warnten nun allerdings vor einer vorschnellen Euphorie mit dem Hinweis, dass mit dem Sturz Husni Mubaraks und Zinedin Ben Alis eine demokratische Transition noch lange nicht geschafft sei.
Wenn man die arabischen Gesellschaften am Ende des Jahres 2012 jedoch nicht allein vor dem Hintergrund des Gegensatzes Demokratie versus Autokratie betrachtet, sondern danach fragt, was Gesellschaften zusammenhält, ergibt sich ein sehr vielschichtiges und widersprüchliches Gesamtbild.
Während Tunesien und Ägypten vergleichsweise kurze und hitzige Revolten erlebten, die Anfang 2011 im Fall der amtierenden Präsidenten gipfelte, gingen vor allem die Aufstände in Libyen und Syrien in anhaltende gewaltsame Auseinandersetzungen über. Dabei gelang es den jeweils herrschenden Regimen, den Staatsapparat über eine längere Zeit hinweg intakt zu halten und einen Teil der Gesellschaft für die Verteidigung der bestehenden Verhältnisse zu mobilisieren. Während in Libyen der Kampf zwischen der Opposition und dem Regime durch die Militärschläge der NATO mitentschieden wurde, gab es im Jemen eine verhandelte Übergabe der Präsidentschaft von Ali Abdullah Saleh auf Abed Rabbo Mansur Hadi. In Syrien hingegen hat sich seit Beginn der offenen Proteste im März 2011 ein zerstörerisches Patt zwischen Regime- und Oppositionskräften herausgebildet. Beide Seiten werden von verbündeten Staaten auf regionaler und globaler Ebene unterstützt. Von allen denkbaren Optionen erscheint im Moment ein friedlicher Ausgleich mit einer verhandelten Transition am aller unwahrscheinlichsten.
Von den übrigen arabischen Republiken, die nicht von der Revolte erfasst wurden, sind vor allem Algerien, Libanon und der Sudan zu nennen. Sie alle haben in den letzten Jahrzehnten brutale Bürgerkriege erlebt. Dies wirft die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt umso dringlicher auf. Dabei sind die Gründe für die jeweiligen Auseinandersetzungen im Einzelnen sehr unterschiedlich. Im Vergleich zu den Republiken erscheinen die arabischen Monarchien im Jahr 2012 geradezu als ein Hort der Stabilität. Zwar gab es durchaus machtvolle Demonstrationen und lautstarke Forderungen nach Reformen, aber die regierenden Monarchen verstanden es bis heute, die sozialen Bewegungen einzudämmen, indem sie Reformen versprachen, materielle Wohltaten verteilten und gleichzeitig immer wieder ihre Entschlossenheit demonstrierten, notfalls auch zu repressiven Maßnahmen zu greifen. Zwar ist zu erwarten, dass gerade in Marokko, Jordanien und Kuwait die Oppositionskräfte weiterhin versuchen werden, den politischen Reformdruck aufrecht zu erhalten. Aber die jeweiligen Bevölkerungen zeigen – unter dem Eindruck der Entwicklungen in Libyen, Jemen und Syrien – wenig Neigung zu einem revolutionären Umsturz. Als einzige Ausnahme im Lager der arabischen Monarchien sticht natürlich Bahrain hervor. Hier hat die Arabische Revolte die seit langem bestehenden politischen Spannungen zwischen Monarch und Opposition zusätzlich verschärft.
2 Gesellschaft und politische Ordnung
Dieser kursorische Überblick über die Situation der arabischen Staaten im Jahr 2012 zeigt meines Erachtens zweierlei. Erstens ist der Grad der gesellschaftlichen und politischen Destabilisierung in den arabischen Republiken sehr viel stärker ausgeprägt als in den Monarchien. In der politikwissenschaftlichen Nahostforschung spielt der systematische Vergleich zwischen Monarchien und Republiken aber bisher keine Rolle (Ausnahmen: Hudson 1977; Bank/Richter/Sunik 2012; Yom/Gause III 2012). Durch die Linse der Autoritarismusforschung gesehen, galten bislang sowohl die arabischen Republiken als auch die Monarchien allenfalls als „Subtypen“ autoritärer Regime (Lucas 2004). Zweitens wurde durch den Druck der Oppositionsbewegungen vor allem in den arabischen Republiken, aber auch im Königreich Bahrain, eine Krise der politischen Ordnung offenbar, die über die Forderungen nach Demokratisierung und Liberalisierung hinausgeht. Sie betrifft im Kern den Zusammenhang der politisch verfassten Gesellschaften und ihre normativen politischen Ordnungen. In anderen Worten: Die Arabische Revolte bringt seit 2011 eine politische Ordnungskrise ans Licht, die die Kernfrage des Politischen überhaupt berührt, nämlich die Frage nach dem body politic.
Die gegenwärtige Herausforderung für die Politikwissenschaft besteht darin, die Legitimität von politischen Ordnungen zu analysieren, ohne diese als Summe aller Legitimationsstrategien der herrschenden Eliten misszuverstehen. An dieser Stelle soll deswegen auf Eric Voegelin zurückgegriffen werden; in seinem wichtigsten Werk Die Neue Wissenschaft der Politik geht Voegelin von den Begriffen ‚Artikulation‘ und ‚Repräsentation‘ aus (Voegelin 2004).10 Erst durch diese, so Voegelin, werden Gesellschaften nach innen und außen zu handlungsfähigen Akteure:
„Dieser Prozess, in dem eine Vielzahl von Menschen sich zu einer handlungsfähigen Gesellschaft gestaltet, soll die Artikulierung einer Gesellschaft, ihr Durchbruch zur historischen Existenz genannt werden. Als Ergebnis der politischen Artikulierung gibt es dann Menschen, die wir Herrscher nennen, die für die Gesellschaft handeln können […]. Wenn die Handlungen einer Person [also des Herrschers, CS] auf diese Weise wirksam der Gesellschaft zugerechnet werden, dann ist sie deren Repräsentant.“ (Voegelin 2004: 52)
In seiner Analyse unterscheidet Voegelin drei Aspekte der Repräsentation. (1) Die Repräsentation im ‚deskriptiven‘ Sinne bezieht sich ganz grundlegend auf die institutionelle und symbolische Ausgestaltung einer politischen Ordnung. (2) Von Repräsentation im ‚existenziellen‘ Sinne spricht Voegelin, wenn eine politische Ordnung auch tatsächlich ein Mindestmaß an Anerkennung findet, so dass die innere und äußere Sicherheit gewährleistet ist. Dies entspricht weitgehend dem gängigen Verständnis von Legitimität. (3) Mit seinem Begriff der Repräsentation im ‚transzendenten‘ Sinn geht Voegelin jedoch darüber hinaus (vgl. Voegelin 2004: 88). Für ihn impliziert jede institutionelle und geistige Ordnung einer politischen Gesellschaft den Anspruch, eine über sie selbst hinausgehende transzendente Wirklichkeit zu repräsentieren (Voegelin 2004: 69). In der modernen Welt von Nationalstaaten verweisen der universelle Wahrheitsanspruch und die partikulare Existenz der jeweiligen politischen Ordnung wechselseitig aufeinander: Die partikulare Ordnung wird zur Repräsentantin einer höheren Ordnung (z.B. des Naturrechts, der Menschenrechte oder der Geschichte11) und diese höhere Ordnung wiederum bestätigt die Wirklichkeit der partikularen Ordnung.
Pierre Bourdieu hat zwischen 1989 und 1992 in seinen Vorlesungen Über den Staat am Collège de France den Zusammenhang zwischen dem modernen Staat und dem ‚Universellen‘ ausführlich thematisiert (Bourdieu 2012). Einerseits, so Bourdieu, treibe der moderne Staat durch die Prozesse der Konzentration und der Vereinheitlichung die Herausbildung eines staatlich definierten Universellen voran. Dies werde an der Vereinheitlichung der Sprache, des Geldes und der metrischen Systeme besonders deutlich. Das so vom Staat beanspruchte Monopol auf das Universelle ende jedoch mit seiner Regelungskapazität an dessen jeweiligen territorialen Grenze (Bourdieu 2012: 255). Im Zuge dieser Herausbildung des Universellen habe sich gleichzeitig aber auch eine bürokratische Klasse innerhalb des Staates entwickelt, deren Interesse es sei, das Universelle zu definieren, zu verwalten und öffentlich zur Geltung zu bringen. Damit werde das Universelle jedoch unweigerlich monopolisiert und für partikulare Interessen vereinnahmt.
Insbesondere die Juristen, so Bourdieu, hätten eine Vielzahl von Formen des Sozialen und der Repräsentation des Universellen erfunden. Dabei liegt implizit immer das Argument zugrunde, die Aussagen und Feststellungen der Juristen seien viel leichter universalisierbar als die aller anderen Akteure, die von privaten Interessen geprägt seien. Dabei, so Bourdieu, hätten die Bürokraten und Juristen einfach nur eine besondere Fähigkeit darin, ihre partikularen Interessen im Lichte des Universellen zu präsentieren:
„Les professionnels de l’universel sont virtuoses dans l’art d’universaliser leurs intérêts particuliers: ils produisent à la fois l’universel et les stratégies d’universalisation, c’est-à-dire l’art de mimer l’universel et de faire passer pour universels leurs intérêts particuliers.“ (Bourdieu 2012: 541)12
3 Politische Ordnung in der Arabischen Welt
Die Geschichte der modernen Staaten- und Verfassungsordnungen im Nahen Osten kann an dieser Stelle natürlich nicht im Detail nachgezeichnet werden. In den letzten einhundert Jahren lassen sich vier Phasen im Prozess der Staatsbildung unterscheiden, die jeweils spezifische Prägungen in Bezug auf die heutige Situation hinterlassen haben.
Erstens markieren das Ende des Ersten Weltkriegs und der Zerfall des Osmanischen Reichs einen tiefen Einschnitt in der jüngeren Geschichte der Region. Der Historiker und Publizist David Fromkin hat die Reichweite der damaligen internationalen und völkerrechtlichen Entscheidungen unübertroffen als ‚a peace to end all peace‘ bezeichnet (vgl. Fromkin 1989). Vor allem im östlichen Mittelmeerraum schufen Großbritannien und Frankreich Staaten per Dekret und definierten deren Grenzen dementsprechend willkürlich. Frankreich beendete in diesem Zusammenhang den Versuch zur Errichtung eines Königreichs Syrien unter Faisal bin Hussein (1885-1933) mit militärischen Mitteln am 23. Juli 1920 in der Schlacht von Maysalun, westlich von Damaskus. Durch die Art ihrer Entstehung bedingt, litten die so geschaffenen Mandatsstaaten in den folgenden Jahrzehnten an einem offensichtlichen Legitimitätsdefizit. Zudem verliefen ihre Grenzen zumeist quer zu den gesellschaftlichen Strukturen und Verbindungen, die über Jahrhunderte im Rahmen des Osmanischen Reichs gewachsen waren.
Zweitens können, trotz der Beherrschung weiter Teile der Arabischen Welt durch die europäischen Mächte während der Zwischenkriegszeit, diese Phase und die ihr folgenden Jahre der Unabhängigkeit durchaus der „liberalen Ära“ zugerechnet werden, wie es Albert Hourani in seiner ideengeschichtlichen Darstellung Arabic Thought in the Liberal Age getan hat (Hourani 1962).13 Mit Blick auf die autoritären und paternalistischen Methoden der beiden Mandatsmächte England und Frankreich mag man zwar an der „Liberalität“ dieser Zeitspanne zweifeln (Thompson 2000; Provence 2004; Sluglett 2004). Wenn man jedoch die Verfassungsordnungen der damaligen kolonialen und postkolonialen Staaten mit der vorangegangenen Epoche des Osmanischen Reichs und der folgenden Epoche der republikanischen Revolutionen in den 1950er und 1960er Jahren vergleicht, dann fallen die gut ausgearbeiteten und detaillierten Grundrechtskataloge der Verfassungen ins Auge, die zur damaligen Zeit entstanden waren (Zisser 2004).
Drittens war die Monarchie, als die Zeit des Kolonialismus in der Region zu Ende ging und die arabischen Staaten ihre Unabhängigkeit erlangten, die dominante Staatsform in der Region. Neben den nicht-arabischen Ländern Israel und Türkei waren nur Libanon und Syrien als Republiken verfasst. Dies änderte sich, angefangen mit der Revolution der Freien Offiziere in Ägypten von 1952 bis zur „Septemberrevolution“ unter der Führung von Oberst Muammar al-Ghaddafi in Libyen 1969, fundamental. In dieser Zeitspanne erschütterten eine Reihe von Militärputschen und Staatsstreichen die arabischen Staaten: Eine große Zahl von Monarchien wurden hinweggefegt und durch republikanische Ordnungen ersetzt, die sich ausdrücklich auf das Prinzip des arabischen Sozialismus beriefen (Hudson 1977; Lynch 2012: 29–42). In dem folgenden, sogenannten ‚Arabischen Kalten Krieg‘ (Kerr 1965) standen sich auf regionaler Ebene zunächst ‚konservative‘ Monarchien und ‚progressive‘ Republiken gegenüber. Diese Lagerbildung veränderte sich jedoch mit der ...