HILFE IM KRANKHEITSFALL
Selbstdiagnose und -hilfe
Als sich 1553 der Bruder des Kölner Ratsherrn Hermann Weinsberg unwohl fühlte, stellte er sich vor einen Spiegel, um in seinen Mund und Hals hineinschauen zu können. Zu seinem Entsetzen bemerkte er, dass er »im mont und hals binen gar swarz […] ware«, und rief dann in seiner Verzweiflung: »O wie, es ist mit mir geschehen.«1 Tatsächlich starb er wenige Tage später. Wie sein Bruder, der Kölner Chronist, uns berichtet, soll er an der brunen [Bräune] im hals (vermutlich Angina diphtherica) gelitten haben. Hieronimus Weinsbergs Verhalten war sicherlich keine Ausnahme. Wir wissen beispielsweise von Albrecht Dürer (1471–1528), dass er die Körperstelle, die ihn schmerzte, zeichnerisch festhielt, um dem Arzt, den er schriftlich um Rat bat, die Diagnose zu erleichtern.2
Zeichen, die den einen zu Tode ängstigten, mussten einen anderen nicht unbedingt zum Aufsuchen eines Arztes oder Heilers veranlassen. Denn Krankheitszeichen wurden und werden unterschiedlich wahrgenommen und interpretiert. Gleichwohl gibt es, wie medizinsoziologische Studien3 gezeigt haben, bestimmte soziokulturell geprägte Wahrnehmungsmuster, die es dem Betreffenden ermöglichen, eine Erkrankung von einer vorübergehenden Unpässlichkeit abzugrenzen. Zwar haben Frühneuzeithistoriker nicht wie Ethnologen und Medizinsoziologen die Möglichkeit, eine repräsentative Personengruppe über erlebte Krankheitssymptome zu befragen, doch eignen sich beispielsweise als Ersatz Quellen4, in denen Selbstwahrnehmung und Darstellung des historischen Subjekts in seinem Umfeld zum Ausdruck kommen, sogenannte »Ego-Dokumente«. Hier bietet sich eine für das 16. Jahrhundert singuläre Quelle an: die detaillierten körperbezogenen Aufzeichnungen des Kölner Ratsherrn Hermann Weinsberg. Dieser schildert nämlich nicht nur die Krankheitszeichen, die er selbst im Laufe seines langen Lebens wahrgenommen hat, sondern er berichtet auch von Symptomen, die Verwandte, Freunde oder Bekannte zu Beginn oder im Verlauf ihrer Krankheit gespürt haben. Seine Aufzeichnungen dienen daher als eine Art roter Faden für die weitere Darstellung.
Abb. 13: Albrecht Dürer, Selbstporträt
Wichtigstes Krankheitszeichen war und ist immer noch das Fieber als Begleitsymptom zahlreicher Erkrankungen. Das mit dem Fieber einhergehende allgemeine Schwächegefühl macht es in der Regel unmöglich, die Alltagsroutine aufrechtzuerhalten, so dass bei Andauer dieses Symptoms die Bettruhe und damit die Annahme der Krankenrolle in den meisten Fällen unumgänglich erscheint. Die eigentliche Krankheit, die diesen Abwehrmechanismus des Körpers in Gang setzte, blieb den Menschen damals (nicht anders als heute) meist verborgen. Nur selten gelang es dem Laien, dieses allgemeine Krankheitszeichen in das herrschende ätiologische System (vgl. S. 14) einzubauen.5 Meist gab sich Weinsberg damit zufrieden, den Verlauf des Fiebers6 (z. B. von Tag zu Tag wechselndes Hitze- und Kältegefühl) zu beschreiben; er forschte nicht nach der dahinter verborgenen Krankheit. Wenn das Fieber allerdings gehäuft in seiner näheren sozialen Umgebung auftrat, so vermutete er, wie so viele seiner Zeitgenossen, entweder eine »unbekante newe plach [neue Plage]«7 oder ganz konkret eine Pesterkrankung. In der Hierarchie des Schreckens nahm die leichenscheffelnde Pest damals den obersten Rang ein und prägte dadurch das Wahrnehmungsmuster von Krankheiten (ähnlich wie heute die Furcht vor den bezeichnenderweise nicht an erster Stelle in der Todesfallstatistik stehenden Krebserkrankungen, vgl. S. 96).8
Nur ein anderes Symptom ist noch so allgegenwärtig wie das Fieber, nämlich der Schmerz. Dieser gilt – ob nun lokalisiert oder über den ganzen Körper zu spüren – als Warnsignal des kranken Organismus schlechthin.9 Es gab und gibt nicht einen Menschen, der nicht schon einmal irgendwann und an irgendeiner Stelle seines Körpers das Mahnsymptom Schmerz empfunden hätte. Und es ist zu bezweifeln, dass man, wie ein Kulturwissenschaftler10 einmal behauptete, vor 1800 größere Resistenz gegenüber körperliche Schmerzen gezeigt habe. Jedes Zeitalter schafft sich offensichtlich den Mythos, dass die Vorväter gesundheitlich robuster und widerstandsfähiger gegen Schmerzen waren. So glaubte man bereits im 16. Jahrhundert:
»Hergegen aber die Menschen mit der Welt Alter so bloede [schwach] und krafftloß worden/ daß wir solche Kranckheyten viel weniger erleiden und außstehen koennen/ dann unsere Vorfahren/ so gegen uns zu achten Riesen/ und eines langen Lebens gewesen.«11
Sicherlich stimmt es, wie der Medizinhistoriker Richard Toellner hervorhebt, dass in der Medizin der Schmerz erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts als »Wächter und Hüter des Lebens«12 interpretiert wurde. Doch das spricht nicht gegen die historisch vielfältig belegbare Tatsache, dass Menschen auch lange vor dieser »Sattelzeit« ein intensives Schmerzerleben hatten. Über Kaiser Maximilian II. heißt es beispielsweise: »Die Arten seiner Schmerzen waren fast so zahlreich wie die Tage seiner Regierung.«13 Doch nicht nur über prominente Kranke und ihre Empfindungen des Schmerzes berichten die frühneuzeitlichen Quellen. Auch über das Leiden des »gemeinen« Mannes lässt sich mehr sagen, als man auf den ersten Blick vermeint.
Die »vormedikalisierte Sprechweise des Schmerzes« (Barbara Duden) nimmt sich die Sprachbilder aus dem gesamten Bereich der jeweiligen Lebenswelt.14 Ein sehr häufig gebrauchtes Bild für den »stechenden« Schmerz ist der Vergleich mit einem spitzen Gegenstand (Messer), der sich in das betreffende Körperteil bohrt. Hören wir, was der berühmte Wundarzt Fabry von Hilden (1560–1634) über die Schmerzempfindung einer seiner Kölner Patienten uns mitteilt:
»Andreas Polster in Köln, ein 40jähriger, phlegmatischer Mann, litt unter so furchtbaren Kopfschmerzen, daß er seiner Hausgenossen Schritt und Tritt in der Kammer, obgleich sie Sand auf das Pflaster gestreut hatten und die Schuhe ausgezogen, nicht ertragen konnte. Jedesmal, wenn er den Schritt eines Eintretenden vernahm, war es ihm, als ob sich ihm Messerchen ins Hirn bohrten.«15
Wenn nicht Metaphern oder Vergleiche herangezogen wurden, so waren es meist Konsekutivsätze, in denen man eine Folge oder Wirkung des im Hauptsatz erwähnten Schmerzes ausdrückte: Eine Patientin Fabrys hatte offenkundig so heftige Schmerzen im Magen und später im ganzen Unterleib, dass sie weder mit Kissen noch Laken zugedeckt werden wollte.16 Eine »behexte« Frau fühlte in ihrem Kopf so unleidliche Schmerzen, dass man den Eindruck hatte, sie wäre um ihren Verstand gekommen.17 In all diesen Beispielen manifestiert sich die sensorische Dimension des Schmerzerlebens in dem Bewusstsein, etwas von seiner Alltagsroutine und normalen körperlichen Funktionsfähigkeit eingebüßt zu haben; denn das, was früher einmal selbstverständlich war, erscheint plötzlich nicht mehr möglich: es tut zu weh.
Die Aufmerksamkeit, mit der man die Veränderungen am und im eigenen Körper registrierte, ist ein erster Hinweis darauf, wie sehr der entscheidend auf seine körperliche Arbeitskraft angewiesene Mensch in der vorindustriellen Gesellschaft bereits darauf bedacht war, »der Gesundheit in der Hierarchie der Werte einen festumrissenen Platz zuzuweisen«18. Dieser Einstellung begegnet man auch im 18. Jahrhundert auf Schritt und Tritt, wozu ein Blick in die Aufzeichnungen von Leopold Mozart, Georg Christoph Lichtenberg oder Ulrich Bräker genügt. Denn Krankheiten konnten einem die wirtschaftliche Existenz kosten. So versuchte man, in den eigenen Körper »hineinzuhören«, jedes verdächtige Anzeichen zu erspüren, um darauf rasch zu reagieren, meist mit Selbsthilfe, selten mit der Konsultation eines Arztes.
Eine medizinische Studie aus dem Jahr 1961 hat auf der Basis von Daten aus britischen Allgemeinarztpraxen gezeigt, dass sich von 1000 Erwachsenen jeden Monat 750 Personen krank fühlen, aber nur 250 von diesen einen Arzt konsultierten und lediglich neun in eine ...