Dritter Teil
„Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34 / Mt 27,46)
Der Schrei des Gekreuzigten und die Shoah
Was Jesus einst rief, sie rufen’s noch heute:
Warum nur, mein Gott, hast du mich verlassen?
Micheline Maurel, „Ravensbrück-Passion“
Die neutestamentlichen Kreuzigungs-Erzählungen fordern ihre Leserinnen und Leser wiederholt dazu auf, Bezüge zu den Psalmen der hebräischen Bibel herzustellen. Auf unterschiedliche Weise rufen die Erzählungen insbesondere Motive aus Psalm 22 ins Gedächtnis: das Verteilen der Kleider und das Loswerfen (Ps 22,19), das Kopfschütteln und die Verspottung durch Zuschauende (Ps 22,8) und schliesslich das Motiv der Gottverlassenheit, mit der Psalm 22 beginnt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen …?“ (Vers 2). Im Matthäus- und Markusevangelium wird diese Frage mit dem Schrei des gekreuzigten Jesu verknüpft und folgendermassen erzählt:
Um die neunte Stunde aber schrie Jesus mit lauter Stimme: Eli, Eli, lema sabachtani!, das heisst: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! (Mt 27,46)
Und in der neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eloi, eloi, lema sabachtani!, das heisst übersetzt: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!1 (Mk 15,34)
Die beiden Verse sind im Wortlaut nicht ganz identisch. Beide Evangelisten geben den sogenannten Schrei der Gottverlassenheit zunächst mit Hilfe einer Transliteration in aramäischer Sprache wieder, übersetzen ihn dann auf Griechisch, und die Exegese setzt sich bis heute mit den Sprach- und Textgrundlagen auseinander, die hinter den verschiedenen Formulierungen stehen. Unbestritten in der Forschung ist die Beobachtung, dass sowohl Mk 15,34 als auch Mt 27,46 mit Ps 22,2 in einem intertextuellen Zusammenhang stehen. Lesende der Passionsgeschichten werden offensichtlich dazu aufgefordert, in Jesu Schrei ein Echo des Psalmverses wahrzunehmen. Wie genau dieser intertextuelle Bezug wahrzunehmen ist, wird in der Forschung allerdings recht kontrovers diskutiert.
In diesem dritten Teil des Buches möchte ich die Dringlichkeit intertextueller Fragen für eine Exegese der Passionsgeschichten nach der Shoah darlegen. Mich wird die Beobachtung beschäftigen, dass die Evangelientexte mit ihren Psalm-Einspielungen ihrerseits längst zu Referenzen geworden sind, mit Hilfe derer die Ereignisse der Shoah erzählt und gedeutet werden. Sowohl christliche als auch jüdische Autoren und Autorinnen haben den Schrei des gekreuzigten Jesus mit der Verfolgung und Ermordung des europäischen Judentums im 20. Jahrhundert in Verbindung gebracht. In zum Teil radikal unterschiedlichen rhetorischen Situationen und mit sich widersprechenden Deutungsabsichten wurde Jesu Schrei am Kreuz vor, während und nach der Shoah literarisch aufgenommen und verarbeitet. Die Intertextualität, wie sie von der neueren Bibelwissenschaft in Bezug auf Mt 27,46 und Mk 15,34 ausführlich behandelt wird, wurde in den Texten des 20. Jahrhunderts weiter transportiert und stellt dort neue Fragen an die Rezeption.
Mir liegt daran aufzuzeigen, dass heutige Leserinnen und Leser der Kreuzigungs-Erzählungen mehr zu verarbeiten haben als die innerbiblischen Bezüge zu Psalm 22. Für Lesende, die sich innerhalb einer durch die Erinnerung an die Shoah geprägten Kultur wiederfinden, sind die Kreuzigungsberichte schon seit längerem mit der Literatur der Shoah verknüpfbar geworden. Diese Verknüpfungen prägen den sich ständig verändernden „intertextuellen Nexus“2, in dem die Erzählungen von Jesu Kreuzigung heute gelesen und gedeutet werden können. Für diese potentiellen Leseprozesse möchte ich insbesondere mit Blick auf die Täterkultur einen kritischen Reflexionsrahmen zur Verfügung stellen.
Ich beginne erstens mit einer Einführung in Fragen der Intertextualität von Mk 15,34 / Mt 27,46. Dabei sollen auch die wichtigsten exegetischen Fragen dargelegt werden, mit denen sich Forschende in den vergangenen Jahrzehnten beschäftigt haben. Im zweiten und dritten Kapitel entwerfe ich eine ausführliche Rezeptionsgeschichte von Mk 15,34 / Mt 27,46, die Ende des 19. Jahrhunderts beginnt und am Anfang des 21. Jahrhunderts endet. Mithilfe dieser Rezeptionsgeschichte bearbeite ich eine Reihe von literaturtheoretischen und ethischen Fragen der Rezeption des Kreuzesschreis nach der Shoah.
Mit diesem dritten Teil des Buches möchte ich unser Gedächtnis um ein Stück jüdischer und christlicher Literaturgeschichte erweitern und deutlich machen, wie wirkungskräftig aber auch wie problematisch die intertextuellen Bezüge zwischen den Kreuzigungserzählungen und Texten zur Shoah waren und immer noch sind. Wenn wir uns heutzutage im Rahmen der neutestamentlichen Forschung auf Zitate aus der Holocaust-Literatur besinnen, wenn wir uns als Neutestamentlerinnen und Neutestamentler an die Kreuzigungsbilder von Marc Chagall oder Samuel Bak erinnern oder den wirkungsgeschichtlichen Spuren des Kreuzesschreis im 20. Jahrhundert nachspüren, dann sollten wir uns der Problematik dieser Verbindungen so bewusst wie möglich sein.3
Dieser dritte Teil meiner Arbeit ist schliesslich auch der Versuch, zwei Figuren besser zu verstehen, denen ich auf den zurückliegenden Seiten bereits begegnet bin: Die eine Figur ist Romain Garys nackter, schon halb toter Jesus, der durch einen deutschen Wald der Nachkriegszeit eilt und vor einem Mob deutscher Bürger flieht; die zweite Figur ist Charlotte Delbos gekreuzigter Christus, dessen prominentes Leiden und Sterben so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, dass eine christlich geprägte Gesellschaft für die Opfer von Auschwitz keine Tränen mehr übrig hat.
1. Exegese und Intertextualität von Mk 15,34 / Mt 27,46
1.1 Ein exegetischer Befund
Auf welche Weise dient Psalm 22 dazu, den Tod Jesu am Kreuz zu erzählen? Dieser Frage sind Exegetinnen und Exegeten in den letzten Jahrzehnten mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen nachgegangen. Noch in den 1960er Jahren entwickelte Hartmut Gese sein formkritisch orientiertes Argument, dass mit Vers 2 der gesamte Psalm als Deutungsmuster für die Kreuzigung zum Wirken käme, vor allem die in den Ausgangsversen des Psalmes formulierte Vision des einbrechenden Gottesreiches.4 An Geses These wird in der exegetischen Literatur bis heute immer wieder erinnert. Jedoch legen viele Autorinnen und Autoren in ihren Analysen der Kreuzigungserzählungen bei Markus und Matthäus den Schwerpunkt auf das Motiv der Gottverlassenheit. Beispielsweise nennt Johannes Heidler Mk 15,34 einen „Gebetsschrei“, der im Rahmen der markinischen Kreuzestheologie als ein „Ausdruck radikalen Elends bis hin in die Gottesbeziehung hinein“ verstanden werden muss. Gleichzeitig – so Heidler – klage Jesus mit seinem Schrei die Nähe Gottes ein.5 Sowohl Raymond Brown als auch Ulrich Luz sind skeptisch gegenüber der These, dass mit dem Zitat von Ps 22,2 die hoffnungsvolleren Töne des Psalms mitklängen. Brown nennt Mk 15,34 / Mt 27,46 einen „screamed protest against abandonment wrenched from an utterly forlorn Jesus.“6 Ulrich Luz beschreibt Mt 27,46 als einen in der Psalmsprache gekleideten Ausdruck des Leidens und der inneren Verlassenheit gegenüber einem ins Dunkle gehüllten Gott.7 Ganz anders analysiert Vernon Robbins den Bezug zwischen der markinischen Kreuzigungserzählung und Psalm 22. Nach seinen Beobachtungen untergräbt der markinische Text die Rhetorik des Psalmes.8 Der Psalm wird durch das Motiv der Gottverlassenheit eröffnet, um danach einer Rhetorik der Zuversicht und Hoffnung Platz zu machen. Im Gegensatz dazu stellt die Gottverlassenheit bei Markus den Schlusspunkt in der Reihe der Psalm-Motive dar. Aus Robbins Sicht wird damit bei Markus die Botschaft des Psalms auf den Kopf gestellt. Stephen Ahearne-Kroll hört in Jesu Schrei einen Ausdruck der Empörung, mit dem Jesus – ähnlich wie König David – Gott zum Handeln auffordere.9 Für Holly Carey, die den Bezug zwischen Mk 15,34 und Ps 22,2 mithilfe einer narrativen Analyse des gesamten Markusevangeliums liest, deutet das Psalm-Echo die bevorstehende Rechtfertigung und Auferstehung Jesu an.10 Viele Autorinnen und Autoren fragen ausserdem nach der Beziehung zwischen Mk 15,34 / Mt 27,46 und jenem Schrei, den Jesus nach Matthäus und Markus mit lauter Stimme (φωνὴν μεγάλην) schreit, bevor er stirbt (Mk 15,37 / Mt 27,50).11
In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden vermehrt Theorien der Intertextualität herangezogen, um die Beziehung zwischen den Kreuzigungserzählungen und Psalm 22 zu untersuchen. „Intertextualität“ ist bekanntlich ein schillerndes Konzept.12 Je nach theoretischer Orientierung eines Autors oder einer Autorin führt der intertextuelle Charakter dieser Verse deswegen auch zu unterschiedlichen Forschungsfragen. Ahearne-Kroll arbeitet beispielsweise mit einer „poetics of allusion“, um die verschiedenen Echos oder Anspielungen zwischen dem markinischen Text und Psalm 21 der LXX wahrzunehmen und zu deuten. Dabei leitet ihn vor allem die Einsicht, dass eine knappe literarische Anspielung bei Lesenden einen grösseren Textzusammenhang in Erinnerung rufen kann.13 Ahearne-Kroll orientiert sich dabei an den historischen Verstehensbedingungen der ersten Leserinnen und Leser des Markusevangeliums. Trotzdem weist er darauf hin, dass die Lesart, die er zur Diskussion stellt, letztlich seine eigene ist: die Lesart eines modernen Bibelkritikers.14 Dagegen ist Holly Careys Studie zu Jesu Kreuzesschrei der ambitiösen Frage verpflichtet, wie Leser und Leserinnen im ersten Jahrhundert den intertextuellen Bezug zwischen Evangelien und Psalm verstanden haben.15 Die Intertextualität von Mk 15,34 ist für sie also ein Phänomen des ersten Jahrhunderts, das die moderne Kritikerin unabhängig vom eigenen Standort beschreiben kann. Vernon Robbins plädiert dafür, intertextuelle Untersuchungen zur markinischen Kreuzeserzählung für ausserkanonische Quellen zu öffnen. Wenn wir verstehen wollen, welche Bedeutungsdimensionen die Kreuzeserzählung im frühen Christentum hatte, müssen wir sie – Robbins zufolge – in den Horizont der vielfältigen Diskurse stellen, die die damalige Kultur prägten.16 Für Ulrich Luz, der Ps 22,2 ebenfalls als Intertext der matthäischen Kreuzigungserzählung begreift, liegt der Schwerpunkt in der bis in die Gegenwart reichende Wirkungsgeschichte dieser innerbiblischen Verknüpfung.17
Die Forschenden sind sich schliesslich auch nicht einig darüber, welche Art der interpretativen Arbeit den Lesenden durch das Psalmzitat zugeschoben wird. Werden Lesende aufgefordert zwischen Psalm und Kreuzigungserzählung Ähnlichkeiten zu suchen und Identifikationen herzustellen? Oder werden die Bedeutungen der Texte durch die gegenseitige Verknüpfung verändert und womöglich subversiv umgedeutet, wie Robbins vermutet? Bes...