Wer mein Nächster ist, entscheide ich!
Zur Psychologie des Verhältnisses von Religiosität und Vorurteilen
Constantin Klein
Der Faustkeil
ist nicht deshalb schlecht
weil er als Waffe gebraucht
Unheil bewirkt – nein!
Er ist schlecht
weil er dir gehört
und nicht
mir.
Jan C. Valk, „Ende der Urzeit“
Abstract
Viele empirische Studien belegen, dass Religiosität in einem positiven statistischen Zusammenhang mit einer stärkeren Vorurteilsneigung, v. a. gegenüber Angehörigen anderer religiöser oder weltanschaulicher Gruppierungen, steht. Die meisten Studien haben sich dabei auf Stichproben mit mehrheitlich christlicher Prägung konzentriert und deren antisemitische und islamophobe Vorurteile untersucht. Warum aber unterliegen Christen anscheinend dieser Tendenz, Vorurteile gegenüber Angehörigen der anderen abrahamitischen Religionen auszubilden? Der vorliegende Buchbeitrag gibt zunächst einen kurzen Überblick über die Befunde empirischer Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Religiosität und interreligiösen Vorurteilen. Daran anschließend werden grundlegende psychologische Mechanismen der Vorurteilsbildung dargestellt, um besser nachvollziehen zu können, auf welche Weise, unter welchen Umständen und warum Vorurteile eigentlich entstehen. Sodann werden diese Mechanismen in Beziehung zu Religiosität im Allgemeinen und zu bestimmten Dimensionen von Religiosität gesetzt, um zu verstehen, welche Formen der religiösen Orientierung besonders anfällig dafür sind, Vorurteile gegenüber anderen Religionen und auch weiteren Outgroups auszubilden. Abschließend wird auf der Grundlage weiterer empirischer Befunde diskutiert, inwieweit auch religiöse Orientierungen existieren, die mit geringerer Vorurteilsneigung assoziiert sind und deshalb möglicherweise sogar dem Aufkommen interreligiöser Vorurteile entgegenstehen können.
1. Zur Einführung
Innerhalb der empirisch-psychologischen Auseinandersetzung mit Religiosität ist immer wieder festgestellt worden, dass höhere Religiosität grundsätzlich mit einer erhöhten Bereitschaft verbunden zu sein scheint, bestimmte Menschengruppen und insbesondere weltanschaulich und religiös Andersdenkende abzuwerten.1 Im Bereich interreligiöser Einstellungen wurden bisher im Gefolge des Holocaust v. a. Vorurteile gegenüber Juden2 und, verstärkt seit dem 11. September 2001, gegenüber Muslimen3 erforscht. Die meisten der bisher vorliegenden Befunde stammen aus den USA und Europa und stützen sich auf Befragungen von christlich dominierten Kollektiven, unter denen sich wiederholt antisemitische4 und islamophobe5 Einstellungen vorfinden ließen. Erst in den letzten Jahren sind auch einige Studien publiziert worden, die anteilig auch die Einstellungen von in Deutschland lebenden Muslimen gegenüber den hier lebenden Christen und Juden thematisieren.6 Studien aus anderen Regionen als Europa und Nordamerika, zum Beispiel zu den gegenseitigen Einstellungen von Juden und Muslimen in Israel7 oder von Christen und Muslimen im Libanon8 und zu weiteren Religionsgemeinschaften, zum Beispiel zum Verhältnis von Hindus und Muslimen in Indien,9 finden sich inzwischen ebenfalls zunehmend häufiger in der Fachliteratur. Allerdings liegen in diesen Fällen zumeist noch nicht genügend Untersuchungen vor, um ein differenziertes, empirisch umfassend gesichertes Bild zu vermitteln. Insofern beziehen sich die nachfolgend v. a. unter 3. und 4. berichteten empirischen Untersuchungen zu Religiosität und Vorurteilen durchweg auf Einstellungen von Stichproben, deren Religiosität christlich geprägt ist gegenüber bestimmten Menschengruppen, insbesondere Juden und Muslimen. Wir möchten darum bitten, sich dieser Einschränkung bei der Lektüre des weiteren Texts bewusst zu bleiben.
(Christliche) Religiosität trägt also, so scheint die grundlegende Tendenz zu sein, zur Ausbildung von Vorurteilen bei, und dies wird von zeitgenössischen Religionskritikern auch allenthalben als Argument gegen jede Art von Religiosität ins Feld geführt.10 Gerade weil dieses vermeintlich klare Bild dazu verlockt, in ideologischen Debatten der Gegenwart zur Untermauerung der eigenen Position in Stellung gebracht zu werden, ist es sinnvoll, das Verhältnis von Religiosität und abwertenden Einstellungen gegenüber Angehörigen anderer religiöser oder weltanschaulicher Gemeinschaften genauer zu betrachten. Dazu ist es unter 2. zunächst erforderlich, sich mit den Ursachen und Charakteristika von Vorurteilen auseinanderzusetzen, um in einem weiteren Schritt danach zu fragen, in welcher Wechselbeziehung Religiosität allgemein bzw. bestimmte Formen der religiösen Orientierung zur Vorurteilsbildung stehen (3.). In einem dritten Schritt lässt sich dann weiter fragen, welche religiösen und weltanschaulichen Orientierungen abwertenden Einstellungen möglicherweise auch entgegenstehen – und deswegen im Interesse eines friedlichen Miteinanders der Religionen befördert werden sollten (4.).
2. Zur Entstehung von Vorurteilen
2.1 Stufen der Vorurteilsbildung
Das Zustandekommen von Vorurteilen lässt sich als ein Prozess dreier kognitiver Operationen beschreiben.11 Die erste Stufe bildet dabei die Kategorisierung. Die Vielfalt und ständige Veränderung unserer Welt ist für uns nicht in vollem Umfang durchschaubar; um uns darin orientieren und verhalten zu können, benötigen wir Kategorien, mittels derer wir sie uns kognitiv aneignen können. Solche Kategorien entstehen jedoch nicht aus sich selbst heraus, sondern sind das Ergebnis von Kategorisierungen, d. h. von Einteilungen, die wir anhand spezifischer Merkmale vornehmen (indem wir beispielsweise Menschen aufgrund ihrer Reflexions- und Sprachfähigkeit, ihres aufrechten zweibeinigen Gangs, ihrer Fähigkeit zur Ausbildung komplexer Sozialstrukturen und zur extensiven Kulturproduktion und weiterer Merkmale kategorial von Tieren unterscheiden, wiewohl der Homo sapiens biologisch gesehen nur eine Säugetierspezies unter vielen darstellt). Auch verschiedene Gruppen von Menschen werden von uns anhand von Kategorisierungen unterschieden; das geläufigste Beispiel hierfür ist die Einteilung in die beiden Geschlechtskategorien Mann und Frau (unter Absehung von Phänomenen wie der Intersexualität, dem anteiligen Vorhandensein sowohl von männlichen als auch von weiblichen Geschlechtsmerkmalen). Es wird hier bereits deutlich, dass mit Kategorisierungen immer Vereinheitlichungen vorgenommen werden, die der realen Vielfalt der Phänomene nur unzureichend gerecht werden.
Diese Tendenz setzt sich fort auf der zweiten Stufe des kognitiven Prozesses, der der Vorurteilsbildung zugrunde liegt, der Stereotypisierung. Damit ist gemeint, dass wir, aufbauend auf der Identifikation von Gruppen anhand von Kategorisierung, Personen, die wir einer bestimmten Gruppe zugeordnet haben, dieselben Eigenschaften zuschreiben („Attribution“). Stereotypisierung meint also eine Generalisierung von Merkmalen, die allen Mitgliedern einer Gruppe zugeschrieben werden; ungeachtet davon, ob der oder die Einzelne die betreffenden Eigenschaften tatsächlich aufweist. In seinem Lehrbuch zur Sozialpsychologie führt Elliot Aronson dazu ein Beispiel aus dem Bereich der Religion an:12 Zwei Männer, ein Protestant und ein Katholik, sehen, wie ein katholischer Priester ein Bordell betritt. Der Protestant grinst überheblich, als er an die Heuchelei der katholischen Kirche und ihrer Vertreter denkt. Der Katholik hingegen strahlt über das ganze Gesicht vor Stolz, dass das caritative Engagement seiner Kirche selbst vor dem gesellschaftlichen Abseits nicht halt macht. Es ist ersichtlich, wie stark sowohl der Protestant als auch der Katholik entsprechend ihrer vorgeprägten Denkmuster die Situation interpretieren und dem Priester eine Intention gemäß ihrer Stereotypen zuschreiben: Für den Protestanten sind Katholiken pauschal Frömmler mit fragwürdiger Moral, für den Katholiken hingegen bedeutet die Religiosität „seiner“ Gemeinschaft praktizierte Nächstenliebe. Das Beispiel illustriert nicht allein das Phänomen der Stereotypisierung, sondern macht auch deutlich, wie stark die Stereotypen davon abhängen, ob sie eine fremde Gruppe („Outgroup“) betreffen oder aber die eigene („Ingroup“). Während wir dazu neigen, die tatsächlich vorhandene Heterogenität von Fremdgruppen zu reduzieren und sie als gleich wahrzunehmen – man denke an die „stereotype“ Redewendung: „Die sind doch eh’ alle gleich!“ –, nehmen wir die Mitglieder unserer Ingroup als recht unterschiedlich wahr.
Allerdings münden nicht alle Formen stereotypen Denkens unweigerlich in Vorurteile ein.13 Dies geschieht erst im Zuge der dritten Stufe des kognitiven Prozesses, der der Vorurteilsbildung zugrunde liegt, der Bewertung. Durch Bewertungen erfahren die vorgenommenen Stereotypisierungen eine Valenz, werden also positiv oder negativ beurteilt, was üblicherweise auch mit positiven oder negativen Empfindungen verbunden ist (affektive Komponente von Vorurteilen). Eine Bewertung impliziert also noch nicht zwingend eine Abwertung; neben klar negativ bewerteten Stereotypen („faule Ausländer“) finden sich auch zahlreiche Beispiele für positiv („coole Amis“) oder zumindest ambivalent („heißblütige Latinos“) bewertete Stereotype. Im weiteren Sinne stellen positiv wie negativ verzerrte Wahrnehmungen von Gruppen Vorurteile dar; und tatsächlich beeinflussen auch positive Vorurteile das menschliche Verhalten nicht unwesentlich. Für die Betreffenden bringen positive Vorurteile in aller Regel allerdings keine Nachteile, weswegen sich die sozialpsychologische Forschung zumeist stär...