Teil II: Systematische Annäherungen an die Interkulturalität des Christentums
Den Skizzen für einen fundamentaltheologischen Entwurf einer interkulturell betriebenen Theologie ist der zweite Hauptteil dieser Arbeit gewidmet. Er greift damit produktiv auf jene theologischen Problemfelder zu, die für christliche Gottesrede durch ihre Pluralisierung aufbrechen, und denen im ersten Hauptteil in ihrem theologiegeschichtlichem Entdeckungszusammenhang nachgegangen wurde.
In zwei Narrativen wird dabei der Interkulturalität des Christentums nachgedacht: sowohl ein postkolonial informierter Identitätsbegriff nach dem Cultural Turn (1) als auch ein posthermeneutisch entworfener theologischer Zugriff (2) verweisen christliche Identität auf fremde und plurale Orte, an denen sich Theologie im Modus gebrochener und differenzierter Partikularität formuliert. Der Problemdruck, der sich durch die Problematisierung christlicher Identität nach dem Cultural Turn für christliche Gottesrede aufdrängt, wird damit zum theologischen Lösungsansatz – nach dem Cultural Turn wird Theologie interkulturell entworfen (3): die Differenzen, die sich durch ihre Interkulturalität in christliche Identität einschreiben, können – nicht in ihrer Ausblendung, sondern in einer produktiven Reflexion – den unhintergehbaren hermeneutischen Entzug jeder Gottesrede sichtbar machen und offenhalten.
1. Christliche Identität: nach dem Cultural Turn
1.1 Turning Cultural
Das Projekt Theologie interkulturell ist der Versuch, die Interkulturalität des Christentums theologisch zu reflektieren. An seinem Beginn stehen Erschütterungen, die den historischen Entdeckungszusammenhang eines systematischen Problemaufrisses bilden: Seine Entwicklung antwortet auf die Entstehung Kontextueller Theologien im außereuropäischen Raum, die wiederum eine Reaktion auf den Zusammenbruch des Kolonialismus sind, und die postkoloniale Situation theologisch verarbeiten. Diese theologiegeschichtliche Problemkonstellation verortet sich damit in einer global wirksam werdenden Umbruchsituation mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Umstellungen, die auch zu epistemologischen Rekonfigurationen führt. Mit ihrer Unabhängigkeit werden die ehemaligen europäischen Kolonien und ihre Beziehungen zu den ‚Mutterländern‘ unter neokolonialen Bedingungen nicht nur geografisch, politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich neu organisiert; auch kulturell werden ihre Identitäten im Rückgriff auf präkoloniale ‚invented traditions‘ neu verhandelt.291 Diese imagined communities des Postkolonialismus werden in bewusster Abgrenzung zu den kolonialen Identitätszuschreibungen konstruiert und verschieben damit das Ineinander von Fremd- und Selbstkonstruktion, das die kolonialen Diskurse dominiert. Die Pluralität von Kulturen, die unter kolonialen Machtverhältnissen mit diskursiven Hierarchisierungen ausgeblendet und gewaltvoll unterdrückt oder beseitigt wurde, wird unausweichlich. Dieses Aufbrechen kultureller Alterität, die nicht mehr beherrscht werden konnte, erschüttert weit mehr als nur die militärische Macht und politische Dominanz der ehemaligen Kolonialmächte. Vielmehr wird die Kultur Europas (die in diesem Singular ein Konstrukt ist, das die Pluralität europäischer Lebensformen unterschlägt) durch den ‚Einbruch des Fremden‘ an ihre Grenzen gestoßen:
„Diese Wiederentdeckung [der Pluralität und Diversität der Kulturen] bedeutet für die abendländische Kultur den Beginn eines schwierigen Prozesses der Selbstentdeckung, nämlich: sich als eine Kultur unter anderen zu verstehen.“292
Diese Erschütterung der europäischen Selbstkonstruktion produziert im Inneren des Abendlandes
„eine explosive Situation, eine unwiderstehliche Pluralisierung nicht nur verglichen mit anderen kulturellen Universen, sondern auch in seinem Inneren“293.
Der Prozess der Fragmentierung und der Freisetzung der Unterschiede legt die Kontingenz und Geschichtlichkeit der europäischen Kultur offen. Nicht nur ihre Konstruktion kultureller Identität wird dadurch problematisiert; vielmehr deckt kulturelle Alterität die kulturelle Kontingenz jeder Wirklichkeitskonstruktion auf und legt damit die Grenzen des Wissens frei.294 Vor diesem Hintergrund wird die Herstellung von Eindeutigkeit und Homogenität als das Strukturmerkmal der Meistererzählung der Moderne über sich selbst sichtbar. Die Entdeckung der Pluralität der Kulturen, die nie eine ‚harmlose Übung‘ (Paul Ricoeur) ist, stellt so die Denkvoraussetzungen der europäischen Moderne in Frage. Sie unterläuft eine als allgemein gültig angenommene Rationalität, eine souverän gesetzte Subjektivität und universal konzipierte teleologische Metaerzählungen. Nicht nur durch Brüche im Inneren, sondern gerade auch durch Erschütterungen von außen werden damit die Grenzen des Projekts der Moderne aufgezeigt. In dieser Schnittstelle von innen und außen werden poststrukturelle und postkoloniale Theorien und Methoden in wechselseitiger Bezogenheit als Bruch mit den Konditionen europäischen modernen Denkens entworfen – in ihrer Kritik am Eurozentrismus des modernen Diskurses finden Postkolonialismus und Poststrukturalismus ihre gemeinsame Genealogie.295
Ihre Dekonstruktionen bieten eine kritische Perspektive auf den Diskurs der Moderne, sie zeigen in Genealogien die Interessen seiner Identitätskonstruktionen auf. Jedoch wird nicht versucht, über diese kritische Dekonstruktionen hinaus eine ‚neue‘, neutrale Darstellung zu entwerfen. Im Gegenteil, gerade in Abgrenzung zur Moderne beruht ein kritisches Denken (nach) der Moderne auf der Unmöglichkeit dieser Neutralität und zielt auf die Offenlegung von Machtinteressen in Narrativen der Objektivität. Anstatt neue Metaerzählungen zu entwerfen, wird die unhintergehbare Verflechtung von Wissen und Identität in Diskurse offengelegt und entlang ihrer Differenzen zu ihrem Außen und ihrer internen Pluralität die Partikularität von Wissens- und Denkformen rekonstruiert: Dekonstruktion
„is not the exposure of error. It is constantly and persistently looking into how truths are produced.“296
Die kritische Perspektive der poststrukturellen und postkolonialen Dekonstruktionen zeigt retrospektiv die Kontingenz und Parteilichkeit der Identitätsdiskurse auf und legt das jeweils Verschwiegene und Vergessene, das ihnen als „seeds of subversion“297 in ihre Brüche und Lücken eingeschrieben ist, frei. Dieses kritische Potential poststruktureller und postkolonialer Theorien führt keineswegs zu einem Relativismus, der eine Gleich-Gültigkeit und Beliebigkeit von Wissenstexten und Identitätsformulierungen implizieren würde. Im Gegenteil, die Dekonstruktion von Essenzialismen und des Korrespondenzmodells von Sprache und Wirklichkeit verweist auf die Unhintergehbarkeit von Sprache. Die Dekonstruktionen machen Texte298 unausweichlich, weil Texte nicht nur als Abbild der Wirklichkeit gesehen werden, sondern als der einzige Zugang zur Realität. Sie sind Sprachversuche, die im Rückgriff auf das semiotische Repertoire eines Kontextes Zugänge zur Wirklichkeit schaffen. In dieser Wechselwirkung bilden Texte – und damit die Medialisierungen von diskursiven Praktiken – Realität nicht einfach ab, sondern verhandeln, formen und schreiben Identität fest:
„The text is both the product of and productive of distinctive identities“299.
„Il n’y a pas de hors-texte“300 – mit dieser Absage an eine Realität jenseits des Textes wird der Zugriff der Texte auf die Realität nicht nivelliert, sondern im Gegenteil ihre realitätskon-stitutive Funktion im epistemischen Verhandeln von Wirklichkeitsinterpretationen radikal ernstgenommen. Gerade weil der Wahrheitsgehalt von Texten nicht an einer außerhalb ihrer existierenden Wirklichkeit gemessen werden kann, sind sie nicht beliebig und austauschbar, sondern werden zu unhintergehbaren Koordinaten im V/Ermessen von Wirklichkeit. Die Diskursivität dieser Texte – ihr unhintergehbarer Rückgriff auf die Zeichen eines Diskursfeldes, die erst in je neuen Differenzierungen ihre Bedeutung entwickeln – macht einen für sie erhobenen Absolutheitsanspruch unhaltbar: ihre Bedeutung kann nicht losgelöst, absolut von ihren sich stets verschiebenden semiotischen Kontexten verhandelt werden und ist damit kontingent und verstrickt in politische Interessen. In dieser Relativität fordern Identitätszuschreibungen je neu zur Kritik auf, aber diese Kritik erfolgt in der prekären Erkenntnis, nie ‚wirklich‘ zu einer objektiven Darstellung von Wirklichkeit vordringen zu können, sondern immer wieder von neuem auf Sprachversuche im unhintergehbaren Rückgriff auf diskursive Zeichensysteme zurückgeworfen zu sein.301
In diesem Linguistic Turn kristallisiert sich die (post)-strukturelle und postkoloniale Abwendung von den Epistemen der Moderne:
„Since traditional philosophy has been (so the argument goes) largely an attempt to burrow beneath language to that which language expresses, the adoption of the Linguistic Turn presupposes the substantive thesis that there is nothing to be found by such burrowing.“302
Als Absetzbewegung distanziert sie sich
„von jener Auffassung von Wissenschaft, die sich mehr über den Glauben daran definiert, die Richtigkeit oder Wahrheit ihrer Aussagen durch deren Übereinstimmung mit einer außersprachlichen ‚Tatsachen‘-Welt garantieren zu können, statt über die Einsicht in die Sprachgebundenheit aller, auch der wissenschaftlichen Erkenntnis.“303
Diese epistemologische Umstellung hebt entgegen der idealistischen Essenzialismen des modernen Projekts auf die diskursive Generierung und Verhandlung von Wissen und Erkenntnis in semiotischen Bedeutungssystemen ab. Die Verortung von Bedeutung in partikularen Zeichensystemen konterkariert die modernen Ideale von autonomer Subjektivität und objektiver Rationalität und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Materialität, Medialität und Performanz dieser Diskurse. Diese epistemologische Rekonfiguration firmiert sich als Cultural Turn zu einem neuen wissenschaftstheoretischen Paradigma304, das ein großes Potenzial an neuen Forschungsperspektiven freisetzt und in der Formierung von Kulturwissenschaften und cultural studies seit den 1960er Jahren seinen institutionalisierten Niederschlag findet.305
Der Cultural Turn expliziert die erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Konsequenzen des Linguistic Turn. Die Sprachförmigkeit der Erkenntnis – ihre Eingebundenheit in Zeichensysteme, die in Arbitrarität und Differenz der Zeichen untereinander Bedeutung generieren306 – verweist auf ihren semiotischen Charakter und impliziert damit die Kulturalität von Wissensformen. In Weiterführung der epistemologischen Umstellungen des Linguistic Turn und in einer Ausweitung des linguistischen Zeichenbegriffs auf einen semiotischen Kulturbegriff legt der Cultural Turn so die Kontextualität und Lokalität von Erkenntnis offen. Gegen den modernen Anspruch der Erkenntnis auf Universalität stellt er die plurale Partikularität von Bedeutungsproduktionen hervor307: die Zeichen, mit denen Wirklichkeit organisiert wird, tragen ihre Bedeutung nicht in sich, sondern können erst durch Interpretanten in konkreten Kontexten bedeutungsvoll werden.308 Ein gemeinsamer Habitus in der interpretativen Zuordnung von Signifikaten und Signifikanten und den damit diskursiv gezogenen Grenzen ko...