III Unterstützen
1 Leitperspektive Ressourcenaktivierung
In der Sozialen Arbeit, Gemeindepsychologie oder Rehabilitation zählt es heute zum guten Ton, von den Ressourcen eines Klienten auszugehen und diese zugrunde zu legen, wenn es um assistierende, therapeutische oder pädagogische Hilfen geht. In der Tat hat sich die Aktivierung von persönlichen Ressourcen, zum Beispiel von Stärken, Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Begabungen, Talenten, Vorlieben, Kenntnissen, Interessen, Potenzialen sowie Eigenschaften wie Humor oder prosoziales Verhalten, als ein positiver Wirkfaktor im Rahmen psychosozialer und pädagogischer Unterstützungsleistungen empirisch bestätigt, dessen Bedeutung zudem neurowissenschaftlich nachgewiesen werden kann (vgl. Grawe & Grawe-Gerber 1999; Grawe 2004).
Allein daher, aber ebenso angesichts der spezifischen Erkenntnisse aus der modernen Autismusforschung (
Kap. I/2), ist es uneingeschränkt zu unterstützen, wenn autistische Personen auf ihre Stärken aufmerksam machen und sich gegen die bisher weit verbreitete Defizitzuschreibung wenden. Hierzu möchte ich stellvertretend für viele andere Schuster (2007, 326) zitieren:
»Für mich ist mein Autismus ist keine Krankheit, die es zu heilen gilt… Menschen, die wie autistische Menschen ›anders‹ sind, machen unsere Gesellschaft erst bunt und interessant… Leider definiert man ihre Andersartigkeit in erster Linie über negative Attribute… Es werden Stärken ausgeblendet und Schwächen überbetont.«
Dieser Position, die autismusspezifische Probleme nicht grundsätzlich leugnet (vgl. dazu Theunssen & Paetz 2011, 96 f.), haben sich seit geraumer Zeit renommierte Persönlichkeiten und Wissenschaftler wie O. Sacks oder T. Atwood angeschlossen, deren Arbeiten gleichfalls wie anekdotische Berichte oder Autobiographien autistischer Personen der neurotypischen Bezugs- und Mitwelt die Augen öffnen, wenn Stärken-Kataloge (vgl. Dern 2008, 2 f.; Attwood & Gray 1999, 2 f.) oder Eigenschaften wie zum Beispiel Zuverlässigkeit, Loyalität, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Vorurteilsfreiheit gegenüber Geschlecht, Alter oder Kultur, Durchhaltevermögen, Genauigkeit, logisch-mathematisches Denken, visuelles Denken, Spezialwissen, enzyklopädisches oder ›CD-ROM‹-Wissen, außergewöhnlich gutes Gedächtnis, spezielle künstlerische Fähigkeiten oder außergewöhnliche Wahrnehmungsleistungen herausgestellt werden (vgl. auch Theunissen & Paetz 2011, 25 f., 86). Manche dieser Eigenschaften, die eine autistische Person besonders wertschätzt, werden dem Anschein nach von Eltern, Fachkräften oder anderen neurotypischen Personen eher selten gewürdigt, häufig zu selten beachtet oder respektiert (Sacks 2000, 398 f.; dazu auch Theunissen 2013a, 235 f.).
Das betrifft gleichfalls die Spezialinteressen (special interest areas) autistischer Menschen (vgl. Attwood 2005, 102; Klin et al. 2007). Interessant ist diesbezüglich die Beobachtung und Erkenntnis von Winter-Messiers und Kolleginnen (2007, 67), dass Betroffene im Rahmen ihrer Beschäftigung mit Spezialinteressen gerade in jenen Bereichen zu persönlichen Stärken gelangen können, die üblicherweise als defizitär betrachtet werden (vgl. Theunissen & Paetz 2011, 26 ff.).
So sind zum Beispiel autistische Personen eher bereit (motiviert), sich mit anderen Personen zu unterhalten und auf andere zuzugehen, wenn sie direkt auf ihre Spezialinteressen angesprochen werden (vgl. ebd.). Baker, Koegel und Koegel (1998) berichten über positive soziale Effekte (gemeinsame Aktivitäten), wenn leidenschaftliche Vorlieben (Interessen) autistischer Kinder im Rahmen einer »Spielphase« beziehungsweise beim Spiel berücksichtigt werden.
Die leidenschaftliche Liebe für Spezialinteressen fordert aber nicht nur zu sprachlicher Kommunikation und sozialer Interaktion heraus, sondern sie kann ebenso eine Brückenfunktion für nonverbale Botschaften und Kommunikationen haben. Das betrifft insbesondere autistische Menschen, die sich nicht oder kaum sprachlich äußern (können), uns aber über Bildwerke persönlich bedeutsame Dinge symbolhaft mitteilen und damit soziale Kommunikation aufsuchen (vgl. dazu ausführlich Theunissen & Schubert 2010). Spezialinteressen wie vor allem das Malen von Bildern ermöglichen zudem psychische Kompensation durch eine unbewusste Verarbeitung emotionaler Konflikte, Ängste oder affektiver Störungen. Ferner konstatieren Winter-Messiers et al. (2007, 72) günstige Effekte durch die Beschäftigung mit Spezialinteressen in Bezug auf positive Emotionen, Selbsterleben, Selbstzutrauen, Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und Stolz. Des Weiteren können sich Spezialinteressen auf die Ausbildung sachbezogener Methoden- oder Handlungskompetenz (exekutive Funktionen) vorteilhaft auswirken und damit für eine passende berufliche Tätigkeit wegbereitend sein. Das führt uns zum Beispiel Grandin (vgl. Grandin 1997; 2005; Grandin & Scariano 2005; auch Sacks 2000) vor Augen, die einst als Schülerin von Vorrichtungen zum Festhalten von Vieh fasziniert war und ausgehend von diesem Spezialinteresse sich wissenschaftliche Methoden aneignete, um später selbst Anlagen zur Tierhaltung zu entwerfen und Pläne für eine tiergerechte Viehzucht zu entwickeln. Damit ist sie heute berühmt geworden und gilt als führend auf diesem Sachgebiet.
Alles in allem legt meine Argumentation den Schluss nahe, dass die Stärken-Perspektive und Würdigung von Spezialinteressen im Sinne einer Ressourcenaktivierung (Grawe) nicht hoch genug eingeschätzt werden kann; und wohl bemerkt:
»Alle Menschen haben eine Vielzahl von Talenten, Fähigkeiten, Kapazitäten, Fertigkeiten und auch Sehnsüchte… Die Präsenz dieser Kapazitäten für erhöhtes Wohlbefinden muss respektiert werden… Menschen wachsen nicht durch Konzentration auf ihre Probleme – im Gegenteil, dadurch wird das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, sich auf selbstreflektierende Weise zu entwickeln, geschwächt« (Weick et al. 1989, 352 f.).
Genau über diese Erfahrung berichtet unter anderem Williams (o. J.): »Jeden Tag hat man etwas gemacht, was nicht gut war, nicht normal, nicht richtig.« Solche alltäglichen Erfahrungen sind frustrierend und ein fruchtbarer Boden für Verhaltensweisen (Bewältigungsstrategien als Selbstschutzmechanismen), die üblicherweise als psychisch auffällig oder gestört wahrgenommen und als behandlungsbedürftig eingeschätzt werden.
Ihre prominente Wirkung im Hinblick auf Wohlbefinden, psychisch Gesundheit, Lebenszufriedenheit und Lebensverwirklichung gewinnt die Ressourcenaktivierung allerdings erst dann, wenn ein Zusammenspiel individueller und sozialer Ressourcen statthat.
Soziale Ressourcen können Familien, Angehörigennetze, Freundeskreise, Selbsthilfegruppen, Nachbarschaften, professionelle Dienste oder andere informelle Netzwerke in einem Sozialraum sein (
Kap. II/2), wenn diese von der zu unterstützenden Person als valide, ventilatorisch und halt gebend erlebt werden.
Zudem ist der Begriff der sozialen Ressource mit einem materiellen Vermögen eng verbunden, wie zum Beispiel in den Naturwissenschaften, in der Geologie oder im Bergbau, wo Ressourcen als Rohstoffe, Boden oder Energie bezeichnet werden. In den Wirtschaftswissenschaften werden Güter, Betriebsmittel oder Geld als Ressourcen ausgewiesen; und in der Sozialen Arbeit oder Behindertenhilfe wären technische Hilfsmittel (Ablaufpläne, Bildkarten, PC, Internet etc.), günstige infrastrukturelle und räumliche Bedingungen oder Gestaltung eines Arbeitsplatzes materielle Ressourcen, wenn sie – mit Blick auf unser Thema – für eine autistische Person »passend« (i. S. e. person-environment fit) wären. Folglich werden unter dem Begriff der Ressourcen sowohl positive Personpotenziale (individuelle Ressourcen) als auch Umweltpotenziale (soziale und materielle Ressourcen) gefasst,
»die von der Person (1) zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse, (2) zur Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben, (3) zur gelingenden Bearbeitung von belastenden Alltagsanforderungen sowie (4) zur Realisierung von langfristigen Identitätszielen genutzt werden können und damit zur Sicherung ihrer psychischen Integrität, zur Kontrolle von Selbst und Umwelt sowie zu einem umfassenden biopsychosozialen Wohlbefinden beitragen« (Herriger 2006, 89 (kursiv im Original)).
Genau an dieser Stelle knüpfen die folgenden Ausführungen an, die sich auf Fragen der pädagogischen Unterstützung beziehen. Der Begriff der Unterstützung steht wie der Parallelbegriff der Assistenz (vgl. Duden 1997, 48) im Sinne des Empowerment-Konzepts für eine neue Kultur des Helfens, die sich von einem Paternalismus oder einer Betreuungsmentalität verabschiedet hat und an den Ressourcen eines Menschen orientiert (vgl. Lenz 2011). Idealerweise soll quasi kontrapunktisch zum traditionellen Helferverständnis in der Heilpädagogik, Pflege oder Therapie nicht die Fachkraft Regie führen, sondern die betroffene Person als Experte in eigener Sache. Menschen mit Körper- oder Sinnesbehinderungen bezeichnen dieses von ihnen favorisierte Modell als » persönliche Assistenz« (vgl. dazu Theunissen 2013a, 65 ff.), welches ohne Zweifel für viele Erwachsene im Autismus-Spektrum eine Option darstellt.
Allerdings dürfte es autistische Kinder und Personen mit hohem Unterstützungsbedarf (z. B. einer zusätzlich schweren kognitiven Beeinträchtigung) kaum erreichen und überfordern, weshalb es wichtig ist, sich über eine persönliche (v. a. lebenspraktische) Assistenz hinaus weitere assistierende Hilfen zu vergegenwärtigen (vgl. ebd.). Das betrifft eine »dialogische Assistenz«, die dem menschlichen Bedürfnis nach einer vertrauensvollen, verlässlichen und freundlichen Bezugsperson Rechnung zu tragen versucht; eine » advokatorische Assistenz«, bei der es stellvertretend (Ich-stützend) für die Person um eine Dolmetscher- und Fürsprecherfunktion geht; eine » sozialintegrierende Assistenz« mit dem Ziel, eine Person bei ihrem Bemühen um soziale Kontexte zu unterstützen beziehungsweise ihr soziale und gesellschaftliche Integrationshilfe (z. B. in Bezug auf Mitgliedschaft in einer Gruppe, einem Verein) zu leisten; eine » konsultative Assistenz«, die sich durch ein gemeinsames Beraten, Durchdringen von Lebensfragen oder Suchen nach Problemlösungen auszeichnet; eine » facilitatorische Assistenz«, die durch ein Arrangement von stimulierenden (Lern-)Situationen und Bereitstellung von Informationen Personen dazu anregen soll, aus sich selbst etwas zu machen; eine » lernzielorientierte Assistenz«, die strukturierte (Lern-)Hilfen oder auch systematische Unterstützung zur Aneignung Wissen, Handlungskompetenz und Fertigkeiten offerieren soll, ohne dabei atypische oder unkonventionelle Lernprozesse zu ignorieren; eine » intervenierende Assistenz«, die sich auf Krisen oder Notfallsituationen einer Selbst- oder Fremdgefährdung bezieht; eine » validierende Assistenz«, welche vor allem in der Altenarbeit mit dementen Personen hilfreich ist (vgl. dazu Theunissen 2012, 217 ff.).
Wenngleich die vorangegangene Skizze der assistierenden Hilfen an Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Autismus-Spektrum adressiert ist, beziehen sich Unterstützungsleistungen immer auf Personen in ihrem Umfeld. Das heißt, dass Eltern oder Familien gleichfalls Adressaten einer Unterstützung sein können, die stets persönliche, soziale und materielle Ressourcen zu beachten, gegebenenfalls zu eruieren und zu mobilisieren beziehungsweise eine Aufbau- und Stabilisierungshilfe zu leisten hat.
Wie wir uns dies vorstellen können, soll nunmehr in Bezug auf zentrale Bereiche wie frühe Hilfen, Schule, Arbeit und Wohnen im Erwachsenenalter aufgezeigt werden. Dabei werden von mir Beispiele, Erfahrungen und Möglichkeiten aufgegriffen, die vor dem Hintergrund der aktuellen Erkenntnisse, Positionen und Theoriediskussion, wie sie in Teil I und II dieses Buches vor Augen geführt wurden, als richtungs- und zukunftsweisend betrachtet werden können. Diejenigen, die bereits in dem skizzierten Sinne autistische Personen unterstützen, sollten die Ausführungen als Bestätigung, Wertschätzung und zugleich als Stärkung ihrer Arbeit betrachten.
2 Frühe Hilfen
Das Beispiel Jeff1
Die Geburt ihres Sohnes Jeff (heute 14 Jahre alt) sei wie bei seiner älteren Schwester normal gewesen. Allerdings habe er sich schon als Säugling anders als seine Schwester verhalten, zum Beispiel häufig die Nahrung verweigert oder nur passierte Bananenkost gegessen, Liebkosungen und Körperkontakt abgelehnt oder sich durch Zurücklehnen und Schreien geweigert, auf den Arm genommen zu werden, Arme steifgehalten, weggestreckt und weggeschaut, selten auf Ansprachen der Eltern oder seiner Schwester reagiert, sich nicht für andere (z. B. Schwester) interessiert, keinen Kontakt zu anderen Menschen aufgesucht, sich abgekapselt und zurückgezogen, erst spät mit etwa zwei Jahren laufen gelernt, sich nicht für »normales« Babyspielzeug (Rasseln, Kuscheltiere, Bilderbücher o. ä.) interessiert, aber glitzernde Dinge, Armreif, Halsketten, Alufolien oder Silberpapier »geliebt«, Lampen gerne an- und ausgeschaltet und später immer mit Lichtschaltern durch An- und Ausknipsen von Licht gespielt, wobei er nie völlig im Dunklen schlafen wollte, sondern es musste immer eine Nachtbeleuchtung an sein.
Als er mit zwei Jahren immer noch kein Wort sprach (heute spricht er Zwei-Wort-Sätze, kommuniziert jedoch am liebsten über Bildkarten und PC), machten sich seine Eltern Sorgen über seine Entwicklung und suchten einen Kinderarzt auf, der eine Entwicklungsverzögerung annahm und ihnen Hoffnung machte, dass sich Jeff noch »normal« entwickeln würde. Da aber kaum Entwicklungsfortschritte zu beobachten waren, folgten sie dem Rat einer Tante, sich an ein Regional Center (
Kap. II/2; auch Theunissen 2013b) zu wenden, welches für Kinder mit Entwicklungsbeeinträchtigungen (
developmental disabilities) spezialisiert sei und Unterstützung bei Entwicklungsverzögerungen anbieten könne.
Da Jeff bis zu dem Zeitpunkt noch nicht »richtig« – so seine Mutter – untersucht worden war, veranlasste die Psychologin des zuständigen Regional Centers im Norden des Großraums von Los Angeles zunächst ein diagnostisches Assessment (developmental screening and assessment). Hierzu wurden in einem diagnostischen Zentrum eine Anamnese (child development and medical history) erstellt, die Eltern befragt (nach CHAT (Baron-Cohen et al. 1992) und ADI-R (Lord et al. 1994)), gemeinsame Spiele mit Jeff, Spielbeobachtungen und Verfahren durchgeführt (z. B. ADOS-G (Lord et al. 1996); BOS (Freeman et al. 1978); ETHOS (Siegel 1991)), die alles in allem zu dem Befund führten, dass Jeff autistisch sei. Mit der Diagnose »Behinderung« (developmental disability) in Form eines Autismus (autism) w...