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Hauptteil II:
Doxologische Gestalten im Lebenszeugnis von
Madeleine Delbrêl
1. Einleitung
1.1 Hinführung
Im ersten Teil der Forschungsarbeit konnten verschiedene doxologische Erfahrungsorte im Alten Testament kennen gelernt und auf ihren Beitrag für das Verhältnis von Spiritualität und Pastoral befragt werden. Diese Fragestellung wird nun auch für die Begegnung mit dem Leben und Werk der französischen Mystikerin Madeleine Delbrêl (1904–1964) leitend sein: Welche Entdeckungen sind möglich, wenn ihre Glaubenserfahrung und -praxis unter dem Fokus der Doxologie wahrgenommen werden?
Das in der Einleitung entwickelte weite Doxologieverständnis wird auch für diesen Teil der Analyse Orientierung geben. In den Texten von Madeleine Delbrêl konkretisiert sich Doxologie vor allem als Vollzug der Verherrlichung (franz.: „glorification“/„glorifier“) und Anbetung (franz.: „adoration“/„adorer“) bzw. als Bezugnahme auf die Herrlichkeit/Ehre Gottes (franz.: „gloire“). Das Wort „Loben“ (franz.: „louange“/„louer“) verwendet Madeleine Delbrêl kaum. Es wird daher in der folgenden Analyse auch nicht eigens berücksichtigt. Wenn Madeleine Delbrêl auf die Verherrlichung und Anbetung Gottes zu sprechen kommt, tut sie dies in Texten, in denen sie sich mit ihrer eigenen pastoralen Erfahrung auseinandersetzt (z. B. im Kontext ihres missionarischen Engagements in einem atheistischen Umfeld) und nach Antworten des Glaubens sucht. Vollzüge der Verherrlichung und Anbetung können nur auf dem Hintergrund dieser historischen Erfahrung verstanden werden. Explizite Lobgebete, die z. B. mit einem alttestamentlichen Lobpsalm vergleichbar wären, fehlen ebenso wie grundsätzliche (systematisch-)theologische Abhandlungen über eine doxologische Gottesbeziehung. Dieser Befund gibt daher auch die Ressource und Grenze der folgenden Analyse vor.
1.2 Quellenlage und Forschungsüberblick
Die Quellen
Die literarisch begabte Madeleine Delbrêl bringt ihre Spiritualität und pastorale Erfahrung in zahlreichen Texten verschiedener Gattung und Länge zum Ausdruck. Die uns heutigen Leserinnen und Lesern zur Verfügung stehenden Quellen umfassen vor allem Vortragsmanuskripte, Artikel, Briefe, poetische Texte, Aphorismen und persönliche Notizen, die meist aus Anlass konkreter Anfragen und Erfahrungen entstehen.389 Neben ihrem Gedichtband „La Route“ (erschienen 1927)390 und ihren Texten zu Fragen der Sozialarbeit391 wird sie nur ein Buch zu ihren Lebzeiten selbst herausgeben („Ville marxiste, terre de mission“; deutscher Titel: „Auftrag des Christen in einer Welt ohne Gott“).392 Alle anderen Schriften liegen als Artikel in Zeitschriften vor oder wurden nach ihrem Tod in Sammelbänden veröffentlicht bzw. sind als noch unveröffentlichte Schriftstücke im Archiv Madeleine Delbrêl (11 Rue Raspail, Ivry-sur-Seine) zugänglich. Die folgende Analyse stützt sich vor allem auf die veröffentlichten Texte, greift aber auch auf eigene Recherchen im Archiv Madeleine Delbrêl zurück, wenn dies zur Verdeutlichung eines Gedankengangs bzw. zur Ergänzung nötig erscheint. Nur für einen Teil der Texte existieren deutsche Übersetzungen.393
Forschungsüberblick
Inzwischen liegt eine umfangreiche Sekundärliteratur zu Madeleine Delbrêl vor. Nur die wichtigsten Monographien, auf die in dieser Arbeit besonders zurückgegriffen wird, seien an dieser Stelle kurz vorgestellt: Christine de Boismarmin, eine der Gefährtinnen von Madeleine Delbrêl, entscheidet sich in ihrem 1985 publizierten Buch „Madeleine Delbrêl. Rues des villes chemins de Dieu 1904–1964“ für einen biographischen Zugang.394 Annette Schleinzer legt in ihrer Dissertation aus dem Jahr 1994 „Die Liebe ist unsere einzige Aufgabe. Das Lebenszeugnis von Madeleine Delbrêl“ eine theologische Deutung der Lebensgeschichte von Madeleine Delbrêl vor, indem sie im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils dogmatische und pastorale Perspektiven miteinander verknüpft.395 Marianne Heimbach-Steins verfolgt in ihrer Arbeit „Unterscheidung der Geister – Strukturmoment christlicher Sozialethik“ (1994) im Unterschied zu den oben genannten Monographien ein stärker systematisches, genauer sozialethisches Interesse und möchte das Zeugnis von Madeleine Delbrêl für eine theologische Fundierung christlicher Sozialethik fruchtbar machen. Als wesentliche Grundfigur des Handelns von Madeleine Delbrêl arbeitet sie hierbei die Kategorie der „Unterscheidung der Geister“ heraus.396
Katja Boehme wählt in ihrer Dissertation „Gott aussäen. Zur Theologie der weltoffenen Spiritualität bei Madeleine Delbrêl“ (1997) einen anderen konzeptionellen Ansatz:397 Sie analysiert die theologische Systematik, die dem Lebenszeugnis von Madeleine Delbrêl zugrunde liegt und entscheidet sich hierbei für vier Leitkategorien („Bekehrung“, „Leben aus dem Evangelium“, „christlicher Weltbezug in einem atheistischen Umfeld“ und „kirchliche Sendung“). An diesen zeigt sie das wechselseitige Erschließungsverhältnis von Theologie und Leben, von Glaube und Erfahrung bei Madeleine Delbrêl auf.398
In den oben genannten Monographien wird das Thema der Verherrlichung Gottes, wenn überhaupt, nur sehr am Rande erwähnt.399 Diese Lücke versucht die folgende Analyse zu schließen.
1.3 Die Biographie von Madeleine Delbrêl400
Madeleine Delbrêl (1904–1964) – eine französische Sozialarbeiterin an der Seite der Arbeiterschaft in der Banlieu von Paris und zugleich eine Mystikerin, die vor allem von einem Herzensanliegen getrieben war: Wie können Christinnen und Christen der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe in einem weltzugewandten, engagierten Leben Gestalt geben? Wie verbindet sich eine radikale Hingabe an Gott mit der ebenso radikalen Hingabe an die Menschen?
Nach dieser Einheit von Gottes- und Nächstenliebe sucht Madeleine Delbrêl nicht an einem Sonderort, z. B. in einem Kloster, sondern in einem ‚gewöhnlichen‘ Leben, dem normalen Leben des Alltags der einfachen Leute, denen die Taufe genügt, um mit Selbstbewusstsein und großer innerer Freiheit ihre Berufung zu leben. Die folgende Skizze will einen ersten Eindruck ihrer Persönlichkeit und ihres Lebensweges vermitteln. Weitere Ergänzungen und Präzisierungen erfolgen dann im Analyseteil der Arbeit.
Zeit der Jugend: Von der Erstkommunion zum Atheismus 401
Madeleine Delbrêl wird 1904 in dem kleinen südfranzösischen Ort Mussidan geboren. Von Anfang an prägen Ortswechsel und Gegensätze der verschiedensten Art ihre Jugend. Die Welt der Madeleine Delbrêl war vom ersten Lebenstag keine in sich geschlossene, erschütterungsfreie Welt, in der sie eine selbstverständliche Heimat finden konnte:
Ihre Eltern wechseln aufgrund der Berufstätigkeit des Vaters als Bahnangestellter fünfmal den Wohnort, bis sich die Familie schließlich 1916 in Paris niederlässt. Aufgrund des unsteten Lebens der Familie kann Madeleine Delbrêl zeitweise keine reguläre Schule besuchen und erhält zu Hause Privatunterricht. Die Hoffnungen der Eltern, sie könne eine Karriere als Pianistin einschlagen, erfüllen sich nicht.
Innerfamiliäre Spannungen belasten zusätzlich das Leben der jungen Madeleine. Die in Charakter und sozialer Herkunft sehr gegensätzlichen Eltern streiten viel. Ab 1939 leben Mutter und Vater schließlich getrennt und lassen sich bald darauf scheiden.402
Auch ihr Glaubensleben erhält die unterschiedlichsten Prägungen. Die Eltern, schicken sie – wohl eher aus Konvention – zum Katechismusunterricht beim Dorfpfarrer. Sie trifft auf Menschen in ihrem Umfeld, die sie mit dem katholischen Glauben vertraut machen. Schon anlässlich der Feier ihrer Erstkommunion zeigt sich ihre Leidenschaftlichkeit und Konsequenz, mit der sie alle ihre Lebensthemen betreiben wird: Da ihre Erstkommunionfeier aufgrund des Todes ihrer Großmutter auf das nächste Jahr verschoben werden soll, legt Madeleine Delbrêl vehement Widerspruch ein. Sie erwirkt, dass sie das Sakrament zwei Wochen später in einer eigens für sie abgehaltenen Zeremonie empfangen kann.
Doch alles andere als eine bruchlose Entwicklung zu einer frommen Katholikin steht ihr bevor. Wieder ein Gegensatz, der ihre Biographie prägen wird: Ihr Vater, der gerne Schriftsteller geworden wäre, nimmt nach dem Umzug der Familie nach Paris regelmäßig an einem literarischen Zirkel teil. In diesem dominiert eine agnostische bis atheistische Geisteshaltung. Madeleine Delbrêl, selbst schriftstellerisch begabt, darf in diesem Kreis bereits als 13-Jährige ihre Gedichte vortragen. Die atheistische Grundhaltung dieses Zirkels beeindruckt sie. Die Katastrophe des Ersten Weltkrieges trägt dazu bei, den Glauben einer so sensiblen und intelligenten jungen Frau wie Madeleine Delbrêl in seinen Grundfesten zu erschüttern. Ihr Bekenntnis zum Atheismus als 15-Jährige verwundert auf diesem Hintergrund nicht mehr. Im Rückblick formuliert sie:
„Auch habe ich – und das war ein Glücksfall – außerhalb der sozialen Absperrungen gelebt: meine Familie war aus allen Schichten zusammengesetzt, infolgedessen auch ich. Kraft dieser anarchischen Situation gewann seit meiner Ankunft in Paris, als ich dreizehn Jahre zählte, die ‚INTELLIGENZ‘den ersten Platz in meiner Stufenleiter der Werte.
Inmitten einer ungläubigen Familie, bei dauerndem Wohnungswechsel, weil mein Vater Bahnbeamter war, hatte ich außergewöhnliche Menschen gefunden, die mir zwischen sieben und zwölf Jahren den katholischen Glauben beibrachten. In Paris vermitteln mir andere außergewöhnliche Leute eine entgegengesetzte Bildung. Mit Fünfzehn war ich strikt atheistisch und fand die Welt täglich absurder.“403
Diese Erfahrung wird ihr späteres missionarisches Zeugnis in dem weitgehend atheistisch geprägten Arbeitermilieu in der Banlieu von Paris entscheidend prägen. Und unablässig wird sie in kirchlichen Kreisen an die existenzielle Dramatik erinnern, die ein Leben ohne Gott mit sich bringt. Ihr berühmter Text: „Gott ist tot … es lebe der Tod“ aus dem Jahre 1922 gibt ihr damaliges Lebensgefühl mit aller Schärfe wieder. Madeleine Delbrêl steigt hinab in die Abgründe von Sinnlosigkeit und Nihilismus. Sie erkennt die unerbittliche Allmacht des Todes in einer Welt, in der Gott nicht mehr existiert:
„Man hat gesagt: ‚Gott ist tot.‘
Weil das wahr ist, muss man auch ehrlich genug sein, nicht mehr so zu leben, als ob er lebte. Man hat die Frage für ihn geregelt: nun heißt es, sie auch für sich selbst zu regeln.
Wir wissen jetzt, woran wir sind. Wenn wir auch das Maß unseres zukünftigen Lebens nicht kennen, eines wissen wir: es wird klein sein, ein ganz kleines Leben. Für die einen wird Unglück den ganzen Raum ausfüllen. Für andere wird das Glück mehr oder weniger Platz einnehmen. Ein wirklich großes Unglück oder Glück wird es niemals sein können, weil beides in unserem ganz kleinen Leben Platz nehmen wird.
Das große, unbestreitbare, vernünftige Unglück ist der Tod. […]
Die Revolutionäre interessieren mich, aber sie haben die Frage schlecht verstanden: sie können zwar die Welt aufs b...